Was für ein Kontrast! Als in Moskau 2014 der Anschluss der Krim gefeiert wurde, wirkten die Amtsträger bei der Zeremonie im Kreml und die Statisten bei den anschließenden Feiern ausgelassen und fröhlich. Heute glich das Ambiente im Georgssaal des Kremls eher einer Beerdigung. Viele der Anwesenden – Russlands höchste Amtsträger aus allen Bereichen – hatten starre Mienen, schauten fassungslos. In den über 30 Jahren, in denen ich die versammelte russische Politik teilweise aus nächster Nähe verfolge, habe ich selten so gespenstische Szenen erlebt.
Nur einmal, ganz am Ende, als Putin „Russland“ skandiert, kommt für einen kurzen Moment so etwas wie Freude auf. Und auch das nur bei einigen der Amtspersonen. Einige bleiben weiter mit versteinerter Miene stehen. Nikolai Patruschew, Chef des mächtigen Sicherheitsrats und informell Nummer zwei im Staat, klatsche nach Putins Rede demonstrativ sehr verhalten, und hört dann auf zu klatschen, als die anderen noch weiter applaudieren. Die Regie blendet eilig weg. Als sie wieder drauf hält, klatscht Patruschew noch einmal kurz, demonstrativ unwillig und pflichtschuldig.
Nikolai Patruschew, (3vl neben der hellblauen Uniform) Chef des mächtigen Sicherheitsrats und informell Nummer Zwei im Staat, klatsche nach Putins Rede demonstrativ sehr verhalten und bricht vorzeitig ab. Die Regie blendet eilig weg. Zerfallserscheinungen? h/t @reitschuster pic.twitter.com/BqgttG65hx
— Steinhoefel (@Steinhoefel) October 1, 2022
So wenig solche Szenen in lebendigen Demokratien bemerkenswert wären – so aussagekräftig sind sie in einer Diktatur. Wo es im schlimmsten Fall das Ende einer Karriere bedeuten kann, wenn jemand zu früh aufhört mit dem Klatschen. Zwei der „Oberhäupter“ der Regionen, die Putin heute annektiert, wirkten mit den Nerven am Ende und völlig überfordert.
Mein Eindruck nach dem Ansehen des offiziellen russischen Regierungs-Videos von der Zeremonie: Das System ist dem Ende nahe, es gibt Zerfallserscheinungen. Zugespitzt formuliert, wirkten viele der Anwesenden wie Geiseln, die wider Willen an einer Veranstaltung teilnehmen müssen und gezwungen sind, mitzumachen und mit zu applaudieren. Ja, sie machten beinahe den Eindruck, traumatisiert zu sein.
Bemerkenswert auch, wer fehlte: Patriarch Kirill, der kürzlich verkündete, der Tod im Krieg würde von allen Sünden befreien, erkrankte „rechtzeitig“ an Corona. Nicht zu sehen war Generalstabschef Gerassimow, der oberste Militär: Entweder war er nicht dabei oder wurde versteckt vor den Kameras. Nur ganz hinten und so unauffällig platziert, dass es fast einer Degradierung gleichkam: Verteidigungsminister Sergej Schojgu.
Bemerkenswert und symbolträchtig auch der ebenso gigantische wie ungewöhnliche Abstand zwischen der Bühne im Georgssaal, auf der Putin auftrat, und der ersten Sitzreihe. Beim späteren Konzert auf dem roten Platz enthüllte eine kurze Einblendung, dass offenbar viele der Anwesenden schon vor Putins Rede gegangen sind. Als er zu einem dreimaligen „Hurra“ anstimmt, machen die Menschen nur verhalten mit.
Was in den Berichten im Westen kaum thematisiert wird: Putin widmete gefühlt fast die ganze Rede dem Westen – und nicht etwa, wie man das hätte erwarten können, der Ukraine. Hätte jemand die Rede angehört, ohne die Vorgeschichte zu kennen, würde er wohl glauben, Putin sei im Krieg mit dem Westen und nicht mit dem Nachbarland.
Die Spannung, das Knirschen im Gebälk in den Machtstrukturen im Kreml war heute förmlich mit den Händen zu spüren. So mein subjektiver Eindruck nach dreißig Jahren, die ich mich intensiv mit Russland befasse. Und als jemand, der viele von denen, die heute zu sehen waren, auch persönlich kennt. Und glaubt, sie wenigstens ein bisschen einschätzen zu können.
Wie immer erhebe ich keinen Anspruch darauf, im Besitz einer wie auch immer gearteten Wahrheit zu sein, und will auch niemanden missionieren. Ich akzeptiere gerne jede andere Meinung, wie es sich gehört für Demokraten. Aber mir lief es heute eiskalt den Rücken herunter. Hier können Sie sich die Szenen auf der Homepage des Kremls im Original ansehen – und sich selbst ein Bild machen.
Bild: Shutterstock / SPD/Berlin