Die schwedische Gesundheitsbehörde sieht einen Trend, wonach die Zahl der Menschen, die an Covid-19 sterben, zurückgeht. In dem Land, das auf drastische Verbote fast vollständig verzichtet, gab es am Freitag 67 neue Todesfälle – weniger als in den Tagen zuvor, wie der Bayerische Rundfunk mitteilt. In Schweden sind bis Freitag 1.400 Menschen an der Virusinfektion gestorben, viel mehr als in den anderen nordischen Ländern (Finnland und Norwegen mit jeweils halb so großer Bevölkerung haben 82 bzw. 162 Todesfälle). Im Vergleich mit manchen anderen Ländern dagegen steht Schweden gut da – die Zahl der Toten im Verhältnis zur Bevölkerung ist etwa in Belgien dreimal höher. Sie liegt in Schweden etwa gleich auf mit der Zahl in der Schweiz, im Vergleich zu Bayern ist sie um fünfzig Prozent höher. Und das, obwohl Schweden auf Eingriffe in die Bürgerrechte fast verzichtet. Laut Staatsepidemiologen Anders Tegnell sind vor allem ältere Menschen in Altersheimen erkrankt und gestorben.Die Regierung in Stockholm schreibt ihrer Bevölkerung nicht vor, wie sie sich zu verhalten hat. Zwar fordert sie die Menschen zu ähnlichen Verhaltensweisen auf, wie in den meisten anderen Ländern: Abstand halten, nach Möglichkeit zu Hause bleiben und die Hände waschen. Allerdings gibt es in Schweden kein Verbot für Versammlungen mit bis zu 50 Menschen, Restaurants und Café mussten nicht schließen, nur die Gäste müssen Abstand halten, auch die Schulen sind weiter geöffnet.
Das Luxemburger Tagblatt schreibt: „Schweden – lockere Corona-Strategie scheint zu funktionieren.“ Entgegen aller Kritik und Häme über „Schwedens vermeintlich viel zu lockeren Weg in der Corona-Krise mehren sich nun die Zeichen, dass die Pandemie im Griff ist, obwohl fast alles erlaubt blieb.“ Und weiter: „Stockholm ist derzeit die freiste Stadt Europas. Auch wenn das Land nicht weniger Probleme mit Covid-19 hat, blieb bislang fast alles geöffnet: Geschäfte aller Art und Einkaufszentren, Cafés, Bars, Fitnessstudios, kleinere Clubs, Büros, Kindergärten, Schulen bis zur einschließlich 9. Klasse und sogar einige Kinos.““Die hämischen Unkenrufe aus dem Ausland, wo ganze Nationen eingesperrt wurden, aber auch von Kritikern im Inland waren laut und zahlreich. Schweden würde ein gefährliches Experiment durchführen auf Kosten der Alten und Kranken, für die Covid-19 tödlich sein kann. Entgegen aller Kritik scheint sich die Lage derzeit deutlich zu beruhigen“, schreibt die deutschsprachige Zeitung aus dem Nachbarland.
In der Welt fordert Stefan Homburg, Professor und Direktor des Instituts für Öffentliche Finanzen an der Universität Hannover, Lehren aus dem Beispiel Schweden zu ziehen: „Warum Deutschlands Lockdown falsch ist – und Schweden vieles besser macht“, so die Überschrift seines Kommentars, der leider hinter einer Bezahlschranke versperrt und damit nur einem kleinen Publikum zugänglich ist. Dort stellt der Wissenschaftler die Frage: „In Europa konnten an Ostern nur die Schweden zur Messe oder zu einer größeren Trauerfeier gehen. Dort sind die Nachtclubs voll, die Geschäfte geöffnet, und die Kinder gehen zur Schule. Obwohl es keinen Lockdown gibt, ist die Zahl der registrierten neuen Corona-Infektionen auch in Schweden rückläufig. Wie ist das zu erklären?“
Homburgs Antwort: Der Rückgang von Neuinfektionen und Sterbefällen in Deutschland habe anders als in den meisten Medien dargestellt nichts mit dem Lockdown zu tun – weil es noch viel zu früh sei, dass dessen Konsequenzen sich in der Statistik niederschlagen. Zu erklären sei die positive Entwicklung „mit dem natürlichen Verlauf jeder Epidemie und natürlich den ergriffenen konventionellen Abwehrmaßnahmen wie Hygiene, Testung und Quarantäne.“ Weiter führt der Professor aus: „Schwedens Zahlen unterstreichen die Richtigkeit dieser These. Auch dort nahm die Zahl der täglichen Todesfälle erst zu, dann sank sie. Trotz des Verzichts auf einen Lockdown: von ,exponentiellem´ Wachstum bei den Todesfällen keine Spur.“
Das skandinavische Land zeige zwar eine höhere „Fallsterblichkeit“ als die Bundesrepublik, jedoch seien seine Krankenhäuser überhaupt nicht überlastet, und eben dies war ja hierzulande das wichtigste Argument für den Lockdown. „Zudem werden in Schweden am Anfang der nächsten Virensaison mehr Menschen immun sein als in Deutschland. Insgesamt erscheint die schwedische Politik sehr rational und unaufgeregt“, schreibt Homburg: „In Deutschland stritt man das Problem zunächst ab, behauptete dann, Deutschland sei gut gerüstet und veranlasste den Export von Gesichtsmasken nach China.“
Mitte März aber, als Länder wie China und Südkorea die Pandemie schon eingedämmt und die Sterblichkeit auf unter 0,001 Prozent der Einwohner gesenkt hatten, veröffentlichte das Robert Koch Institut (RKI) Szenarien, die von mehr als 300.000 Todesfällen in Deutschland ausgingen. Kurz darauf, offenbar auch in Reaktion auf diese Vorhersagen, entschied sich die Bundesregierung zum Lockdown. Bisher beträgt die Zahl der Todesfälle in der Bundesrepublik ein Hundertstel der Vorhersage des RKI. Homburg geht davon aus, dass sie kaum noch steigen werde – der einzige Punkt, in dem ich Zweifel an seiner Analyse habe. Aber ob tatsächlich die dramatische Vorhersage des RKI eintritt, ist wohl in der Tat sehr zu bezweifeln – Gott sei Dank. Homburg schreibt: „Der gigantische Vorhersagefehler des RKI hat, um den zentralen Punkt zu wiederholen, nicht das geringste mit dem Lockdown zu tun, weil dessen Wirkungen erst Mitte April in den Sterberaten sichtbar werden können.“
Tatsächlich stellt sich eine Vielzahl von Fragen: Zunächst wurde der Lockdown damit begründet, eine Überlastung der Krankenhäuser in der Bundesrepublik müsse vermieden werden. In ihrem Podcast am 28. März versprach die Bundeskanzlerin, die dramatischen Einschränkungen der Freiheit könnten wieder aufgehoben werden, wenn die Zeit, in der sich die Infektionszahlen verdoppeln, Richtung zehn Tage wachse. Heute beträgt sie 30 Tage, der Wert ist also dreimal höher als der, bei dem Merkel ursprünglich den Lockout lockern wollte.
Die Merkwürdigkeiten gehen weiter: Die Regierung wechselte plötzlich das Bewertungskritikerium. Auf einmal wurde die Ansteckungsrate („Reproduktionszahl“) maßgebend – die aber im Gegensatz zu der objektiv messbaren Verdopplungszeit nicht überprüfbar ist, weil sie auf unbekannten Faktoren beruht. Schon Anfang April vermeldete das RKI einen beachtlichen Erfolg: Eine Reproduktionszahl von eins – also dass eine Personen nur eine andere anstecke und nicht mehr, sei erreicht. Und Ziel sei es, diese jetzt weiter zu drücken.
Bei ihrer Pressekonferenz am Mittwoch vermeldete Merkel dann plötzlich wieder eine offizielle „Reproduktionszahl“ in genau der gleichen Höhe 1,0 – dass also ein Mensch wieder im Schnitt einen weiteren ansteckt. Keinerlei Verringerung gegenüber der RKI-Meldung vom Monatsbeginn? Nein, es wurde einfach wieder die Berechnungsgrundlage geändert. Ziel sei es, diese Zahl bei null oder darunter zu halten, erklärte Merkel, genauso wie das RKI Anfang April, wo dieses Ziel – vor der Änderung der Berechnungsgrundlage – schon erreicht schien. Kaum war die Verlängerung der Maßnahmen am Mittwoch beschlossen, sprang die Statistik wieder nach unten: Die Ansteckungsrate lag plötzlich nur noch bei erfreulichen 0,7 – merkwürdig, wie sich die Statistik an die politischen Maßnahmen anpasst, denn bei der Zahl von 0,7 wäre die Begründung für die Verlängerung des Lockdowns schwieriger gewesen. Wenn man zynisch wäre, könnte man fragen, ob nun wohl bald wieder die Berechnungsgrundlage geändert wird.
Professor Homburg warnt, dass mit dem Ausrottungsziel auch die Zahl derjenigen sinke, die trotz Infektion gesund bleiben und anschließend immun seien. Seine provokative Frage: „Will man zum Start der nächsten Virensaison einen neuen Lockdown? Jedes Jahr?“
Zudem fordert der Wissenschaftler, dass die Sterbefälle, bei denen Corona diagnostiziert wird, gegen andere Sterbefälle aufgerechnet werden, die erst durch den Lockdown entstehen – etwa wegen verschobener anderer Operationen, Suiziden, Einschränkungen im Gesundheitswesen aufgrund eines bevorstehenden wirtschaftlichen Niedergangs, etc.
Das Fazit des Professors: „Länder wie Schweden, Südkorea oder Taiwan haben mit ihrem Verzicht auf Lockdowns klug gehandelt. Die dortigen Virologen führten Bevölkerung und Politik mit ruhiger Hand durch die Krise, statt sie durch ständige Kurswechsel zu verunsichern. Das Coronavirus wurde ohne Schaden für Grundrechte und Arbeitsplätze erfolgreich eingedämmt.“
Ich halte die Argumentation des Professors für zumindest beachtenswert. So unsinnig es wäre, die gewaltigen Gefahren durch das Virus zu verneinen und/oder hinter den ganzen Maßnahmen eine große Verschwörung zu sehen: Die Situation gleicht einem Blindflug durch das Hochgebirge. Insofern beneide ich diejenigen, die jetzt Verantwortung tragen, kein bisschen. Ich kann auch nachvollziehen, dass sie im Zweifelsfall lieber für Sicherheit und gegen die Bürgerrechte entscheiden.
Aber umso mehr gilt: Wo massive Einschnitte in die Grundrechte und Freiheiten stattfinden – aktuell sogar solche, die es seit Jahrhunderten nicht mehr gab, wie das Verbot von Gottesdiensten – ist es zwingend, diese ständig und kritisch zu hinterfragen. Alles andere käme einem Verrat an unseren Werten gleich. Vor diesem Hintergrund ist es erschreckend, dass man oft geradezu den Eindruck bekommt – auch in vielen Medien – es bestehe regelrecht eine Sehnsucht nach Beschneidung der Freiheiten – und der Wunsch, kritische Fragen diesbezüglich zu diffamieren und so zu unterbinden. Thesen wie die von Professor Homburg dürfen nicht hinter einer Bezahlschranke versteckt und so nur einem kleinen Leserkreis zugänglich gemacht werden. Sie müssten breit auch in den öffentlich-rechtlichen Medien erläutert und diskutiert werden – das wäre das mindeste, was man für seine TV-Gebühren erwarten kann.
Bild: Inductiveload via WIKICOMMONS, Screenshot MDR Thüringen, pixabay