Als Journalist gerät man heute in Situationen, die eigentlich unlösbar sind. In der zweiten Augusthälfte bekam ich aus anonymer Quelle ein Papier zugespielt mit dem Titel „COVID-19 – Aktuelle Lagebeurteilung und Handlungsempfehlungen“. Angeblich handelt es sich dabei um ein Beratungspapier für die Bundesregierung. Der Inhalt: Covid-19 habe sich als viel harmloser herausgestellt als angenommen. Aber wenn man das zugebe, wäre das politisch zu gefährlich. Man müsse nun eine Variante für einen „Ausstieg“ finden, der es ermöglicht, das Gesicht zu wahren. Diverse Aspekte dürften nicht öffentlich kommuniziert werden, etwa wegen möglicher Rassismusvorwürfe, heißt es in dem Papier.
Der Absender des Papiers berief sich auf sein Gewissen, zog es aber vor, anonym zu bleiben. Anonymen Quellen gegenüber bin ich als Journalist äußerst skeptisch. Weil der Inhalt des Papiers ungeheuer brisant ist, ließ ich es von Leuten prüfen, die sich bestens mit der Materie auskennen und über großes Insider-Wissen verfügen. Ihr Urteil war diametral entgegengesetzt. Zwei hielten das Papier für authentisch, einer schätzte es als Vorlage von externen Beratern für das Innenministerium ein. Ein anderer dagegen sagte, er halte es eindeutig für eine Fälschung. Weil die Aufschrift „VS – nur für den Dienstgebrauch nicht passe“. Und weil zu viele sprachliche Fehler enthalten seien. Die anderen entgegneten, heutzutage seien solche Fehler keine Ausnahme mehr. Und die Aufschrift sei kein Indiz, weil Das Papier offenbar noch ein Entwurf sei. Einer der Gutachter glaubte sowohl sprachliche als auch inhaltliche und formale Ähnlichkeiten mit dem Strategiepapier aus dem Bundesinnenministeriums zu erkennen, das den Umgang der Bundesregierung mit der Corona-Pandemie vorzeichnen sollte (Sie finden es hier).
Ich entschloss mich, das Papier für mich zu behalten. Erst als die Entscheidungen der Bundesregierung dem Szenario ähnelten, das in dem Papier empfohlen wurde, haderte ich wieder mit meiner Entscheidung. Das Papier muss jemand entworfen haben, der sich mit der Materie auskennt und über Ressourcen verfügt. Ohne den Beweis des Gegenteils muss ich als sorgfältiger und verantwortungsvoller Journalist davon ausgehen, dass es sich um eine Fälschung handelt, also Desinformation. Aber auch in diesem Fall ist das Papier von öffentlichen Interesse: Wer hat die Ressourcen, um ein so echt wirkendes Dokument mit so viel Sachkenntnis zu erstellen? Das kann eigentlich nur eine Organisation sein. Und/oder ausländische Akteure. Was dann sofort die Frage aufwirft: Welches Interesse könnten die haben? Das Naheliegendste wäre, das Vertrauen in unsere Bundesregierung zu zerstören. Das ist allerdings auch ohne ausländisches Einwirken schon sehr gering.
Nachdem ich lange in mich ging, kam ich zu folgendem Schluss: In der heutigen Situation muss ich das Papier veröffentlichen. Und sei es nur, um zu belegen, wie aktiv Desinformation betrieben wird. Ich kann nicht Zensor sein und für meine Leser entscheiden, was sie lesen dürfen und was nicht. Zudem kann die Veröffentlichung helfen, herauszubekommen, was es mit dem Papier auf sich hat.
Der Sicherheit halber nochmal: Ich bringe es ausdrücklich mit dem Hinweis, dass ich bis zum Beweis des Gegenteils davon ausgehen muss, dass es eine Fälschung ist. Aber auch eine solche ist ein Dokument der Zeitgeschichte, damit relevant und deshalb eines Berichtes und einer Veröffentlichung wert. Auch der Stern hätte seine Hitler-Tagebücher guten Gewissens bringen können, mit entsprechendem Hinweis: Wir haben aus nicht überprüfbarer Quelle angebliche Hitler-Tagebücher bekommen, halten sie für eine Fälschung, und wollen der Frage auf den Grund gehen, wer warum so etwas fälscht.
Ich wehre mich immer gegen „betreuenden“ Journalismus. Ich habe großes Vertrauen in Ihre Klugheit und Urteilsfähigkeit, meine lieben Leserinnen und Leser. Und ich will nicht den Erzieher für Sie spielen und Ihnen dieses Dokument vorenthalten. Ich bin überzeugt: Sie sind durchaus in der Lage, sich ein eigenes Bild zu machen. Mehr noch: Ich bin sicher, dass Ihre Schwarmintelligenz vielleicht einige interessante Aspekte und Gedanken hervorbringt.
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Bild: Pikist/Pixabay
Text: br