Es ist unglaublich, wie unverhohlen Berlins Politiker mit zweierlei Maß messen, wenn es um Grundrechte und Corona geht. Im Juni sorgte die Black-Lives-Matter-Demonstration am Berliner Alexanderplatz bundesweit für Schlagzeilen. Viele Politiker überschlugen sich vor Lob. Obwohl die 15.000 Anwesenden die Hygiene-Vorschriften fast gänzlich ignorierten. In der Tagesschau etwa wurde das verschwiegen – und es war nur Gutes zu hören über die Kundgebung.
Die wenigen kritischen Stimmen wies Innensenator Andreas Geisel damals zurück. Auf der offiziellen Internetseite der Stadt Berlin steht: „Geisel (SPD) hat die Entscheidung verteidigt, die Teilnehmerzahl bei Demonstrationen unter freiem Himmel in der Hauptstadt nicht mehr zu begrenzen“. „Ich halte das nach wie vor für richtig“, teilte Geisel am Sonntag (07. Juni 2020). „Die Grundrechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit sind elementar.“
Zweieinhalb Monate später ist Geisel nicht wieder zu erkennen. Nach dem Verbot der Querdenken-711-Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen durch seine Behörde äußerte er sich völlig entgegengesetzt. Die Berliner Morgenpost berichtet wie folgt: „Geisel begrüßt Demo-Verbot: Entscheidung ‘für das Leben‘. Innensenator Geisel begrüßte die Entscheidung der Versammlungbehörde. ‘Das ist keine Entscheidung gegen die Versammlungsfreiheit, sondern eine Entscheidung für den Infektionsschutz. Wir sind noch mitten in der Pandemie mit steigenden Infektionszahlen. Das kann man nicht leugnen. Wir müssen deshalb zwischen dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit und dem der Unversehrtheit des Lebens abwägen. Wir haben uns für das Leben entschieden‘, sagte der SPD-Politiker.“
Wendigkeit bewies der 2016 unter Bestechungsverdacht stehende Innensenator bereits, als er 1989 noch schnell aus der SED austrat und sich dann der SPD anschloss. Gelernt ist gelernt.
Ebenso wendig ist etwa die Bild. Die wechselte ihre Überschrift im Handumdrehen:
Kalte Füße bekommen? Oder einen Anruf aus dem Kanzleramt? Oder beides?
Die Doppelmoral kommt auch darin zum Ausdruck, dass zwar alle Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen verboten wurden, alle Gegen-Demonstrationen dagegen weiter erlaubt sind.
Auf meine Anfrage, welche konkreten Gegendemonstrationen erlaubt sind, verwies die Innenbehörde an die Polizei, die wiederum nicht schriftlich antwortete und um Anruf bat. Mündliche Aussagen sind aber nicht belegbar.
Ein Zeltcamp vor dem Bundeskanzleramt wurde ebenfalls verboten mit Hinweis auf die Gefährdung für die Grünflächen. Als vor einem Jahr „Klimaschützer“ dort campten, gab es diese Bedenken nicht.
In Weißrussland begrüßt die Bundesregierung die Proteste von Hunderttausenden auf der Straße. In Deutschland sind sie lebensgefährlich. Ändert die Landesgrenze die Gefährlichkeit des Virus?
Die Berliner Innenbehörde begründete das Verbot der Demo damit, die Veranstalter protestierten aufgrund einer „Fehleinschätzung“. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Nach dieser Logik wären Demonstrationen gegen die Regierung nur erlaubt, wenn die Unzufriedenheit nach Einschätzung eben dieser Regierung berechtigt wäre – also die Regierung selbst ihre Politik für schlecht halten würde. Das ist einfach nur bizarr. Ebenso wie Geisels Aussage, er wolle „Corona-Leugnern keine Tribüne“ bieten.
Gleichzeitig steht in der Begründung, am 1. August seien laut Polizei 30.000 Teilnehmer bei der Anti-Corona-Maßnahmen-Demo gewesen. Bisher behaupteten die Behörden und viele Medien wie etwa der ARD-Faktenfinder, es seien nur 20.000 gewesen.
Am 7. Juli schrieb der Deutschlandfunk: „Massenveranstaltungen wie die bundesweiten Demos gegen Rassismus haben offenbar kaum Auswirkungen auf das Infektionsgeschehen“. Der entsprechende Artikel ist verschwunden. Nur google meldet ihn noch. Eine technische Panne? Oder Eigenzensur.
Dafür steht jetzt ein neuer Artikel beim Deutschlandfunk mit der Überschrift: „Superspreader-Events“ – Wann können Demos, Feiern und Veranstaltungen zum Problem werden?“ Darin wird nun unter anderem geschickt der Eindruck erweckt (ohne die explizite Behauptung zu erheben), es gebe keine Erkenntnisse, wie sich die Fallzahlen nach den Protest- und Partyaktionen in Berlin Anfang Juni entwickelt hätten. Das ist Irreführung der Leser. In einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage des Abgeordneten Marcel Luthe (FDP) hatte der Senat bestätigen müssen, dass es keine spürbare Erhöhung der Infektionszahlen gegeben hat. Hier wird die Grenze zwischen Journalismus und Desinformation klar überschritten.
Mein Fazit: Ich bin kein Mediziner und würde mir nie ein Urteil zur Gefährlichkeit von Corona anmaßen. Aber ich sehe all die Widersprüche, auch bei den RKI-Daten, das Manipulieren mit Zahlen und Begriffen, die Gleichtaktung der Medien. Bei echten Journalisten müssen da die Alarmglocken klingen.
PS: Ein Leser machte mich darauf aufmerksam, dass laut Robert-Koch-Institut aktuell bei 16.276 Menschen der Verdacht einer Corona-Infektion besteht (laut Test). Das sind 0,02 % der Gesamtbevölkerung. Wenn auf der Demo in Berlin wieder 20.000 Demonstranten wären, könnten statistisch 0,02 % an Corona infiziert sein. Das entspräche 3,4 Personen, also drei. Als ich das twitterte, fragte mich ein Twitter-Nutzer erbost, was ich damit impliziere. Gar nichts. Ich mache nur auf Zahlen aufmerksam und will damit zum Nachdenken anregen. Auch mich selbst. Es gibt viele Fragen, auf die ich keine Antwort habe.
PS: Sehen Sie hier mein reitschuster.live zum Demo-Verbot und zu meiner Sperrung auf Youtube – von meinem Zweitkanal:
Bild: Nicola/Wikicommons/CC-by-sa 4.0 / Fornax/Wikicommons/gemeinfrei / bearbeitet/ReitschusterText: red