Deutschland 2020 – mein (Alb-)Traum

Mehr als 60 Jahre war er im Eis eingefroren, dann wachte er in einer völlig anderen Welt auf: In dem Film „Der Winterschläfer“ mit Louis de Funès findet sich der Großvater nach einem Unfall in der Antarktis 1905 im Frankreich der 1970er Jahre wieder. Die Wissenschaftler fürchten, dass er den Schock nicht überlebt. Deshalb errichten sie für ihn die perfekte Kulisse: Die Bewohner eines ganzen Stadtviertels müssen historische Kostüme anziehen, mit Kutschen fahren und nachgedruckte alte Zeitungen lesen.

Ich fühle mich ein bisschen wie der aufgetaute Großvater. Nur dass niemand für mich eine Kulisse aufgebaut hat: Ich war zwar nur 16 Jahre im Ausland – aber unsere Zeit ist so schnelllebig geworden, dass ich den Eindruck habe, ich hätte Jahrzehnte verpasst.

Als ich aus Deutschland wegzog, sprachen sich Erwachsene noch mit „Sie“ an. Worte wie „Kulturschaffende“ und „Hetze“ für Kritik an der Regierung kannte man nur aus dem Geschichtsunterricht. Hätte mir damals jemand gesagt, dass ehemalige Stasi-IM, kommunistische Altkader und Funktionäre der umbenannten SED Führungspositionen in Politik und Gesellschaft haben würden – ich hätte ihn für verrückt erklärt.

Als ich aus Deutschland wegzog, war die Union noch für ein traditionelles Familienbild, für die Wehrpflicht, für Atomkraft, gegen zu viel Zuwanderung und Doppelpass. Multikulti galt als gescheitert. Und ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand, der kein Extremist ist, Angst haben könnte, offen seine Meinung zu sagen.

In meinen 16 Jahren als Korrespondent und Büroleiter in Moskau habe ich bei jeder Gelegenheit Demokratie, Medien und Freiheit in Deutschland in höchsten Tönen gelobt. Selbst die EU und ihre Funktionäre in Brüssel habe ich verteidigt.

Und jetzt dieser Schock! Ich bin zurück, und traue meinen Augen nicht: Was ist passiert mit Deutschland? Ich bin in ein fremdes Land zurückgekehrt. Und wie ein Migrant stehe ich regelmäßig vor Rätseln.

Ständig muss ich an den alten jüdischen Witz meines Freundes Schurik aus Georgien denken: „Früher habe ich auf die Frage, wie es mir geht, geantwortet: Scheiße! Jetzt hat sich herausgestellt – das war das reinste Marzipan damals!“

Auch im alten Deutschland hat mir vieles nicht gefallen. Manches schien mir früher etwas steril. Heute gleichen in Berlin Gehwege und Grünanlagen oft kleinen Müllhalden. Früher schwärmte ich den Russen vor, wie wohl und sicher ich mich in Deutschland fühle. Wenn ich heute nach Moskau komme, ist es in manchem umgekehrt.

Es vergeht kaum ein Tag seit meiner Rückkehr, an dem nicht irgendeine kleine Welt in mir zusammen bricht. Zuerst dachte ich, es liegt nur an Berlin – die DDR ist hier nur scheintot, sie lebt im Service, im Staatsapparat und in der Politik munter weiter. Aber die Probleme sind tiefer.

Sicher spüren auch die Hiergebliebenen die Veränderungen. Aber ihnen hilft der Gewöhnungseffekt: Für sie änderte sich alles stückchenweise, sie hatten Zeit, es zu verdauen. Der „Auftau-Schock“ bleibt ihnen erspart – im Gegensatz zu Louis des Funès „Winterschläfer“ und mir.

Aber vielleicht kann mein Schock für andere hilfreich sein. Vielleicht können meine Eindrücke manchen Irrsinn entlarven, der den Hiergebliebenen inzwischen normal oder gar vertraut vorkommt – obwohl er in Wirklichkeit noch gar nicht so lange in ihr Leben getreten ist. Es ist wie mit den Fröschen, die angeblich nicht merken, wenn sie gekocht werden, so lange die Temperatur sehr, sehr langsam erhöht wird.

Meine Diagnose als Rückkehrer ist bitter, aber eindeutig: Die alte Bundesrepublik, aus der ich weggezogen bin, gibt es nicht mehr. Zumindest Berlin ist eine bizarre Mischung aus dem alten West und dem alten Ost. Allenthalben habe ich Moskau- und Sozialismus-Déjà-vus.

Nein, wir leben nicht in einer DDR 2.0. Aber der Geist des „Sowok“, wie man in Russland die sozialistische Denkweise und Mentalität verächtlich nennt, ist in diesem neuen Deutschland spürbar. Er ist tief in die Politik, in die Gesellschaft und in die Medien vorgedrungen – in manche Bereichen tiefer, in manche weniger. Aber er ist da:

In 16 Jahren in Moskau habe ich ein feines Gespür für den „Sowok“ entwickelt, also für sozialistische Denkweise.

Es ist mir klar: Die Bundesrepublik, aus der ich weggezogen bin, wird es nicht wieder geben (und mit der habe ich auch oft genug gehadert, und sie war mir in vielem zu konservativ – was für eine Ironie des Schicksals).

Aber ich träume, dass wir das Gespenst des „Sowok“, des Sozialismus, dahin zurücktreiben, wo es hin gehört: In die Giftküche der Geschichte.

Ich träume, dass die Mitte der Gesellschaft, die unzähligen Menschen, die ich bei jedem meiner Vorträge treffe, und die das Herz am rechten Fleck haben, wieder die Oberhoheit über den Diskurs im Lande gewinnen, und das Meinungsdiktat der linken Ideologen und Glaubenskrieger brechen können.

Ich träume davon, dass die Menschen wieder offen über ihre Ängste und Sorgen sprechen können, Missstände und Probleme benennen, ohne dafür diffamiert zu werden und Angst um ihre Existenz zu haben.

Ich träume davon, dass die Menschen nicht mehr aus Machtpoker gegeneinander aufgehetzt und der politische Gegner entmenschlicht wird.

Ich träume davon, dass sachliche Diskussionen möglich sind zu den Themen, die so viele Menschen bewegen: Sicherheit, Zuwanderung, Islam, Europolitik, das Verhältnis zwischen den Geschlechtern, Umwelt und Klima.

Ich träume von einer Währungspolitik, die nicht auf Gelddrucken setzt, in der sich die Menschen ihres Ersparten sicher sein können und nicht still enteignet werden.

Ich träume von öffentlich-rechtlichen Medien, in denen ganz unterschiedliche Sichtweisen und Standpunkte einen gleichberechtigten Platz haben, auch konservative und liberale.

Ich bin zu alt, um an Wunder zu glauben. Doch die Geschichte zeigt: Politische Systeme, die sich von der Realität abkoppeln, gehen unter. Vor diesem Untergang, der fatale Folgen hätte, ist unsere Demokratie nur zu retten, wenn nicht weiter Wunschdenken und Verdrängung vorherrschen, sondern eine Rückkehr auf den Boden der leider oft sehr beunruhigenden Realitäten erfolgt.

Das wird dem politischen Personal, dass sich heute an die Kommandobrücke klammert, nicht zu machen sein. Aber tüchtige, kluge und fähige Menschen haben wir in unserem Land im Überfluss. Nur sind sie mehr mit dem praktischen Leben und ihrer Arbeit beschäftigt, und in unserer aktuellen Politiklandschaft, die von Parteifunktionären bestimmt wird, unterrepräsentiert. Und sie sind oft von der Politik verdrossen. Frustriert. Hoffnungslos. Die Geschichte lehrt uns, dass eine derartige Apathie den Weg in die Katastrophe beschleunigt.

Aber die Geschichte lehrt uns auch etwas anderes: Dass gerade in Krisensituation oft ungewöhnliche Selbstheilungs- und Erneuerungskräfte aufkommen. Und so sei an ein altes russisches Sprichwort erinnert, das ich in Moskau verinnerlicht habe: „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“

Deshalb lasse ich mir meinen Traum nicht nehmen: Dass die Politik in diesem Land auf den Pfad der Vernunft zurückkehrt, und nicht mehr die Lautsprecher und Ideologen hoch oben in den Elfenbein- oder Fernsehtürmen den Ton angeben, sondern diejenigen, die für sie den Laden jeden Tag am Laufen halten.

Und weil träumen allein nicht hilft, habe ich auch einen Vorsatz für das neue Jahr: Den Mund aufzumachen, mich nicht einzuschüchtern zu lassen. Zu sagen, was ist. Und mich, zumindest so gut es geht. an den Grundsatz zu halten, den mir die russischen Dissidenten beigebracht haben: „Man muss tun, was man tun muss, egal, was kommt!“

In diesem Sinne – Ihnen allen ein frohes, freies und un-ideologisches neues Jahr!


Mein aktuelles Wochenbriefing:

Guten Abend aus Berlin!

Die Bilder aus Köln konnte ich kaum fassen: Die Gewerkschaft „Verdi“ und die vom Verfassungsschutz beobachtete Antifa, berüchtigt für ihre Schlägertrupps, waren da Seit an Seit zur „Verteidigung“ des WDR gegen „Rechte“ aufmarschiert – und Verdi prahlte auch noch stolz auf seiner twitter-Seite mit dieser Allianz. Wächst da zusammen, was zusammen gehört? Damit könnte ich ja leben – aber dafür auch noch Gebühren bezahlen?

Besonders bezeichnend fand ich, dass Kritiker des WDR, der mit seinem „Umweltsau“-Lied massiven Unmut auf sich gezogen hat, sofort pauschal als „Rechte“ diffamiert wurden. Leider ist das ein Verhaltensmuster: Nicht nur Kritik am WDR ist rechts, auch Kritik an Angela Merkel (es sei denn, sie kommt von links), Zweifel an der Klimapolitik sind rechts, Zweifel an der Asylpolitik, nicht-linke Kritik an den Zuständen im Lande – alles, was gegen den linken Zeitgeist ist, wird schnell als „rechts“ diffamiert – und gemeint ist damit „rechtsextrem“, denn so wird das Wort „rechts“ heute verwendet – während niemand auf die Idee käme, „links“ als etwas negatives zu sehen. Diese Denke geht auch auf die DDR  und die Sowjetunion zurück – wer da nicht mitmarschierte, war Faschist. Auch der Arbeiteraufstand gegen die DDR-Diktatur am 17. Juni 1953 war im Propaganda-Sprech ein „faschistischer Umsturzversuch“, und der Prager-Frühling und der Ungarn-Aufstand natürliich auch. Schrecklich, dass Ausläuer dieser Denkschule heute wieder in Deutschland wieder allgegenwärtig sind.
Eines der wichtigsten Ereignisse der Woche war der tödlichen Schlag der Vereinigten Staaten gegen den iranischen General Soleimani. Man kann von dieser Entscheidung von Donald Trump halten was man will. Es gibt genügend Gründe, sie zu kritisieren. Aber die Reaktion in Deutschland ist in meinen Augen sehr infantil. Und wieder sieht man dieses Grundmuster bei vielen Politiker hierzulande, bei Gewaltverbrechern oft eher Mitleid mit dem Täter zu haben als mit den Opfern. Ich habe dazu heute ein Video mit einer Analyse aufgenommen, das ich Ihnen sehr ans Herz lege:
Einer der Höhepunkte auf meiner Seite ist für mich das Interview mit dem früheren russischen Vize–Regierungschef Alfred Koch. Ich kenne ihn seit nunmehr fünf Jahren sehr gut, wir sind im regelmäßigen Austausch, und er ist oft zu Gast in meiner Sendung im russischen Exil–Fernsehen. Seine politischen Ansichten über Deutschland, wo er als Russlanddeutscher seit zehn Jahren lebt und auch die Staatsbürgerschaft angenommen hat, sind immer ausgesprochen erfrischend. Ich teile sie nicht in allem, aber ich finde den Blick von der Seite sehr, sehr wichtig. Wer die Perspektive wechselt, sieht mehr. Und so freue ich mich über den exklusiven Beitrag, in dem Koch mit dem ihm eigenen Scharfsinn die deutsche Klimapolitik regelrecht zerlegt. Egal, wie man zu ihr steht: man kann Kochs Kritik nicht einfach so beiseite schieben. Am besten gefällt mir sein Satz, die Deutschen sollten erst mal wieder lernen, einen Flughafen zu bauen, bevor sie die Welt und das Klima retten wollen. Hier finden Sie den Artikel: www.reitschuster.de/klimaleugner.
Mitgenommen hat mich diese Woche der Brandanschlag auf das Auto meines Kollegen Gunnar Schupelius, den ich auch persönlich kenne. Dahinter stecken offenbar Linksextremisten, die ihm seine konservativen Ansichten übel nehmen – unter anderem ist er ihnen „zu christlich“. Schupelius wurde bereits zum zweiten Mal Opfer einer solchen Aggression. Was mich nicht nur persönlich sehr traurig macht. Sondern auch als Bürger: Größte Errungenschaft der Demokratie ist, dass jeder seine Meinung sagen kann, ohne deswegen Angst haben zu müssen. In Deutschland gilt das nicht mehr, wie der Brandanschlag auf das Auto des Kollegen zeigt. So wird Angst geschürt. Die nagt. Auch an mir. Ausführlicher habe ich dazu auch auf meiner Seite geschrieben (www.reitschuster.de/post/es-z%C3%BCndeln-viele-mit)
Und zum Abschluss noch etwas in eigener Sache: In nur 28 Tagen hat es meine neue Website auf  938.000 Seitenaufrufe gebracht, bald wird also die Million erreicht, und die Zahl der Besucher liegt bei fast 300.000. Das ist umwerfend. Aus der Not bzw. den juristischen Schritten von ARD-Chef-Faktenfinder Gensing heraus geboren, ist ein echtes neues Medium entstanden.

Der Preis war ein absolutes Schlafdefizit, da ich vom Design über die Technik und die Kommentare bis hin zu den Artikeln alles selbst mache – und die Rechtsabteilung auch noch in Personalunion übernehme. Eine weitere juristische Attacke – von einem bekannten linken Aktivisten – wegen eines Gastbeitrages habe ich mehr oder weniger erfolgreich abgewehrt, wenn auch teuer. Und auch in Sachen des ARD-Faktenfinders Gensing gibt es Neuigkeiten – ich bin aber noch am Ringen mit meinem Anwalt, der seine Arbeit sehr genau nimmt und mehr auf Vorsicht setzt als auf Glasnost wie ich. Insofern ergänzen wir uns da gut – und über die Resultate dieses Ringens werde ich Sie auf dem Laufenden halten.

Der Erfolg der Seite war nur möglich dank Ihnen. Daher die große Bitte: Bleiben Sie dabei! Lesen Sie mit, empfehlen Sie die Seite weiter, unterstützen Sie sie, und wenn es nur durch das Anklicken der Reklame sei (ich habe sie schweren Herzens in den unteren Teil der Seite verbannt – aber dass Sie sich als Leser wohlfühlen ist wichtiger als das Geld; so lange es geht, werde ich deshalb die Reklame so minimal wie möglich halten).

Dieses neue Medium, das entstanden ist, ist in meinen Augen ein bisschen wie unser gemeinsames (journalistisches) Kind! Wie jedes Kind wird es auch mal einen Fehltritt machen, mal die eine oder andere kleine Enttäuschung bringen – aber ich werde alles daran setzen, dass es wächst und gedeiht.

In diesem Sinne danke ich Ihnen herzlich und wünsche Ihnen eine gute neue Woche
Ihr
Boris Reitschuster
www.reitschuster.de

 

Bilder: Rolf Gebhardt/Wikipedia/CC BY-SA 3.0, Marie Bellando-Mitjans/Unsplash, Bundesarchiv/CC BY-SA 3.0 de, Marcus Lenk/Unsplash, Doğukan Şahin/Unsplash

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