Mehr als 60 Jahre war er im Eis eingefroren, dann wachte er in einer völlig anderen Welt auf: In dem Film „Der Winterschläfer“ mit Louis de Funès findet sich der Großvater nach einem Unfall in der Antarktis 1905 im Frankreich der 1970er Jahre wieder. Die Wissenschaftler fürchten, dass er den Schock nicht überlebt. Deshalb errichten sie für ihn die perfekte Kulisse: Die Bewohner eines ganzen Stadtviertels müssen historische Kostüme anziehen, mit Kutschen fahren und nachgedruckte alte Zeitungen lesen.
Ich fühle mich ein bisschen wie der aufgetaute Großvater. Nur dass niemand für mich eine Kulisse aufgebaut hat: Ich war zwar nur 16 Jahre im Ausland – aber unsere Zeit ist so schnelllebig geworden, dass ich den Eindruck habe, ich hätte Jahrzehnte verpasst.
Als ich aus Deutschland wegzog, sprachen sich Erwachsene noch mit „Sie“ an. Worte wie „Kulturschaffende“ und „Hetze“ für Kritik an der Regierung kannte man nur aus dem Geschichtsunterricht. Hätte mir damals jemand gesagt, dass ehemalige Stasi-IM, kommunistische Altkader und Funktionäre der umbenannten SED Führungspositionen in Politik und Gesellschaft haben würden – ich hätte ihn für verrückt erklärt.
Als ich aus Deutschland wegzog, war die Union noch für ein traditionelles Familienbild, für die Wehrpflicht, für Atomkraft, gegen zu viel Zuwanderung und Doppelpass. Multikulti galt als gescheitert. Und ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand, der kein Extremist ist, Angst haben könnte, offen seine Meinung zu sagen.
In meinen 16 Jahren als Korrespondent und Büroleiter in Moskau habe ich bei jeder Gelegenheit Demokratie, Medien und Freiheit in Deutschland in höchsten Tönen gelobt. Selbst die EU und ihre Funktionäre in Brüssel habe ich verteidigt.
Und jetzt dieser Schock! Ich bin zurück, und traue meinen Augen nicht: Was ist passiert mit Deutschland? Ich bin in ein fremdes Land zurückgekehrt. Und wie ein Migrant stehe ich regelmäßig vor Rätseln.
Ständig muss ich an den alten jüdischen Witz meines Freundes Schurik aus Georgien denken: „Früher habe ich auf die Frage, wie es mir geht, geantwortet: Scheiße! Jetzt hat sich herausgestellt – das war das reinste Marzipan damals!“
Auch im alten Deutschland hat mir vieles nicht gefallen. Manches schien mir früher etwas steril. Heute gleichen in Berlin Gehwege und Grünanlagen oft kleinen Müllhalden. Früher schwärmte ich den Russen vor, wie wohl und sicher ich mich in Deutschland fühle. Wenn ich heute nach Moskau komme, ist es in manchem umgekehrt.
Es vergeht kaum ein Tag seit meiner Rückkehr, an dem nicht irgendeine kleine Welt in mir zusammen bricht. Zuerst dachte ich, es liegt nur an Berlin – die DDR ist hier nur scheintot, sie lebt im Service, im Staatsapparat und in der Politik munter weiter. Aber die Probleme sind tiefer.
Sicher spüren auch die Hiergebliebenen die Veränderungen. Aber ihnen hilft der Gewöhnungseffekt: Für sie änderte sich alles stückchenweise, sie hatten Zeit, es zu verdauen. Der „Auftau-Schock“ bleibt ihnen erspart – im Gegensatz zu Louis des Funès „Winterschläfer“ und mir.
Aber vielleicht kann mein Schock für andere hilfreich sein. Vielleicht können meine Eindrücke manchen Irrsinn entlarven, der den Hiergebliebenen inzwischen normal oder gar vertraut vorkommt – obwohl er in Wirklichkeit noch gar nicht so lange in ihr Leben getreten ist. Es ist wie mit den Fröschen, die angeblich nicht merken, wenn sie gekocht werden, so lange die Temperatur sehr, sehr langsam erhöht wird.
Meine Diagnose als Rückkehrer ist bitter, aber eindeutig: Die alte Bundesrepublik, aus der ich weggezogen bin, gibt es nicht mehr. Zumindest Berlin ist eine bizarre Mischung aus dem alten West und dem alten Ost. Allenthalben habe ich Moskau- und Sozialismus-Déjà-vus.
Nein, wir leben nicht in einer DDR 2.0. Aber der Geist des „Sowok“, wie man in Russland die sozialistische Denkweise und Mentalität verächtlich nennt, ist in diesem neuen Deutschland spürbar. Er ist tief in die Politik, in die Gesellschaft und in die Medien vorgedrungen – in manche Bereichen tiefer, in manche weniger. Aber er ist da:
In 16 Jahren in Moskau habe ich ein feines Gespür für den „Sowok“ entwickelt, also für sozialistische Denkweise.
Es ist mir klar: Die Bundesrepublik, aus der ich weggezogen bin, wird es nicht wieder geben (und mit der habe ich auch oft genug gehadert, und sie war mir in vielem zu konservativ – was für eine Ironie des Schicksals).
Aber ich träume, dass wir das Gespenst des „Sowok“, des Sozialismus, dahin zurücktreiben, wo es hin gehört: In die Giftküche der Geschichte.
Ich träume, dass die Mitte der Gesellschaft, die unzähligen Menschen, die ich bei jedem meiner Vorträge treffe, und die das Herz am rechten Fleck haben, wieder die Oberhoheit über den Diskurs im Lande gewinnen, und das Meinungsdiktat der linken Ideologen und Glaubenskrieger brechen können.
Ich träume davon, dass die Menschen wieder offen über ihre Ängste und Sorgen sprechen können, Missstände und Probleme benennen, ohne dafür diffamiert zu werden und Angst um ihre Existenz zu haben.
Ich träume davon, dass die Menschen nicht mehr aus Machtpoker gegeneinander aufgehetzt und der politische Gegner entmenschlicht wird.
Ich träume davon, dass sachliche Diskussionen möglich sind zu den Themen, die so viele Menschen bewegen: Sicherheit, Zuwanderung, Islam, Europolitik, das Verhältnis zwischen den Geschlechtern, Umwelt und Klima.
Ich träume von einer Währungspolitik, die nicht auf Gelddrucken setzt, in der sich die Menschen ihres Ersparten sicher sein können und nicht still enteignet werden.
Ich träume von öffentlich-rechtlichen Medien, in denen ganz unterschiedliche Sichtweisen und Standpunkte einen gleichberechtigten Platz haben, auch konservative und liberale.
Ich bin zu alt, um an Wunder zu glauben. Doch die Geschichte zeigt: Politische Systeme, die sich von der Realität abkoppeln, gehen unter. Vor diesem Untergang, der fatale Folgen hätte, ist unsere Demokratie nur zu retten, wenn nicht weiter Wunschdenken und Verdrängung vorherrschen, sondern eine Rückkehr auf den Boden der leider oft sehr beunruhigenden Realitäten erfolgt.
Das wird dem politischen Personal, dass sich heute an die Kommandobrücke klammert, nicht zu machen sein. Aber tüchtige, kluge und fähige Menschen haben wir in unserem Land im Überfluss. Nur sind sie mehr mit dem praktischen Leben und ihrer Arbeit beschäftigt, und in unserer aktuellen Politiklandschaft, die von Parteifunktionären bestimmt wird, unterrepräsentiert. Und sie sind oft von der Politik verdrossen. Frustriert. Hoffnungslos. Die Geschichte lehrt uns, dass eine derartige Apathie den Weg in die Katastrophe beschleunigt.
Aber die Geschichte lehrt uns auch etwas anderes: Dass gerade in Krisensituation oft ungewöhnliche Selbstheilungs- und Erneuerungskräfte aufkommen. Und so sei an ein altes russisches Sprichwort erinnert, das ich in Moskau verinnerlicht habe: „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“
Deshalb lasse ich mir meinen Traum nicht nehmen: Dass die Politik in diesem Land auf den Pfad der Vernunft zurückkehrt, und nicht mehr die Lautsprecher und Ideologen hoch oben in den Elfenbein- oder Fernsehtürmen den Ton angeben, sondern diejenigen, die für sie den Laden jeden Tag am Laufen halten.
Und weil träumen allein nicht hilft, habe ich auch einen Vorsatz für das neue Jahr: Den Mund aufzumachen, mich nicht einzuschüchtern zu lassen. Zu sagen, was ist. Und mich, zumindest so gut es geht. an den Grundsatz zu halten, den mir die russischen Dissidenten beigebracht haben: „Man muss tun, was man tun muss, egal, was kommt!“
In diesem Sinne – Ihnen allen ein frohes, freies und un-ideologisches neues Jahr!
Mein aktuelles Wochenbriefing:
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Bilder: Rolf Gebhardt/Wikipedia/CC BY-SA 3.0, Marie Bellando-Mitjans/Unsplash, Bundesarchiv/CC BY-SA 3.0 de, Marcus Lenk/Unsplash, Doğukan Şahin/Unsplash