Totschlag in Augsburg – Arme Opfer?

Von Boris Reitschuster„Ein merkwürdiges Verbrechen“ – unter dieser Überschrift hat der frühere Oberste Bundesrichter und heutige Publizist Thomas Fischer auf Spiegel Online einen Beitrag über die gewaltsame Tötung eines 49-jährigen Feuerwehrmanns geschrieben, der mich aufgewühlt hat. Und der geradezu typisch ist für den fast schon menschenverachtenden Umgang vieler derjenigen, die sich für bessere Menschen halte, mit Gewalttaten dieser Art. Eine zynische Relativierung, die mich wohl auch deshalb persönlich so empört, weil ein enger Verwandter von mir seit dreißig Jahren mit dem zweiten Opfer von Augsburg befreundet ist und auch jetzt, nach der Tat, in engem Kontakt mit dem 50-jährigen Begleiter des Getöteten steht. Auch er erlitt heftige Verletzungen, musste operiert werden.

Thomas Fischer, die Fleisch gewordene Selbstzufriedenheit, ist mir vor Jahren aufgefallen in einer Talkshow. Als dort ein Gegenüber von einer Straftat berichtete, darüber, wie diese dem Opfer zusetzte, lachte Fischer nur arrogant und gab zu erkennen, dass Straftaten nun mal immer passieren und er gar nicht verstehe, wie man sich darüber so aufregen könne. Ich konnte meinen Augen und Ohren damals kaum glauben und sagte mir: Der Mann wirkt ja wie der personifizierte Grund dafür, dass so viele Menschen das Vertrauen in unseren Rechtsstaat und seine Repräsentanten verlieren. Wetten, dass Richter nicht in einem Problemviertel wohnt, und es sich leisten kann, auch nachts sicher mit dem Taxi zu fahren, statt in den öffentlichen Verkehrsmitteln oder in dunklen, unsicheren Ecken mit der Realität konfrontiert zu werden?

In seinem Artikel verhöhnt Fischer emotionale Reaktionen auf die schreckliche Tat von Augsburg. Ja, er geht soweit, zu unterstellen, die Eindrücke, die viele nach der Tat von Augsburg hatten, seien zumindest zum Teil erlogen. Fischer schreibt über Menschen, die sich betroffen fühlten: „Sie sind nicht betroffen, auch wenn sie noch so laut ihre „Betroffenheit“ versichern.“

Fischer, der als früherer Oberster Bundesrichter eine Mitverantwortung trägt daran, dass unsere Justiz in weiten Teilen zu einer Kuschelveranstaltung wurde, über die manche Gewaltbereite eher lachen, rät, „auf Distanz zum Geschehen zu gehen, ein wenig Luft zu holen“. Zitat: „Man kann sich also vermutlich, sofern man nicht alsbald, ungefragt und bedingungslos in das lautest mögliche Wehgeschrei einstimmt, nur unbeliebt machen, mindestens aber verdächtig der Förderung von Gewalt, Verrohung und Menschenverachtung.“

Was Fischer schreibt, ist ist teilweise so zynisch, dass es schwer fällt, es hier wiederzugeben. Ich denke mir: Wie würde das auf die Hinterbliebenen des Toten wirken, auf den Freund meines engen Verwandten, ja auf meinen Verwandten selbst?

Ich kenne das Gefühlsleben von (ehemals) privilegierten Entscheidungsträgern wie Richter Fischer nicht, aber bei mir regt sich der Verdacht, dass es mit seiner Empathie und seinem Mitgefühl nicht allzu weit her sein kann, wenn er nicht versteht, dass Menschen eine Tat wie die in Augsburg aufwühlt. Und diese kalte Arroganz, dieses Fehlen an Empathie, entdecke ich so oft bei Politikern, auch bei Journalisten, bei Ereignissen, bei Straftaten, bei bestimmten Phänomenen.

Nur in seltenen Momenten blitzt Einfühlungsvermögen in Fischers Artikel auf. Über die Täter schreibt er: „Sie sind möglicherweise ,Italiener´, „jugendlich“, ,in Augsburg geboren´, haben ,türkische Eltern´. Zugleich sind sie vielleicht auch Schüler, Lehrlinge, Kumpels, Fußballspieler, Söhne, Brüder.“ Weiter unten schreibt Fischer es: Die „Beschuldigten (…) werden zu Spielbällen einer willkürlich, zufällig und zynisch erscheinenden Konstruktion von Medien-Wirklichkeit erniedrigt.“

Der Artikel von Fischer ist eine zu Papier gebrachte Beruhigungstablette gegen die beunruhigende Realität, ein Relativierungs-Kunstwerk gegen Zweifel an der heilen, linken Weltsicht. Maßgeschneidert für den Spiegel. Widerlegt werden vor allem Widersprüche, die es so gar nicht gibt. Da schreibt der 66–Jährige etwa: „Bitte überlegen Sie einmal, wann Sie zuletzt in ARD oder ZDF eine live übertragene polizeiliche Pressekonferenz von 50 Minuten Dauer gesehen haben“. Zu den im vergangenen Jahr von der Polizei registrierten 3.200 vollendeten oder versuchten Tötungsdelikten hat die ARD, soweit ich weiß, keine Live-PK bundesweit übertragen.“ Fischer scheint gar nicht mehr aufzufallen, dass er sein Argument wenige Zeilen darauf selbst widerlegt: „Von all diesen Erfahrungen fließt in die Statements der drei Auskunftspersonen ein: Nichts. Und keiner der zahlreichen Journalisten fragt danach.“ Und: „Die Sache selbst blieb in der Pressekonferenz im Vagen.“ Eben!

Nach einigen Absätzen von Fischers Artikel fürchtet man als Leser, der seine Empathie nicht ausgeknipst hat, bereits das Schlimmste. Und es kommt dann auch. Fischer zitiert aus der Polizei-Pressekonferenz: „Dann schlug einer unvermittelt mit der Hand gegen den Kopf. ,Und das führte so zum Tod´.“ Dazu Fischer: ,Das führte so zum Tod´: Was soll das bedeuten? Als bloße Aussage über Kausalität ist es annähernd läppisch.“ Ich finde die Aussage alles andere als läppisch, sondern klar. Und mir ist im Gegensatz zu Fischer auch klar, was sie bedeuten soll.

Der Justiz empört sich, dass das Opfer in den Medien als Feuerwehrmann bezeichnet wird: „Sprache ist – wer wüsste es besser als die Presse – niemals Zufall. Man sagt ,Feuerwehrmann´ nicht, weil das Opfer (zufällig) diesen Beruf hat, sondern weil der Beruf (unzufällig) für die Botschaft passt.“ Nein, weil es emotional einen Unterschied macht, ob etwa ein Gewalttäter getötet wird, oder jemand, dessen Beruf es ist, unter Einsatz seines Lebens andere Menschen zu retten. Wenn ausgerechnet Linke den Vorwurf erheben, hier würde eine Eigenschaft des Täters erwähnt, weil sie zur Botschaft passe, dass „die Tatopfer schamlos benutzt“ würden „für Wichtigtuerei, Katastrophenhetze, Sensationalismus“, kann man nur antworten: Man sollte nie von sich selbst auf andere schließen. Und es durchaus mal für möglich halten, dass andere aufrichtige Motive haben – auch wenn man sich das vielleicht selbst gar nicht vorstellen kann.

Fischer geht davon aus, dass die Täter weitaus weniger Schuld trifft, als die Augsburger Staatsanwaltschaft annimmt: „Die bisher bekannten äußeren Umstände lassen es nach der Lebenserfahrung allerdings wenig wahrscheinlich erscheinen, dass der zuschlagende Jugendliche im Moment seines Schlags den Tod des Opfers beabsichtigte oder ,billigend in Kauf nahm´.“ Damit sind wir beim Kern unserer Probleme: Wenn Richter wie Fischer Tätern auch bei schweren Attacken allzu leichtfertig schützend bescheinigen, sie würden den Tod nicht „billigend in Kauf nehmen“, wird so Gewalt nicht nur auf unerträgliche Weise verharmlost („war ja nicht so böse gemeint“). Aufgrund dieser Einstellung fallen auch allzu milde Urteile – mit fataler Signalwirkung. So wird der Kreislauf der Gewalt geradezu gedüngt. Aber über so etwas reflektiert Fischer nicht in seinem Beitrag.

Die juristischen Details, die Fischer weiter aufführt, mögen richtig sein. In der Tat ist es möglich, dass sich der vermeintliche Totschlag als Körperverletzung mit Todesfolge entpuppt, wie er annimmt – wobei diese Wahrscheinlichkeit bei der deutlich strengeren bayerischen Justiz wohl deutlich geringer ist als bei manchen eher weichgespülten Gerichten in anderen, vor allem rot, grün oder dunkelrot regierten Bundesländern. Juristisch ist der Unterschied zwischen Totschlag und Körperverletzung mit Todesfolge gewaltig. Für die Wahrnehmung der Tat durch die Menschen, für die Emotionen, die sie auslöste, nicht so sehr. Im sprachlichen, nicht im juristischen Sinn, ist der Familienvater von Augsburg nun einmal totgeschlagen worden.

Richter dürfen sich nicht von Gefühlen leiten lassen. Aber sie leben nicht im luftleeren Raum; die Auswirkungen einer Tat, auch auf die Öffentlichkeit, spielen durchaus eine Rolle beim Strafmaß. Fischer schreibt seinen Artikel aber als Publizist, nicht als mit dem Fall betrauter Richter. Und auch Emotionen schimmern in dem Beitrag durchaus durch: Und zwar Verärgerung über diejenigen, denen die Tat von Augsburg emotionell zusetzt. Die Konsequenzen fordern, gegen ein „Weiter so“ der Zustände, für die Fischer als ehemaliger Oberster Bundesrichter mitverantwortlich ist.

Zwischen den Zeilen spürt man kaum verholen Empörung Fischers darüber, wie hart die traditionell harte bayerische Justiz die Tatverdächtigen rannimmt. Ja, in links regierten Bundesländern hätten die Täter viel bessere Chancen, als in Bayern, glimpflich davon zu kommen. In links regierten Ländern wie in Berlin, meiner Wahlheimat, fühlt man sich aber auch viel weniger sicher als in Ländern wie Bayern, wo Polizei und Justiz noch nicht in diesem Ausmaße verkuschelt oder eingeschüchtert sind und der Rechtsstaat zumindest noch weitaus durchsetzungsfähiger ist als anderswo (und immer noch schwach genug).

So erschütternd der Artikel von Fischer ist – so dankbar muss man ihm sein, dass er einen Einblick bietet in die Denkweise von vielen derer, die heute in Politik, Justiz und Medien an den Schalthebeln sitzen. Dieser Einblick erklärt viel. Und er erschüttert.

Jeder Leser sollte sich nach Fischers Beitrag die Frage stellen: Lebt er lieber dort, wo linke Richter wie Fischer das Sagen und Täter Chancen auf höchste Milde haben, oder lieber dort, wo die Justiz zumindest noch ansatzweise durchgreift.


Bild: Ot/Wikipedia, (CC BY-SA 4.0-Lizenz).

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