Endlich sinkt die Inzidenz – ein Ergebnis der „Notbremse“? Experten sehen keinen Zusammenhang

Von Christian Euler

Ist Deutschland über den Berg? Die Inzidenz fällt seit zwei Wochen deutlich, am Sonntagmorgen lag die Zahl der binnen sieben Tagen gemeldeten positiven Tests pro 100.000 Einwohner laut RKI bundesweit bei 118,6. Die Hälfte der 16 Bundesländer weist inzwischen eine Inzidenz von unter 100 auf. Zum Vergleich: Vor gut zwei Wochen lag dieser Wert noch bei 169,3.

Befürworter der am 24. April in Kraft getretenen „Bundes-Notbremse“ sehen sich bestätigt. Kanzleramtsminister Braun sah in der jüngsten Entwicklung bereits vor vier Tagen deren Wirksamkeit und verteidigte die Strategie der Bundesregierung als „erforderlich“ und „verhältnismäßig“. Experten sehen hingegen keine eindeutige Wirkung. „Die Notbremse‘ kann diese Zahlen noch nicht direkt beeinflusst haben, dafür ist sie noch nicht lang genug in Kraft“, hält etwa Eva Grill, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie, dagegen.

Unterstützt wird die Fachfrau von der Tatsache, dass die Wende zum Guten bereits zwei Tage nach Inkrafttreten der „Notbremse“ einsetzte – viel zu früh, um dies auf diese Maßnahme zurückführen zu können. Derweil zeigt eine Studie der Universität Gießen, dass die mit der jüngsten Maßnahmen-Verschärfung verhängten Ausgangssperren „kein geeignetes Mittel“ sind, um die Ausbreitung des Virus zu bremsen. „Wir finden keine statistisch signifikante Evidenz, dass nächtliche Ausgangssperren eine Auswirkung auf die Verbreitung der Pandemie haben“, resümierten die Autoren.

Sinkende Infektionszahlen sind saisonal bedingt

Ebenfalls augenfällig: Vor rund sechs Wochen wurden teilweise die Schulen wieder geöffnet – und die Kinder regelmäßig getestet. Zudem musste sich testen, wer erstmals seit Monaten wieder ein Geschäft betreten oder zum Friseur gehen wollte. Als Folge der deutlich erhöhten Anzahl der Tests stieg der Inzidenzwert deutlich nach oben.

Diesen Kausalzusammenhang beschrieb Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im ‚Bericht aus Berlin‘ vor knapp einem Jahr so: „Wir müssen jetzt aufpassen, dass wir nicht nachher durch zu umfangreiches Testen – da muss man erst einmal um zwei Ecken denken – zu viele falsch Positive haben. Weil die Tests ja nicht 100 Prozent genau sind.“

Die Konsequenz der steigenden Zahlen: Die Schulen und auch Geschäfte wurden aufgrund des hohen Inzidenzwertes wieder geschlossen, die Anzahl der Tests – und mit ihr auch die Inzidenz – begann zu sinken. In den Augen der Regierung könnten also böse Zungen behaupten, dass vor der Änderung des Gesundheitsgesetzes die Inzidenzen passgenau signifikant stiegen und danach, kaum war die Verordnung im Eilverfahren auf den Weg gebracht worden, wieder fielen.

Ohnehin kann die zuletzt so positive Entwicklung kaum am neuen Lockdown liegen, da sich dieser – so es diesen Zusammenhang überhaupt gibt – erst einige Wochen später in sinkenden Inzidenzzahlen widerspiegelt. Viel eher könnten die sinkenden Infektionszahlen saisonal bedingt sein, wie es in früheren Jahren regelmäßig während der Grippewellen der Fall war.

Schon die Ausgangssperren von Anfang 2020 wirkten sich nicht auf das Infektionsgeschehen aus

Eine Studie der Universität Stanford offenbarte im Dezember die geringe Effektivität von Ausgangssperren und harten Lockdowns. Die Forscher hatten den Effekt von Anti-Corona-Maßnahmen in zehn Ländern verglichen, darunter auch Deutschland. Im Mittelpunkt stand die Analyse, wie der Verlauf der Infektionszahlen während der ersten Coronawelle durch strenge Maßnahmen wie Ausgangssperren und Geschäftsschließungen und weniger strenge Maßnahmen wie Social Distancing und das Verbot von Großveranstaltungen beeinflusst wurde.

Das Ergebnis: Die Ladenschließungen und Ausgangssperren Anfang 2020 wirkten sich nicht eindeutig auf das Infektionsgeschehen aus. Im Gegenteil. Die Wissenschaftler konstatierten mehr Todesfälle in Pflegeheimen. Dazu passt, dass die Inzidenzzahlen auch in der Schweiz sinken – obwohl dort die Fitnessstudios, Kinos, Außenbereiche der Restaurants längst wieder offen sind und Schulen vergleichsweise kurz geschlossen waren.

Selbst in Indien, das zuletzt immer wieder als Pandemie-Hot-Spot herhalten musste, präsentiert sich die Situation sehr ähnlich – obwohl es auf dem Subkontinent keinen Lockdown gab und die Hygienebedingungen dramatisch sind. Setzt man die Zahl der Neuinfektionen aus der vergangenen Woche ins Verhältnis zur Gesamtbevölkerung, ergeben sich für Deutschland (30.000 vs 83 Millionen) und Indien (450.000 vs 1,3 Milliarden) mit 0,0361 Prozent bzw. 0,0346 Prozent fast gleiche Werte.

Ob die Bundesbürger angesichts der deutlich sinkenden Inzidenz nun mit Lockerungen rechnen dürfen, ist dennoch unklar. Ein User auf Welt Online bringt sein Unbehagen so auf den Punkt: „Wer weiß, was noch kommt? Denn Angela Merkel ist zu einer gewissen unberechenbaren Größe mutiert.“

FOCUS-Kolumnist Jan Fleischhauer findet dafür diese Worte: „Es wird schlimm, und danach wird es schlimmer. Immer gibt es ein Virus, das noch furchtbarer und tödlicher ist als das letzte. Wenn es nicht der sogenannte Wildtyp ist, der uns hinmacht, dann die britische Mutante oder die brasilianische oder die indische.“

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

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Dipl.-Volkswirt Christian Euler widmet sich seit 1998 intensiv dem Finanz- und Wirtschaftsjournalismus. Nach Stationen bei Börse Online in München und als Korrespondent beim „Focus“ in Frankfurt schreibt er seit 2006 als Investment Writer und freier Autor u.a. für die „Welt“-Gruppe, Cash und den Wiener Börsen-Kurier.
Bild: Shutterstock
Text: ce

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