Vielleicht vergisst man solche Sachen einfach. Aber ich kann mich nicht erinnern, jemals von Helmut Kohl oder Helmut Schmidt Bilder beim Einkaufen gesehen zu haben. Doch die Zeiten wandeln sich, und das nicht nur aufgrund von Smartphones. Von Angela Merkel werden öfter mal Fotos beim „Shoppen“ veröffentlicht. Die Botschaft: Eine ganz normale Frau, die ganz normal einkaufen geht. Wobei das manchmal etwas schief läuft. Etwa im März wurde so ein Kanzler-Einkauf ein medialer Bauchklatscher, weil er etwas inszeniert wirkte (siehe hier). Und auch jetzt rief ein neuer Einkauf Merkels Fragen hervor. Nach der Rückkehr vom „historischen Gipfel“ in Brüssel fand die große Weltpolitikerin noch Zeit, mal eben schnell bei „Hit“ einzukaufen, einer für Berliner Verhältnisse schon eher gehobenen Supermarktkette.
Merkwürdig nur, dass die Kanzlerin mit völlig leeren Händen aus dem Geschäft kam, so zumindest auf dem Foto, das jetzt und in den Medien zu finden ist – ohne dass es jemand hinterfragt hätte. Etwa in der „Bild“. Die Überschrift dort hat schon was von Heldenverehrung: „Nach der Nervenschlacht um die Milliarden zum Einkaufen“. Ein Schelm, wer da an den engen Draht zwischen der wichtigsten Eigentümerin von Springer (und damit auch Bild) und der Kanzlerin denkt. Weiter heißt es in dem Bild-Text: „Da staunten Kunden und Touristen: Nach vier Tagen Verhandlungsmarathon in Brüssel kam Bundeskanzlerin Angela Merkel (66, CDU) am Dienstag zurück nach Berlin – und ging erstmal einkaufen. Um 18.33 Uhr verließ sie ihren Lieblings-Supermarkt in Berlin-Mitte. Was hinter ihr lag? Ein Gipfel der ganz besonders anstrengenden Art!“
Wie es der Zufall will, hat das Foto der „Bild“ ein russischer Bekannter von mir geschossen, Vladimir Pereverzin. „Völlig zufällig“, wie er sagt. Was ich ihm auch aufs Wort glaube. Wobei es sicher eher vorhersehbar ist, dass bei einem Einkauf der Kanzlerin zu belebter Stunde mitten im Herzen Berlins im Jahr 2020 jemand ein Handyfoto macht – und dieses dann seinen Weg in die Medien findet. Als Medienberater, so würde ich annehmen, kann man sich darauf geradezu verlassen. Und die Geschichte ist dann auch schön rund. Aber wie gesagt – das ist nur eine Annahme. Und genauso gut kann man auch annehmen, dass die Kanzlerin einfach wirklich nur schnell einkaufen wollte.
Ich war froh, dass ein Bekannter von mir der Fotograf war – denn nun konnte ich ihm die Frage stellen, die sich mir bei dem Bild aufgedrängt hatte: Wo war Merkels Einkauf? Und siehe da – Vladimir Pereverzin schickte mir sofort ein von ihm aufgenommenes Foto, das einen von Merkels Begleitern – wohl ein Leibwächter – zeigt, wie er schwer beladen mit Einkaufstaschen diese der Kanzlerin hinterher trägt. Was ich völlig in Ordnung finde – wenn ein Mann einer Frau mit schweren Taschen hilft (auch wenn das heute für manche/*n wohl schon als frauenfeindlich gilt).
So okay ich die Hilfe finde – so finde ich auch, dass der Eindruck in der Presse ein etwas anderer gewesen wäre, wäre auch das Bild von dem Taschenträger hinter Merkel zu sehen gewesen. Was Sie bei „Bild“ – zumindest in der Online-Version, die gedruckte habe ich nicht – nicht sehen können, sehen Sie hier auf meiner Seite – das Bild hinter dem Bild:
Nein, ich sehe keine Verschwörung dahinter, dass dieses Bild nicht veröffentlicht wurde. Und ich halte das auch nicht für weltbewegend. Allerdings stelle ich mir schon die Frage, ob die Ehrfurcht vor der Kanzlerin inzwischen bei den Kollegen so hoch ist, dass sie sich selbst verbieten, so ein Bild auch mit zu veröffentlichen? Und hier auch noch Merkel an der Kasse und beim Einsteigen ins Auto:
PS: Je schlimmer die politische Lage, umso besser der Humor, sagt man in Russland. Als ich heute früh Merkels Foto auf twitter veröffentlichte mit dem Hinweis, dass der Einkauf fehle, gab es so humorvolle Antworten, dass ich Ihnen einige nicht vorenthalten will:
Bilder: Vladimir Pereverzin/Boris Reitschuster