Offen gestanden traute ich zuerst meinen Augen nicht, als ich diese Überschrift sah: „Mehrheit der Deutschen will TV-Boykott von Fußball-WM in Katar“. Weiter heißt es in der entsprechenden Meldung von Focus: „In knapp zwei Wochen beginnt in Katar die Fußball-WM. Je näher das sportliche Mega-Event rückt, desto heftiger wird die Kritik am Gastgeberland – vor allem im Hinblick auf die Menschenrechtslage.“
65 Prozent haben sich in einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey für das Magazin online entsprechend geäußert. Nur 19 Prozent empfänden es als falsch, die Spiele an öffentlichen Plätzen nicht live zu übertragen.
Auslöser für die Umfrage und die Empörung, die uns Focus weismachen will, sind die Aussagen des offiziellen WM-Botschafters Khalid Salman, der Homosexualität als „geistigen Schaden“ bezeichnete. So empörend diese Äußerung sein mag – dass in großen Teilen der islamischen Welt so gedacht wird, ist nicht neu. Und hinderte den polit-medialen Komplex auch nicht daran, die Zuwanderung genau aus diesen Regionen zu forcieren (was ein Konfliktpotential schafft, das völlig tabuisiert wird).
„Vor allem eher jüngere Menschen sind dafür, dass die Bildschirme schwarz bleiben“, schreibt der Focus: „74 Prozent der 30 bis 39-Jährigen würde einen Boykott befürworten, während in der Generation 65+ nur 60 Prozent einen Boykott begrüßen würden.“ Nur 19 Prozent empfänden es als falsch, die Spiele an öffentlichen Plätzen nicht live zu übertragen.
Der Bericht machte mich in mehrfacher Hinsicht stutzig. Zum einen wird darin abwechselnd mal der Eindruck erweckt, es gehe um einen Boykott von so genannten „Public Viewing-Veranstaltern“, also öffentlichen Veranstaltungen, bei denen die Spiele übertragen werden. Dann ist wieder von einem generellen TV-Boykott die Rede. Was denn nun bitte? Wie war die Frage genau? Das erfährt der Leser nicht – eingeblendet werden in dem Beitrag die Umfrage-Ergebnisse zu einer anderen Frage: „Sollten deutsche Politikerinnen und Politiker die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar Ihrer Meinung nach boykottieren?“
Demnach sind deutlich mehr Menschen für einen TV-Boykott als für einen Boykott der Politiker. Das klingt wenig glaubhaft. Wie das immer wieder bei Online-Umfragen von Civey vorkommt, und wie wir hier bereits aufgedeckt haben – siehe meinen Beitrag „Hocus Pocus Fidibus, und fertig ist die Umfrage?“
Nicht glaubhafter macht es die Umfrage, dass ihr zufolge sogar 51 Prozent der AfD-Wähler für einen TV-Boykott sein sollen. Vollständig absurd wird es mit der Nachbemerkung des Focus: „Anmerkung: Die Ergebnisse dieser Umfrage werden für folgende Grundgesamtheit berechnet: Personen, die Spiele der Fußball-Weltmeisterschaft 2022 im Fernsehen schauen werden oder es (noch) nicht wissen (volljährige Bundesbürger).“
Mit anderen Worten – ausgerechnet die, die sagen, sie werden die Spiele im Fernsehen ansehen, sind für einen TV-Boykott der Spiele.
Das klingt eher nach Realsatire oder politischen Auftrag als nach echter Meinungsforschung.
„Noch absurder wird alles durch die Formulierung bei der Vorstellung der Ergebnisse in dem Focus-Beitrag: „So denken die Fußball-Fans darüber“. Wie bitte? In der Überschrift ist noch von der „Mehrheit der Deutschen“ als Bezugsgröße die Rede, und dann von den „Fußball-Fans“. Also wer denn nun?
Um in der Fußball-Sprache zu bleiben: Das ist Journalismus auf dem Niveau der C-Klasse (womit nicht die von Daimler Benz gemeint ist). Einfach dumm und zum fremdschämen.
Womit ich mir eigentlich das Fazit, das ich zuerst im Kopf hatte beim Lesen der Meldung, sparen muss: Da war ich erschrocken, wie brav ideologisch gehorsam die Mehrheit ist und wie verbreitet der Moral-Größenwahn nach dem Motto „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“. Und ich fragte mich, ob wir es hier mit Masochismus in Form von Selbstbestrafung zu tun haben, oder mit Scheinheiligkeit in Form von unaufrichtigen, aber sozial erwünschten Antworten. Denn man kann ja durchaus für einen TV-Boykott sein, im Wissen, dass dieser nicht kommen wird, und dann doch die Spiele ansehen. Insofern ist selbst die Fragestellung ein Symptom deutscher Doppelmoral: Konsequent wäre es gewesen, zu fragen, ob der Befragte selbst auf das Ansehen der Spiele verzichten wird.
Meine Hoffnung: Dass all die bösen Schlüsse, an die ich im ersten Moment dachte, überzogen sind – weil einfach die Umfrage unsolide ist.
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