Kritiker bemängeln seit langem, dass der Tierschutz in Deutschland überzogen werde – vor allem bei Bauarbeiten. Befürworter der strengen Regeln entgegnen, es gehe einfach darum, einen Ausgleich zwischen den Interessen von Mensch und Tier zu suchen.
Wie sieht das in der Praxis aus?
Nehmen wir den Bau von Stuttgart 21. Das Projekt ist hoch umstritten und gut möglich, dass die Kritiker Recht haben, die es für Größenwahn halten. Fakt ist: Der Schutz des Juchtenkäfers führte zu massiven Verzögerungen und juristischen Auseinandersetzungen. Umweltschützer machten geltend, dass die Lebensräume der seltenen Käferart gefährdet seien. Der Fall zog sich über Jahre hin und sorgte immer wieder für Schlagzeilen.
In Bayern und anderen Bundesländern legte der Schutz des Bibers mehrfach Straßenbauprojekte auf Eis. Hier muss dazu gesagt werden: Diese Tiere sind – mit gutem Grund – streng geschützt. Insofern kann man zumindest nachvollziehen, dass langwierige Prüfungen und Gutachten notwendig sind, wenn ihre Lebensräume beeinträchtigt werden. Der Bau der A94 in Bayern wurde wegen solcher Bedenken um Jahre verzögert.
In Nordrhein-Westfalen mussten Infrastrukturprojekte gestoppt oder umgeplant werden, weil die Lebensräume von Fledermäusen betroffen waren. Besonders in Gebieten mit altem Baumbestand, wo Fledermäuse ihre Quartiere haben, sind Eingriffe in die Natur hochumstritten. Kritiker sprechen dabei oft ironisch vom “Fledermaus-Effekt”, der den Fortschritt blockiere. Der Bau der Elbvertiefung für größere Schiffe wurde jahrelang verzögert, weil Naturschutzorganisationen argumentierten, dass der Lebensraum von Fischen wie dem Stör bedroht sei. Die Klagen führten dazu, dass immer wieder neue Umweltgutachten angefordert wurden, die den Projektfortschritt bremsten.
In all diesen Fällen maße ich mir ein Urteil nicht an, weil es sich um seltene Tierarten handelt, und die Abwägung zwischen deren Schutz und der Wichtigkeit der Bauprojekte schwierig ist – und Fachleuten überlassen bleiben sollte, die sich mit dem Thema auskennen – und nicht fachfremden Journalisten wie mir, die sich nicht gründlich eingearbeitet haben.
Ein Urteil maße ich mir dagegen in einem Fall an, über den ich bei der täglichen Zeitungs-Pflichtlektüre gestolpert bin. Die Stadt Berlin will das alte Jahnstadion abreißen und an seine Stelle einen Neubau setzen. Eine gute Sache, könnte man meinen – und endlich mal was Konstruktives in der Hauptstadt. Wenn schon Bayern über den Länderfinanzausgleich Berlin mit aushelfen muss, so wird in diesem Fall das Geld aus dem Süden wenigstens sinnvoll eingesetzt. Sollte man meinen. Aber jetzt stoppte ein Gericht den Abriss. Die Begründung: Dort nisten Spatzen!
Nein, sie haben sich nicht verlesen. Es geht nicht um Juchtenkäfer, Biber, Fledermäuse oder Störe. Sondern um ganz gewöhnliche Spatzen.
Auch die haben zwar unter dem Menschen und seiner Aktivität zu leiden, ihr Bestand hat in den letzten Jahrzehnten regional abgenommen und in Städten sowie Ballungsräumen sind die Populationen durch Faktoren wie den Verlust von Lebensräumen, fehlende Nistmöglichkeiten und den Rückgang von Insekten als Nahrungsquelle stark zurückgegangen.
Aber selten oder gar vom Aussterben bedroht sind die Spatzen Gott sei Dank noch nicht.
Dennoch sorgten die Spatzen für eine spektakuläre Wende im Streit um das 200-Millionen-Euro-Projekt des Neubau eines Sportparks in Prenzlauer Berg. Die Richter des Berliner Verwaltungsgerichts haben den Abriss im Eilverfahren gestoppt, nachdem der Naturschutzverband Naturfreunde juristische Schritte eingeleitet hatte . Die für den morgigen Mittwoch geplanten Arbeiten dürfen nicht fortgesetzt werden, wie der „Tagesspiegel“ berichtet.
Die Begründung: Die Stadt Berlin habe den Artenschutz nicht ausreichend berücksichtigt, hieß es zur Begründung.
Durch den Abriss würden Brutplätze vom Haussperling – bekannt als Spatz – verloren gehen. Damit ist der zunächst erfolgreich gegen die den von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Pläne für einen Stadion-Neubau vorgegangen.
„Der Abriss-Stopp gilt nach Gerichtsangaben vorerst bis einschließlich 28. Februar 2025. Damit ist der komplette Zeitplan des Großprojekts dahin“, schreibt die „Bild“: „Denn der Neubau sollte bereits im ersten Quartal 2025 beginnen.“ Dem Tagesspiegel zufolge wird die Verzögerung sogar bis Oktober 2025 andauern.
Zuvor hatte ein Gutachten, das der Senat in Auftrag gegeben hatte, ergeben, dass die Bauarbeiten Brutstätten verschiedener geschützter Vogel- und Fledermausarten zerstören. Der Senat wollte dieses Problem durch Ausgleichsmaßnahmen entschärfen. Für die Spatzen waren Sperlingshäuser vorgesehen.
Doch Berliner Richter bezweifeln, dass die dafür vorgesehenen 94 Brutstätten wirklich ausreichen. „Die Nistplätze seien noch nicht vorhanden und es sei nicht gewährleistet, dass sie rechtzeitig vor Beginn der Abrissarbeiten fertig seien“, so das Gericht laut dem Bericht: „Außerdem habe bereits die oberste Naturschutzbehörde darauf hingewiesen, dass nicht sicher sei, ob die Vögel diese auch nutzen würden.“
Wie und vor allem wie schnell die geplante Vorzeige-Sportstätte nun wirklich entsteht, steht in den Sternen. Das Projekt ist laut „Bild“ – wie eigentlich jedes Projekt – „aus verschiedenen Gründen umstritten“. Allein Abriss und Neubau des Stadions sollen mittlerweile 182 Millionen Euro kosten und damit gut doppelt so viel wie anfangs geplant, schreibt das Blatt: „Die Bürgerinitiative Jahnsportpark sammelte in einer Petition über 14.000 Unterschriften, um die Maßnahmen zu verhindern.“
Der Berliner Senat hat ja aber schon beim Volksentscheid gegen die Schließung des Flughafens Tegel gezeigt, dass er auf den Bürgerwillen im Zweifelsfalle pfeift.
Die ganze Geschichte um das Jahn-Stadium ist eine Posse mit vielen Facetten. Im Ausland zeigen sie uns – verzeihen Sie mir den unfreiwilligen Sprachwitz – angesichts solcher Husarenstücke den Vogel.
Der eigentliche Skandal ist hier in meinen Augen ganz und gar nicht der Tierschutz – im Gegenteil, die Spatzen haben den verdient: Der Skandal ist, dass der Senat nicht ausreichend Ausweich-Nistplätze zur Verfügung gestellt hat und das offenbar auch nicht zeitnah schafft. Aber wundert einen das, angesichts der Tatsache, dass sich Regierungen und Verwaltungen bei uns zu Bürokratiemonstern entwickelt haben?
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