Wenn man zu oft „Hilfe, ein Wolf“ schreit, dann stumpft sich das irgend wann ab, und dann reagiert niemand mehr – so die Lehre aus der Fabel „Der Hirtenjunge und der Wolf“ . Wenn in einem Land ständig „Nazi“ gerufen wird, wenn Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, nur weil sie die Migrationspolitik der Kanzlerin kritisieren oder Sorge vor Zunahme von Gewalt im öffentlichen Raum haben, als „Nazis“ gescholten werden, ja selbst Liberale, weil ihre Parteifreunde in Thüringen sich von den Falschen haben wählen lassen, dann wirkt der Begriff „Nazis“ irgend wann nicht mehr, stumpft ab – und bagatellisiert echte (Neo-) Nazis.
Dieser Effekt war am Donnerstag Abend am Brandenburger Tor in Berlin zu bemerken. SPD-Generalsekretär Lars Klingbein hatte am Tag nach der schrecklichen Tat von Hanau, wo ein 43-Jähriger zehn Menschen erschoss, auf twitter einen Aufruf für eine Veranstaltung dort gestartet:
Auf den ersten Blick wirkt das wie ein Aufruf, dem sich jeder aufrechte Demokrat anschließen kann, ja muss. Sieht man genauer hin, bemerkt man, wie der Sozialdemokrat einschlägig „geframte“ Schlüsselwörter verwendet, mit denen er für jedermann erkennbar Terrorismus und seine politischen Gegner in einen Topf wirft. Denn als „Hetzer“ – einem Begriff aus der Nazi- und DDR-Sprache – werden heute pauschal Menschen bezeichnet, die etwa die aktuelle Migrationspolitik kritisch hinterfragen. So wichtig, ja notwendig eine neutrale Gedenkveranstaltung gewesen wäre, die sich gegen Extremismus, Fremdenhass und Hass allgemein gewandt hätte, so problematisch war es, dass hier Politiker versuchten, das Gedenken und die Trauer regelrecht zu kapern – bevor die Hintergründe der Tat aufgeklärt sind.
Den ganzen Tag über riefen Politiker fast aller Parteien zur Teilnahme an der Veranstaltung auf. Am Ende kamen laut Augenzeugenberichten „mehr als 300“, nach Presseberichten „mehrere Hundert“ Menschen am Brandenburger Tor zusammen. Politiker, ihre Mitarbeiter und Journalisten scheinen hier fast unter sich geblieben zu sein. Auf die Schnelle war keine Armada von Bussen und Reiseangeboten zu erstellen, wie das etwa in Erfurt am vergangenen Samstag oder bei anderen Großdemonstrationen üblich ist, wodurch für viel Geld die Illusion reger Bürgerbeteiligung erzeugt wird.
Was könnte die Diskrepanz zwischen der Reaktion in der Politik und der Reaktion der Bürger deutlicher machen, als das Fernbleiben der Menschen? Ganz drastisch ausgedrückt: Wie mussten sich die Politiker – und auch Medien – anstellen, dass an diesem Abend nicht das passierte, was die Natürlichste Sache der Welt sein müsste: Dass Abertausende auf die Straße gingen, um am Brandenburger Tor ihre Trauer und ihr Mitgefühl auszudrücken und ein Zeichen zu setzen gegen Gewalt, gegen Extremismus.
Die Bilder von dem erschreckend leeren Pariser Platz vor dem Berliner Wahrzeichen, um den sich eine Menschenkette zieht, sind ein Symbol für die Zerrissenheit unserer Gesellschaft, für die tiefe Kluft, die zwischen der Politik und weiten Teilen der Medien auf der einen Seite und der Mehrheit der Menschen auf der anderen Seite besteht. Ihre Realitäten, ihre Lebenswirklichkeiten haben sich erschreckend auseinander entwickelt. Und die Menschen haben ein feines Gespür dafür, wenn Taten wie von Hanau instrumentalisiert werden. Wie die Tat eines psychisch kranken Menschen offenbar so „geframt“, also dargestellt wird, dass bei vielen Menschen hängen bleibt, es stecke ein rechtes Terrornetzwerk dahinter oder es gebe zumindest eine Verbindung zu bestimmten politischen Kräften.
Ja, leider wurde auch islamistischer Terror in Deutschland politisch instrumentalisiert. Auch bei Aufsehen erregenden Kriminalfällen kommt diese vor. Dass aber derart unisono, über Partei- und Mediengrenzen hinweg fast schon im Einklang die Tat eines offenbar psychisch kranken und unter Wahnvorstellungen leidenden Täters instrumentalisiert wird, ist erschütternd. Spiegel-Miteigentümer Jakob Augstein machte gleich Henryk Broder, Roland Tichy und Thilo Sarrazin für die Tat verantwortlich. Angela Merkel, die nach dem islamistischen Terrorakt am Breitscheidplatz keine klaren Worte fand, wandte sich diesmal an die Öffentlichkeit. In einer emotionslos vom Blatt abgelesenen Rede ignorierte sie die offensichtliche psychische Krankheit des Täters, sprach durchaus zutreffend von Gift in der Gesellschaft, machte aber dabei sehr deutlich, dass sie die Verantwortung ausschließlich auf einer Seite verortet. Faktisch nutzte sie die Tat zum weiteren Spalten – und das auch noch mit den Worten „wir stellen uns denen, die spalten, mit aller Entschiedenheit entgegen.“ Dass Bundespräsident Steinmeier nach Hanau reiste, ist gut und richtig. Bedauernswert ist, dass der damalige Bundespräsident Gauck 2016 ebenso wie Merkel nicht zum Breitscheidplatz kamen – direkt vor ihrer Haustüre.
Journalisten instrumentalisierten selbst die Mahnwache vor dem Brandenburger Tor, um ihr innenpolitisches Süppchen zu kochen: „Nur von der AfD sah ich niemanden“, schrieb Ann-Katrin Müller vom Spiegel. Sie hat nicht aufmerksam genug hingesehen – so war etwa der AfD-Abgeordnete Pazdersky anwesend. Der Spiegel twitterte später: „Der Attentäter von Hanau war offenbar psychisch krank. Trotzdem kann sein Anschlag nicht als Wahntat abgetan werden, denn sein Hass suchte ein Ziel. Die rassistische AfD hatte es im Angebot.“Als ob Schizophrene nach Angeboten von Parteien morden würden. Man muss kein Freund der AfD sein – und als Journalist muss man ohnehin allen Parteien gegenüber Distanz halten – um hier eine ebenso zynische Instrumentalisierung zu sehen. Und dieser Tenor zieht sich wie eine rote Schnur durch die Stimmen von Politik und Medien. Ich habe in Russland 1999 erlebt, wie vermeintlich von Tschetschenen verübte Bombenanschlägen – bei denen zahlreiche Verdachtsmomente zum Inlandsgeheimdienst führten – dazu genutzt wurden, dass eine regelrechte Stigmatisierung einer ganzen Bevölkerungsgruppe – Kaukasier – initiiert und diese unter Generalverdacht gestellt wurden. Darum bin ich so sensibilisiert, was die aktuellen Ereignisse angeht. Darum finde ich es erschreckend, wenn etwa die Frankfurter Allgemeine im Windschatten von Hanau den früheren Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen als Rechtsextremen diffamiert – mit einer geradezu hahnebüchenen Erklärung.
Nicht minder gefährlich als die Stigmatisierung, die weitreichende politischen Folgen bis zu einem Verbot der AfD haben könnte, das unsere Gesellschaft endgültig zerreißen würde, ist der Umstand, dass eine nüchterne, sachliche Debatte nicht nur zu der Tat, ihren Ursachen und den Folgen, sondern generell zum Thema Zuwanderung sowie Umgang mit dieser und insbesondere Fremdenhass in Deutschland, dem Land der Dichter und Denker, spätestens seit 2015 nicht einmal mehr ansatzweise möglich ist.
So müsste, wenn das Niveau der Debatte nicht auf die Ebene Pawlowscher Reflexe gesunken und der Meinungskorridor nicht so verengt wäre, etwa nüchtern die Frage diskutiert werden, inwieweit, wie und warum die gesellschaftlichen Veränderung, die wir durchleben, wie etwa die Wandlung Deutschlands zu einer Einwanderungsgesellschaft, auch dazu führen können, dass Menschen ihren Hass gegen Ausländer richten. Sind dafür nur diejenigen verantwortlich, die Probleme mit der Einwanderungspolitik überzeichnen? Auch schon diejenigen, die sie nur benennen? Wo ist die Grenze zwischen beidem? Und ist der Gedanke abwegig, dass auch die Tendenz, Probleme mit der Migrationspolitik eher unter den Tisch zu kehren, bei Menschen zur gegenteiligen Reaktionen führen kann?
Der Harvard-Professor Yascha Mounk sagte in den Tagesthemen 2018: “Wir wagen ein historisch einmaliges Experiment, eine monoethnische, monokulturelle in eine multiethnische Gesellschaft zu verwandeln. Das kann klappen, wird auch klappen, aber dabei kommt es natürlich zu vielen Verwerfungen.“ Wir bräuchten eine offene und ehrliche Diskussion, die der Frage auf den Grund geht, wie diese Verwerfungen aussehen und wie sie verarbeitet und eingegrenzt werden können. Welche Ängste sie auslösen und wie mit diesen umgegangen werden kann? Wie etwa verhindert werden kann, dass sie in Terror und Rechtsextremismus umschlagen? Oder dass psychisch Kranke ihre Aggression in eben diese Richtung kanalisieren. Ob der heutige Weg – Tabuisierung der Ängste – der richtige Weg ist?
Auch die Medien müssen sich hier Fragen stellen. Viele Linke behaupten, die Einladung von AfD-Politiker in Talkshow sei mitschuldig für eine Atmosphäre des Hasses. Wie genau begründen Sie diese These? Welche genauen Aussagen führen sie dafür an? Und könnte es auch umgekehrt sein? Wie wirkt es etwa auf Menschen, die in Gefahr sind, sich zu radikalisieren, wenn wie gestern Abend bei Illner im ZDF bis auf Armin Laschet vom linken Flügel der CDU nur Gleichgesinnte aus der linken bis linksextremen Szene miteinander über Hanau diskutieren?
Doch statt dass all dies und vieles mehr ehrlich diskutiert würde, wird die Antwort von oben bzw. von links via Medien und Politik aufoktroyiert: Schuld sind diejenigen, die die Missstände benennen. Sie sind „Hetzer“. Wer gegen dieses Dogma verstößt, wird sofort zum Teil des Problems abgestempelt; selbst Hinterfragen ist verdächtig. So wird etwa eine notwendige Diskussion darüber verhindert, wo die Grenzen zwischen der Benennung von Missständen und dem Schüren von Ressentiments („Hetze“) verläuft? Die wird leider zu oft überschritten. Aber teilweise auch darum, weil keine offene Diskussion mehr über diese Grenzen stattfinden können?
Unter den Bedingungen eines faktischen Diskussionsverbots, des Ersetzens von ergebnisoffener politischer Auseinandersetzung durch fast schon reflexartigen Ritualen und der Tabuisierung von Themen, die Millionen Menschen tief bewegen und ihnen Ängste machen, wird sich nicht nur das Problem von Rechtsextremismus nicht lösen lassen – sondern auch die meisten der anderen gigantischen Probleme, vor denen unsere Gesellschaft steht. Eben wegen diesen Bedingungen sind es nur ein paar Hundert Menschen gewesen, die am Donnerstag vors Brandenburger Tor kamen zur Mahnwache.
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