Schamlose Instrumentalisierung

Ich spüre eine Veränderung in mir, die mir große Sorgen macht. Als ich gestern Abend von den Toten in Hanau hörte, war ich aufgewühlt, entsetzt, traurig. Wie jeder Mensch, der von solch einer schrecklichen Tat hört. Vielleicht bin ich auch besonders sensibilisiert, nachdem ich selbst Terror aus nächster Nähe erlebt habe, beim Geiseldrama im Moskauer Musical-Theater Nord-Ost 2002 die Buse mit gestapelten Leichen an mir vorbeifahren habe sehen, am Friedhof von Beslan im Nordkaukasus, wo Terroristen 2004 eine Schule überfielen und 331 Geiseln starben, verzweifelte Mütter schreiend an den Gräbern ihrer Kinder erlebte. Solche Erfahrungen vergisst man nie, und sie werden schnell wieder sehr lebendig, wenn etwas wie in Hanau passiert. Man sieht sofort die Toten wieder vor seinen Augen, das unerträgliche Leid der Angehörigen. Selbst beim Schreiben dieser Zeilen kämpfe ich mit den Tränen. Und ich schäme mich nicht dafür – ich müsste mich eher schämen, wenn das nicht so wäre, wenn ich abgestumpft wäre.

Erschreckt hat mich, dass ich heute früh, nach dem Aufstehen im Internet so sehr über die Reaktionen auf Hanau entsetzt war, über die massive Instrumentalisierung der Tat, dass dabei die normale menschliche Reaktion, die Trauer, der Gedanken an die Toten und ihre Hinterbliebenen, heute in den Hintergrund geraten ist. Ich habe mich also anstecken lassen. Terror – egal mit welchem Hintergrund und von welcher Seite – wird heute in Deutschland konsequent instrumentalisiert. So grob es ist – ich muss an das Zitat von Max Liebermann denken: „Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte.“

Was ist bisher – Stand Donnerstag morgen – bekannt: „Elf Tote in Hanau – mutmaßlicher Täter identifiziert“, titelt die Frankfurter Allgemeine sehr sachlich. Und weiter: „Bei dem Täter von Hanau soll es sich um einen Mann namens Tobias R. handeln. Er hat mutmaßlich am Mittwochabend neun Menschen erschossen. Der Täter selbst wurde tot in seiner Wohnung aufgefunden. Die Polizei hat wohl ein Bekennerschreiben gefunden.“ Und weiter: „R. hat noch kurzem ein Video auf seiner Webseite veröffentlicht, in dem er verschwörungstheoretische Inhalte verbreitet“ sowie: „Die genauen Hintergründe für die außergewöhnliche Gewalttat sind bislang unklar.“

Über das Video, das der Tobias R. drehte, ist bekannt, dass er dieses als „persönliche Botschaft an alle Amerikaner“ bezeichnete und sagte, in den USA existierten unterirdische Militäreinrichtungen, in denen Kinder misshandelt und getötet sowie der Teufel angebetet würden. Amerikanische Staatsbürger sollten aufwachen und gegen diese Zustände „jetzt kämpfen“.

In einer seinem „Bekennerschreiben“ auf seiner Website, die inzwischen gelöscht ist, aber mir vorliegt, schreibt er unter anderem:

Und weiter:

Unter anderem glaubte Tobias R. dem Schreiben zufolge, „der Geheimdienst“ habe sich in sein Gehirn eingeklinkt und diverse Hollywood-Filme und US-Serien seien nur aufgrund seiner Inspiration und Ideen entstanden, etwa „Basic Instinct 2“, „Breaking Bad“ und „Vicings“: „Die Gehirnoperation, die mich überwacht, nimmt Einfluss darauf, welche Hollywood-Filme gedreht werden bzw. welche Inhalte verfilmt werden“. In einem anderen Dokument auf seiner Homepage erklärte er, wie er mit seinen Gedanken Deutschland zum Fußball-WM-Titel führen werde. Weitere Auszüge füge ich im Anhang an diesen Beitrag an. Die Texte des Attentäters wirken so, als ob er schwer verwirrt und psychisch krank war.

Der hessische Innenminister Peter Beuth hat Hinweise auf einen mutmaßlich rechtsextremen Hintergrund der Tat von Hanau bestätigt. Zu dem Eindruck, dass der Täter verwirrt wirkte, sagte Beuth laut Presseberichten nichts. In dem mit Haß erfüllten Bekennerschreiben sind fremdenfeindliche Motive dahingehend zu erkennen, dass sich Tobias R. offenbar früher von Ausländern attackiert fühlte. Er zeigt eine stramm völkische Gesinnung und fordert, dass Menschen aus bestimmten Ländern nicht nur aus Deutschland ausgewiesen werden, sondern die gesamten Ethnien vernichtet werden müssten. Es ist Sache der Strafverfolgungsbehörden, ein medizinisch fundiertes Urteil darüber zu fällen, wie der Geisteszustand von Tobias R war.

Umso bestürzender ist, was sich in den sozialen Netzwerken abspielt, die ja inzwischen in Teilen die klassischen Medien in solchen Situationen ersetzen und offenbar wie ein unguter Trigger funktionieren. Die leblosen Körper der Opfer waren noch kaum abgekühlt, da wurde bereits auf der einen Seite spekuliert, es handle sich bei den oder dem Tätern um Ausländer bzw., auf der anderen Seite, um Rechtsextreme. Dass Wirrköpfe nach einer solchen Tat umgehend derart geschmacklos reagieren, ist zwar bitter, aber kaum vermeidbar in einer freien Gesellschaft.

Viel schwerer wiegt aber, wie viele Personen des öffentlichen Lebens bis hin zu Politikern und Journalisten die Tat umgehend schamlos ausnützten. Wie etwa hier, mitten in der Nacht, nur wenige Stunden nach der Tat:

Der Autor:

Ich persönliche habe zwar viele wirre Kommentare gefunden – aber keinen, in denen die AfD kurz nach Mitternacht „wild gepostet“ oder „selbst voreilig Schlüsse gezogen“ oder „gehetzt und politisch instrumentalisiert“ hätte. Ich bin immer bereit, mich anhand von Belegen überzeugen zu lassen, dass ich lediglich zu schlecht gesucht habe. Wenn dem nicht so so ist, steht diese Aussage aber für eine besonders perfide Methode: Dem Gegner genau das vorzuwerfen, was man selbst mit genau diesem Vorwurf in Wirklichkeit tut. Das ist an Zynismus, ja Verdorbenheit eigentlich kaum zu überbieten.

Am Morgen quoll twitter dann geradezu über von Kommentaren, wonach die AfD, ja selbst die Werte-Union und Journalisten von Axel Springer schuld sei an dem Terror von Hanau – obwohl die Polizei ausdrücklich darum bat, von Spekulationen Abstand zu nehmen:

Die Journalistin Şeyda Kurt schreibt:

André Schulz, Kriminalwissenschaftler und transkultureller Trainer von der Polizeiakademie Hamburg schreibt:

Der Satiriker Oğuz Yılmaz bringt sogar die Journalisten von Axel Springer ins Spiel – die es sich zumindest gelegentlich erlauben, die „Willkommenskultur“ zaghaft zu hinterfragen:

Carlo Masala, Professor an der Bundeswehr-Uni in München:

Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Özcan Mutlu schreibt:

Timon Dzienus, Mitglied im Bundesvorstand der Grünen Jugend:

SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil:

Die FDP, nach dem Thüringen-Debakel nur zur Bewährung vom Nazi-Vorwurf entlastet und entsprechend stramm auf Linie, schloss sich Klingbeils Aufruf sofort an. Der ist insofern perfide, als er per se ja von jedem aufrichtigen Demokraten unterstützt werden könnte, ja müsste – wenn eben nicht genau die einschlägig „geframten“ Schlüsselwörter verwendet würde, mit denen er für jedermann erkennbar Terrorismus und seine politischen Gegner in einen Topf wirft. Denn als „Hetzer“ wird ja heute fast schon jeder bezeichnet, der etwa Angela Merkels Flüchtlingspolitik kritisiert oder auf negative Folgen verweist – und sei das noch so sachlich.

Ich will Sie an diesem traurigen Tag mit unzähligen, weiteren Reaktionen, die in diese Richtung gehen, verschonen. Wer sich ein genaueres Bild machen will, kann dies über diesen Link tun.

Man muss kein Freund der AfD, der Werteunion und des Verlagshauses Axel Springer sein, um diese Instrumentalisierung einer tragischen Tat zu verurteilen. Umso mehr zu einem Zeitpunkt, zu dem über die tatsächlichen Hintergründe noch nichts bekannt ist, die Polizei ausdrücklich darum bittet, von Spekulationen Abstand zu nehmen die wenigen bekannten Umstände weder in die Richtung AfD, WerteUnion deuten. Wie perfide die Unterstellung ist, zeigt sich, wenn man sie umdreht: Eine Behauptung, Merkel und die Flüchtlingspolitik hätten Tobias R. zu seinem Fremdenhass und seiner Tat angestiftet, ist an Infamität kaum zu überbieten – folgt aber dem gleichen unsäglichen Muster, nur unter umgekehrten Vorzeichen.

In den Reaktionen ist sehr viel von Hass die Rede, der geschürt werde – und dabei ist in eben diesen Empörungen über das vermeintliche Schüren von Hass oft selbst Hass zu finden.

Anschläge wie der von Hanau zeigen, wie tief gespalten, ja verwundet unsere Gesellschaft ist. Die ersten, widerlichen Spekulationen von Wirrköpfen von links wie rechts sind dabei wohl noch ein Phänomen, das – leider – in jeder modernen Gesellschaft zu finden ist. Die massive politische Instrumentalisierung für innenpolitische Zwecke hat aber nicht nur etwas unappetitliches, sondern auch etwas Wahnhaftes. Das macht sie so gefährlich.

Und weil ich diesen Artikel mit einer sehr persönlichen Geschichte begonnen habe, möchte ich ihn auch mit einer solchen beenden: Ich hatte noch vor der Tat von Hanau folgenden Tweet auf twitter vorab geschrieben und dann auf automatische Veröffentlichtichung heute morgen eingestellt:

„Linksextreme seien nicht so schlimm wie Rechtsextreme, weil sich ihre Gewalt nur gegen Sachen richte, hören wir gebetsmühlenartig in vielen Medien. Was für ein Hohn auf die Opfer von Stalin, Mao, Pol-Pot und der RAF. Wie zynisch, so zu relativieren, für die eigene Ideologie.»

Ganz offen gestanden – in Anbetracht der Tag von Hanau hätte ich ihn – nachträglich betrachtet – lieber einen Tag später gebracht, einfach, damit in diesen aufgehetzten Zeiten niemand auf die Idee kommt, dass ich ihn in einem Zusammenhang mit der Tat sähe – auch wenn ich das gar nicht für verwerflich halten würde, aber ich finde, in so emotional aufgeheizten Zeiten sollte man möglichst viel Zurückhaltung an den Tag legen.

Die Reaktionen auf meine ebenso nüchterne wie fundierte Aussage haben mich sehr überrascht. Ein Schwall von Diffamierungen, ja Hass (zu finden hier). Hier nur eine Beispiel – von einer Kollegin vom WDR, die ich noch aus Moskauer Zeiten gut kenne, kommentierte öffentlich (und auf einmal per «Sie“):

Da fehlen einem einfach nur die Worte. Von wegen „Verblendung“.

Die fand für mich ein Facebook-Freund:

Besser kann man es nicht auf den Punkt bringen.

Ich musste an den großen Osteuropa-Experten Paul Lendvai denken, der bekannt ist für seine Diagnose, dass die post-kommunistischen Gesellschaften vergiftet sind. Leider, leider trifft das auch für das heutige Deutschland zu. Verantwortlich dafür ist nie nur einer. Es hat aber eine besondere Dimension, wenn die Regierung und höchste Repräsentanten des Staates an der Spaltung und damit auch an der Vergiftung mitmischen. Und sei es nur durch Unterlassen – wie dem Schweigen auf die massiven Attacken auf Liberale und Konservative nach Thüringen. Das Gift, gespritzt für kurzfristigen politischen Nutzen, wird lange und verheerend wirken. Es ist dieses Gift, das auch zu Terror und Gewalt führt. Wenn es eine Lehre aus Hanau gäbe, dann wäre das, dieses Gift zu erkennen und zu bekämpfen, zu deeskalieren.

Wir erleben, wie genau das Gegenteil geschieht. Zwar sprach auch Angela Merkel in ihrer emotionslos vom Blatt abgelesenen Stellungnahme zu Hanau von Gift – machte aber dabei sehr deutlich, dass sie dieses ausschließlich auf einer Seite verortet und bereits ein Urteil über den Geisteszustand des Täters gefällt hat. Dass auch die Bundeskanzlerin die Tat von Hanau instrumentalisiert, sie zum Spalten nutzt – und das auch noch mit den Worten „wir stellen uns denen, die spalten, mit aller Kraft entgegen“, ist an Zynismus kaum zu überbieten.

P.S.: Cem Özdemir schreibt:

Dem kann man nur zustimmen. Das wurde und wird allerdings auch dadurch erschwert, dass jahrelang Konservative und jetzt sogar Liberale als „Nazis“ diffamiert und so die echten Neonazis massiv verharmlost wurden – und in dem Irrglauben gewogen, sie hätten sehr, sehr viele Gleichgesinnte.

P.P.S.: Weitere Auszüge aus dem Bekennerschreiben:


Bilder: Pixabay

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