Steuer-Umfrage – journalistisches Hütchenspiel

Sind die Deutschen zu einem Volk von Masochisten geworden? Das war mein erster Gedanke, als ich heute las, dass drei Viertel der Deutschen gerne Steuern zahlen. Die Nachricht ist fast allgegenwärtig, welche Seite man auch immer öffnet – mit großer Wahrscheinlichkeit stößt man drauf. Irgend etwas muss mit meinem Bekannten- und Freundeskreis nicht stimmen, war mein zweiter Gedanke: Der ist ziemlich groß, aber ich kenne keinen einzigen, der gerne Steuern zahlt. Ob sie sich alle verstellen? Sich klammheimlich, im stillen Kämmerchen, darüber freuen, dass ihre Heimat eines der Länder mit der höchsten Steuerbelastung ist?Mein dritter Gedanke war ein Zitat, das Winston Churchill zugeschrieben wird: „Glaube an keine Umfrage, die du nicht selbst gefälscht hast.“ Als ich dann – was heute (anderen) Umfragen zufolge nur noch eine Minderheit der Leser tut – über die Überschrift hinaus etwas erfahren wollte und die Texte öffnete, war mein Staunen nicht schlecht, als ich las, dass das Bundesfinanzministerium die Umfrage selbst in Auftrag gegeben hat. Das ist dann in etwa so, wie wenn die Tabakindustrie nachfragen lässt, ob Rauchen Spaß macht, oder der Verband der Zuckerhersteller, ob die Menschen es gerne süß haben.

Na, hoffentlich wird die Umfrage jetzt auseinander genommen im Verlauf des Textes, war mein nächster Gedanke: Das Ganze schreibt doch geradezu danach, zerlegt zu werden. Doch nichts der gleichen. Nirgends. Zumindest nicht da, wo ich nachgelesen habe. Dabei sind die Zahlen per se widersprüchlich.

 

„Allerdings ist auch eine knappe Mehrheit von 53 Prozent der Befragten der Meinung, sie müssten persönlich zu viel Steuern und Abgaben zahlen“, heißt es weiter unten in den meisten Texten. Moment – dann stimmt doch die Überschrift nicht, sagte ich mir sofort: Kann jemand gerne etwas bezahlen, was er für überhöht hält? Die Widersprüche gehen noch weiter: „Acht von zehn Befragten (82 Prozent) sind in der Umfrage von Kantar Public der Auffassung, dass es keine Steuergerechtigkeit gebe, weil die Reichen doch immer einen Weg finden, um weniger Steuern zu zahlen als sie müssten.“ 82 Prozent halten die Besteuerung für ungerecht, und trotzdem zahlt eine Mehrheit gerne? Wie kann das sein?

Und weiter: “ Sechs von zehn Befragten meinen überdies, die Steuermittel kämen stärker Unternehmen als der Bevölkerung zugute.“ Entschuldigen Sie die Wiederholung – aber auch das drängt wieder die Frage auf – warum zahlen sie dann gerne? Und weil es so schön ist, noch ein Beispiel aus dem Text: „Allerdings sind nur 38 Prozent der Befragten der Meinung, dass Steuergeld im Allgemeinen sinnvoll verwendet wird. Etwa drei Viertel meinen, es sei schwer nachvollziehbar, wofür die Steuern überhaupt verwendet würden.“ Die Frage, die sich daraus ergibt, erspare ich mir.

Ich finde, es wäre das Minimum an journalistischem Anspruch, diesen Fragen auf den Grund zu gehen. Oder diese Widersprüche zumindest anzusprechen. Ich mache das hier in einem journalistischen Ein-Mann-Betrieb. Was läuft falsch, dass es keine der Redaktionen schaffte, bei denen ich den Artikel fand? Übernehmen sie nur noch von den Nachrichtenagenturen Texte und kleistern diese blind ins Blatt bzw. ins Internet? Ich habe mich auf die Suche nach der Umfrage gemacht. In einem großen, sehr bekannten Nachrichtenportal wird die Umfrage wie folgt vorgestellt: „Das berichtet die „Rheinische Post“, der die Umfrage vorliegt. Moment! Stopp! Der ganze Artikel ist also geschrieben, ohne dass der Redaktion die Umfrage vorliegt? Faszinierend.

Sofort machte ich mich auf die Suche nach dem Originalartikel in der Rheinischen Post. Ziemlich erfolglos: Er ist hinter einer Bezahlschranke versteck (siehe hier). Der Normalleser kommt also nicht weiter – und muss einfach auf Treu und Glauben Vertrauen haben. Weil ich das Ihnen, meinen Lesern, schuldig ist, habe ich ein Abo abgeschlossen bei der Rheinischen Post – anders kommt man nicht ran an den Text.

Und siehe da – ich kam mir vor wie beim Hütchenspiel. Der Text in der Rheinischen Post, auf den sich die anderen beziehen, und von dem ich mir endlich Aufklärung erhoffte, und dafür bezahlte, ist identisch mit dem Text des Generalanzeigers, der dort kostenlos abrufbar ist. Zumindest habe ich beim schnellen Überprüfen keine Abweichungen entdeckt. Und auch die Autorin ist die gleiche.

Offen gestanden, fühle ich mich da als Leser völlig für dumm verkauft. Nicht nur, weil ich jetzt völlig umsonst (aber leider nicht finanziell umsonst) ein Abo der Rheinischen Post habe. Auch, weil mein Vertrauen, dass ich dort zumindest einen Link auf die Original-Umfrage finde, enttäuscht wurde. Die Original-Fragen, genaue Hinweis auf die Befragten, die Rohdaten etc. sind aber entscheidend, um eine Umfrage einschätzen zu können.

Aber ist es nicht merkwürdig, dass gleichzeitig mit der „Exklusivität“, die das Finanzministerium großzügig gewährte, genau die Überschrift gewählt wurde, die dem Ministerium am liebsten sein muss? Es hätte ja bei den Antworten auch heißen können – ja müssen: „Deutsche haben kein Vertrauen mehr in Steuergerechtigkeit“. Oder: „Massive Zweifel am Steuersystem“. Genau das würde der Aufgabe entsprechen, die eine freie, kritische Presse hat. Und nicht, die Wunschvorlage für die Regierung zu liefern.

Was soll man denen antworten, die in diesem Zusammenhang auf diese Nachricht verweisen: „Im November hatte der Bundestag mit den Stimmen der großen Koalition aus Union und SPD beschlossen, dass der Staat in die Förderung der Zeitungszustellung in Deutschland einsteigt. Im Haushalt 2020 sind 40 Millionen Euro für Abonnementzeitungen und Anzeigenblätter vorgesehen.“Wie passt das zusammen? Kontrolleur der Regierung – und Empfänger von Almosen von denen, die man kontrollieren soll? Wie soll man bei solcher Wunschberichterstattung wie über die Steuer-Umfrage keine bösen Gedanken haben?

 

Als ich meiner russisch-ukrainisch-jüdischen Freundin von der Umfrage erzählte, lachte sie nur: „Bist du dumm? Kannst du nicht zwischen den Zeilen lesen? Das heißt, die Steuermoral ist enorm tief, die haben das Muffensaußen, und wollen darum jetzt mit solchen angeblichen Umfragen die Stimmung wieder kippen! Fallen die Deutschen da wirklich drauf rein? In Russland würden sie nur lachen…“

Ich habe versucht, Lena entschieden zu widersprechen. Und mich bei dem Gedanken ertappt, dass ich wenig überzeugend war. Ob sie gar nicht so völlig Unrecht hat?

Fragen über Fragen. Und leider, leider, nur eine Gewissheit: Unsere Presse schafft sich ab, wenn sie so arbeitet. Und die Große Koalition und ihre Parteien mit ihr.


David gegen Goliath

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Bild: Pixabay

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