Ein Blick zurück – besondere Nachrichten aus dem Jahr 2020. Hier vom Juni:
Die Autorin dieses Beitrags ist Migrantin mit russischen und jüdischen Wurzeln und studiert an einer deutschen Universität. Um ihr Studium nicht zu gefährden, wahre ich ihre Anonymität.
Neulich hatte ich ein interessantes Gespräch mit meiner Kommilitonin über digitale Lösungen für die von Corona-Folgen betroffenen Kleinunternehmer. Viele von diesen hatten große Einbußen wegen der massiven Einschränkungen. Und es gibt auch viele Initiativen, die den Kleinunternehmern in diesen schweren Zeiten mit ihren Lösungen helfen sollen. Als die Kommilitonin sagte: „Da gibt es viele ‚Akteur-Innen‘, die sich an unterschiedlichen Hilfsinitiativen beteiligen“, dachte ich, ich habe mich verhört. Aber im weiteren Gesprächsverlauf hörte ich immer wieder gut prononcierte „Unternehmer-Innen, Kund-Innen, Mitarbeiter-Innen und Student-Innen“. Weil ich ein höflicher Mensch bin, – und wohlgemerkt auch eine Frau – verkniff ich mir bei jedem solchen Wort das Zucken, dachte aber, dass spätestens jetzt der Zeitpunkt ist, an dem ich über die seltsamen Entwicklungen an meiner Universität schreiben muss, an der ich seit vier Semestern Kommunikationswissenschaften studiere.
An das Gendern in der geschriebenen Sprache, inklusive m/w/d/x/s, bei dem spätestens ab dem „x“ manch einer sich fragt, was all die Buchstaben bedeuten sollen, habe ich mich inzwischen halbwegs gut gewöhnt. Dass jetzt aber der Trend in die gesprochene Sprache geht, finde ich maßlos übertrieben und vom eigentlichen Ziel der Gleichstellung bestimmter Gruppen in unserer Gesellschaft weit entfernt. Ich stellte mir schon seit längerer Zeit die Frage, warum dieses „In“ im sprachlichen Gebrauch ein Maßstab für eine Geschlechter-Diskriminierung darstellen soll. Ich kann mir vorstellen, dass ich jetzt viele entsprechende Kommentare zu meiner Aussage bekommen werde, die mich darauf hinweisen werden, dass allein schon eine solche Fragestellung eine Diskriminierung bedeutet. Meine Frage ist aber vielmehr eine rhetorische. Vielmehr drückt sie eine Hoffnung aus, dass beim Gendern irgendwann vielleicht der gesunde Menschenverstand gewinnen würde.
Ich bin in Russland aufgewachsen und empfand die in unserer Kultur üblichen Umgangsformen der Männer, wie etwa einer Frau einen Mantel zu reichen oder ihr die Tür zu öffnen, schon immer als anständig und sehr angenehm und fühlte mich deshalb niemals benachteiligt. An unserer Uni zucken viele junge Frauen schon, wenn sie mal ein Kumpel zum Kaffee einlädt. In meiner Muttersprache gibt es auch Regeln für weibliche Bezeichnungen von Berufen und gesellschaftlichen Rollen wie Student, Passant etc. Eine Ärztin kann man zum Beispiel „Frau-Arzt“ und eine Ingenieurin „Frau-Ingenieur“ nennen. Diese Regel macht aber die Aussprache umständlich und wird deshalb so gut wie niemals benutzt, weder von Frauen noch von Männern. Und ich habe noch niemals von einer Frau gehört, dass sie darauf bestand, diese Regel für ihre Berufsbezeichnung zu benutzen.
Und obwohl es mir bekannt ist, dass Geschlechtergerechtigkeit in Deutschland andere historische und kulturelle Hintergründe hat als in Russland, finde ich viele Tendenzen bei ihrer Umsetzung im sprachlichen Gebrauch, also das Gendern, maßlos übertrieben bis hin zu überdreht. Ich benutze die weibliche Ausspracheform nur dann, wenn es sich harmonisch anhört oder für die Satz-Bildung gut passt. In Fragen Geschlechtergerechtigkeit und Gendern bin ich kein Experte. Aber als Migrantin mit russischen und judischen Wurzeln und als Frau stelle ich mir folgende Frage: Haben eigentlich diejenigen, die sich mit der Gleichstellung (benachteiligter oder nicht) gesellschaftlichen Gruppen beschäftigen, daran gedacht, dass das bewusste Hervorheben solcher Gruppen im sprachlichen Gebrauch eigentlich das Gegenteil von Gleichstellung bedeuten kann? Wenn ich in einer Stellenanzeige lese, dass Frauen und Migrantinnen bei gleicher Eignung als Bewerberinnen bevorzugt werden, dann wirkt auf mich dieser Passus etwa so: „Du bist zwar nicht so wie wir, und sogar aus zwei Gründen, aber wir sind tolerant und nehmen dich mit in unsere Gesellschaft auf, weil wir gegenüber denen, die nicht so wie wir sind, versuchen, tolerant zu sein.“ Aber nicht nur deshalb empfinde ich solche Hervorhebungen als wahre Benachteiligung der angesprochenen Gruppen. Die Nicht-Hervorhebung der nicht angesprochenen Gruppen wie Männer oder Nicht-Migranten bedeutet für mich ebenfalls eine Benachteiligung: Die Benachteiligung von Männern und Deutschen. Deshalb würde die wahre Gleichstellung für mich bedeuten, wenn man diese Gruppen im sprachlichen Gebrauch überhaupt nicht hervorhebt und mit keinem Wort erwähnt.
Das Gendern an unserer Uni ist aber nicht der einzige Wahnsinn. Seit vier Semestern kämpfen wir mit der „Rechten“-Plage in deutschen Medien und Sozialen Netzwerken. Wussten Sie, dass es viele rechte Medien in Deutschland gibt und dass sie gefährlich an Stärke gewinnen und unsere Meinungsbildung massiv beeinflussen? Ich wusste es bis zum Anfang meines Master-Studiums nicht. Im ersten Semester empfand ich diese These als etwas völlig Neues und verstand nicht, warum ich eine umfangreiche Recherche zu rechten Medien und deren gesellschaftlichen Auswirkungen durchführen soll. Vielleicht habe ich als Ausländerin diese bedrohliche Entwicklung in Deutschland verpasst oder einfach nicht erkannt? Dann muss ich suchen, dachte ich. Ich habe das ganze erste Semester nach dem Rechtsruck in unseren Medien gesucht, mit Lupe und ausgeklügelten Google-Suchanfragen. Das einzige Ergebnis, zu dem ich im Laufe meiner Recherche kam, war, dass deutsche Medien viel mehr eine linke Ausrichtung haben und dass die gesellschaftliche und politische Mitte von links ausgerichteten Medien häufig als nach rechts gerückt wahrgenommen wird. Als ich versuchte, dieses Recherche-Ergebnis meinem Professor in einer Zwischenpräsentation darzustellen, bat er mich, die Ergebnisse umzuschreiben. Er bat mich, ganze Passagen in meiner Präsentation zu ändern. Als ich dem Professor gesagt habe, dass dies aber meine Schlussfolgerungen sind, hat er mir gesagt: „Schreiben Sie sie um!“ Als ich Zitate eines berühmten Medien-Experten, der mir für meine Recherche ein Interview gegeben hat, in die Präsentation mit aufgenommen habe, bat mich mein Professor, diese schlicht zu löschen. Als ich gefragt habe, warum ich die Zitate löschen muss, sagte er mir: „Das ist nur seine Meinung. Das muss raus. Löschen Sie sie!“ Dabei haben wir uns das ganze Semester mit Framing und Gatekeeping als Instrumente der Meinungsbildung beschäftigt. Dass wir diese auch bei einer journalistischen Aufgabe gleich anwenden müssen, war mir nicht klar.
Der Kampf mit dem Rechtsruck in den deutschen Medien ist nicht die einzige Aufgabe, mit der wir uns als angehende Kommunikationsexperten beschäftigen mussten. Der menschengemachte Klimawandel ist das Leitthema unseres Storytelling-Kurses gewesen. Schon in der Aufgabenstellung war es klar, das Klima geht kaputt, daran ist der Mensch schuld und schon eine kleinste bürgerliche Initiative würde zur Rettung des Klimas beitragen. Als viele meiner Kommilitonen in einer Diskussion behaupteten, dass man alles Mögliche zur Rettung des Klimas unternehmen sollte, zum Beispiel Verbote einführen und „Klima-Skeptiker“, die sie in eine Reihe mit Rechtsextremen stellten, bestrafen sollte, stelle ich offen eine Frage, ob dies dann noch eine demokratische Gesellschaft sein würde. Keiner konnte mir die Frage beantworten. Alle schwiegen und ich bemerkte einige verwunderte bis skeptische Blicke in meine Richtung. Ich war erstaunt, warum die Aufgabe von vornherein eine Haltung voraussetzte, der Klimawandel sei menschengemacht. Hat man – so wie ich – eine andere Sicht auf die Rolle des Menschen beim Klimawandel, so war es schlicht nicht möglich, diese Aufgabe zu machen. Ich hatte aber auch, ehrlich gesagt, Angst, meine Sicht zum Thema offen zu äußern. Es war mir klar, dass die Reaktion meiner Kommilitonen dann etwa so sein würde, als wenn ich sagen würde, ich wäre Mitglied bei der AfD.
Haltungen zu haben zu bestimmten Themenbereichen schrieb man uns auch in den nächsten Semestern vor. Dozenten haben uns stets Meinungsfreiheit als das höchste Gut in der demokratischen Gesellschaft und kritischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und politischen Themen als Maßstäbe journalistischer Arbeit gelehrt. Sobald wir aber praktische Aufgaben bekamen, waren diese sofort untersagt.
Nach vier Semestern Kommunikationswissenschaften an einer deutschen Universität habe ich gelernt, dass man eine eigene Meinung nur dann haben darf, wenn sie sich nicht von den allgemein geltenden unterscheidet. Wenn sie sich von ihr unterscheidet, dann gilt man als Andersdenkender und per se als rechts – und das unabhängig vom Thema, sei es Klimawandel, Flüchtlinge oder die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Benutzt man bestimmte Begriffe wie Flüchtling oder Flüchtlingskrise oder gendert man nicht, gilt man als jemand, der die heutigen „Defizite“ und „Probleme“ in Deutschland nicht anerkennt und damit automatisch als Andersdenkender. Das A und O der journalistischen Arbeit wie kritische Auseinandersetzung, Meinungsfreiheit und offener Diskurs gelten nur, wenn man sich im Rahmen des allgemein Anerkannten bewegt. Wird man zum allgemein Anerkannten etwas kritisch, so wird man als Rechter betrachtet. Und wenn meine Universität keine Ausnahme darstellt, sondern es überall in Deutschland so gelehrt wird, dann denke ich, dass das Gendern schon sehr bald das geringste Übel in Deutschland sein wird.
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