Im Rodeo durch den Moskauer Stau

Hitler, Stalin, und die deutsche Sozialhilfe sowie ein leerer Tank: Eine Taxifahrt wie aus einem Abenteuerfilm, die um ein Haar ins Auge gegangen ist. Wobei die russische Hauptstadt mittlerweile gepflegter ist als die deutsche, was mir nach der Rückkehr leider sehr schlagartig bewußt (gemacht) wurde. Mein aktueller „Frontbericht aus Charlottengrad“ – diesmal von der Moskwa. 

 

Nein, ich habe kein Recht, mich zu beklagen. Denn ich habe die Fahrt überlebt. Besser noch: Ich bin völlig unbeschadet aus diesem Abenteuer auf vier Rädern mitten in Moskau herausgekommen. Obwohl es zwischenzeitlich nicht danach aussah. Ja, ich bin aus Berlin ziemlich gestählt, was extreme Erfahrungen angeht. Aber mein Fahrer Michail – nennen wir ihn so, um seine Anonymität zu wahren – sorgt für ein derartiges Maß an Adrenalin, dass ich die atemberaubende Fahrt mit ihm nicht verschweigen kann – und heute einen Extrem-Bericht aus Moskau statt wie üblich aus Charlottengrad schreibe. Noch hoch über den Wolken, in einer Aeroflot-Maschine, und immer noch etwas außer Atem – bei dem Gedanken, dass ich es um ein Haar nicht an Bord geschafft hätte.

Hand aufs Herz: Würde es Sie beruhigen, wenn Ihnen ihr Taxifahrer Sekunden nach dem Einsteigen sagt, dass er den Job erst sieben Tage macht, die Stadt kein bisschen kennt und auch mit seinem Auto noch nicht vertraut ist? Zitat: „Dafür bin ich freundlich und hilfsbereit“. Michail hätte in einer bayerischen TV-Serie über Jugendbanden im München der 1980er Jahre ungeschminkt und ohne Kostümwechsel die Hauptrolle spielen können. Ich habe sechzehn Jahre in Moskau gelebt und gearbeitet, und deshalb habe ich das unterdrückt, was bei anderen Ausländern in so einer Situation wohl überhandgenommen hätte: den Fluchtinstinkt.

 

 

 

 

Vielleicht wäre ich nicht so wagemutig gewesen, wenn ich zu diesem Zeitpunkt schon geahnt hätte, wozu Michail sein Taxi auch noch gebraucht – außer zum Fahren. Aber alles der Reihe nach. Ich hätte eigentlich schon misstrauisch werden sollen, als kurz nach meiner Taxi-Bestellung über die App „Sitimobil“ – eine der vielen russischen uber-Alternativen – ein Anruf vom Fahrer kam, und der mich fragte, ob ich meine Fahrt zum Flughafen Scheremetjewo nicht bar bezahlen könnte statt mit der Karte. Konnte ich nicht, wie sich herausstellte, weil mir die App ein kostenloses „Upgrade» von der Economy-Klasse in die nächsthöhere – „Komfort“ – ausgestellt hatte. Was mich zu diesem Zeitpunkt noch freute.

 

Als ich Mischa mit seinem gelben Skoda Octavia nach einigem Suchen fand, war er damit beschäftigt, die Autositze mit einem Lappen zu reinigen. Dabei hatte er auf einem Fußgängerübergang geparkt. Mischa fragte, ob ich den Weg kenne – weil sein Ladekabel einen Wackelkontakt hatte und er warnte, sein Smartphone und damit der Navigator könnte jederzeit den Geist aufgeben – was natürlich später auch geschah.

 

Als wir nach diversen Versuchen, den Wackelkontakt zu besiegen, endlich starteten, musste fast eine Fußgängerin daran glauben – die den Fußgängerübergang nutzen wollte, den er blockierte. Michail spielte mit der resoluten Dame eine russische Version des Dressur-Reitens. Beide vor – beide zurück. Als sie am Motor vorbei wollte, wich er ihr nach vorne raus – und umgekehrt. „Bist Du betrunken?“, schimpfte die alte Dame. Er war es wohl nicht. Aber es war mindestens genauso schlimm.

 

Schon die Abfahrt auf den Gartenring um das Zentrum der russischen Hauptstadt fand Michail erst nach drei Hinweisen von mir – den schrie ich regelrecht, im Stakkato. Seine Gaspedalführung war binär – voll drauf oder voll runter. Für mich auf der Rücksitzbank brachte das ein Rodeo-Erlebnis. Aber er war tapfer. Als er fälschlich auf die Abbiegespur Richtung Friedens-Prospekt geriet, konnte ihn das nicht entmutigen. Er machte zwar die Abbiegespur für die hinter ihm hupenden anderen Autos frei – aber um den Preis, dass er dafür ein paar Meter in die gigantische Kreuzung mit ihren gefühlten 18 Spuren einfahren musste. Viele russische Autofahrer scheinen das Steuer so zu beherrschen wie Diamantenschneider ihr Handwerkszeug, und so blieben wir untouchiert, obwohl ich mindestens zweimal hätte schwören können, dass es zum Crash kommt, und mir schon die Folgen ausmalte.

 

Michail legte dann einen Formel-1-Start hin, der mich heftig in die Rückenlehne drückte. „Schnell weg“, sagte er: „Sonst könnte mich das den Führerschein kosten.“ Wenigstens wusste ich nun, dass er offenbar einen hatte. Als er erfuhr, dass ich aus Deutschland komme, geschah das (leider in Russland oft) unvermeidliche: Der Name Hitler fiel. Nein, gar nicht so, wie Sie nun wahrscheinlich meinen. Voller Hochachtung. Der Mann sei doch gar nicht so schlecht gewesen, meinte Michail. Ich erspare mir, zu beschreiben, was ihm an Hitler gefällt, und was er von den Opfern Hitlers hält. Antisemitismus ist leider auch in Russland keine Ausnahme.

 

Erstaunt war ich dann allerdings, als ich erfuhr, dass Hitler nach Kriegsende auf einem U-Boot entkommen sei. Mit

 

einer 17-jährigen, mit der er…nun ja, wie soll ich sagen, Michail machte eine sehr eindeutige Handbewegung, die nicht jugendfrei war. Und uns auf Kollissionskurs mit dem Mercedes auf der Nachbarspur brachte. Hitlers Werk werde schon noch vollbracht werden, fügte Michail hinzu, und mein Entsetzen wurde nur dadurch gemindert, dass ein großer Teil meines Nervenkostüms damit beschäftigt war, eine erneute Kollision mit einem Auto auf der Nachbarspur vorzuahnen. Die abermals ausblieb.

 

Michail erzählte mir von seinem Lieblingssender auf youtube, der sich dem Übersinnlichen widmet. Die Autoren dort sprechen nicht nur mit Hitler, auch mit Stalin. Das brachte uns den ersten Umweg ein, weil sich Michail so in die Erzählung versteigert hatte, dass er die Abbiegung an der Nowoslabodskaja verpasste.

 

„Wir hätten da rechts gemusst“, sagte ich zaghaft, „aber macht nichts, dann fahren wir über die Twerskaja“. Stalin sei gesprächiger als Hitler, erfuhr ich, und prompt fuhr Michail um ein Haar an der Abbiegespur vorbei, konnte sich aber in letzter Sekunde noch mit Brachialgewalt vor einen Laster drücken, was zu heftigen bilateralen Beschimpfungen führte. Ich hatte mich erst wenige Tage zuvor von einem anderen Taxifahrer lange über Hitler belehren lassen müssen – der behauptete, Putin richte seine Heimatregion schlimmer zugrunde als es Hitler getan habe (wobei mein Widerspruch sich als zwecklos erwies).

 

Auf der Twerskaja versuchte ich sachte, das Gespräch von Hitler und Stalin wegzulenken – vor allem, weil er sich dabei derart in Rage redete, dass er sich immer wieder zu mir auf die Rücksitzbank umdrehte, und wir mehrere Male um ein Haar Blechkontakt mit den Autos vor uns gehabt hätten. Michail erzählte, dass er aus Wolgograd kommt. Wie die Lage dort sei, fragte ich ihn. Gut, meinte er. Auf meine Rückfrage, warum er dann nach Moskau gekommen sei, wurde er zum ersten Mal in der ganzen Fahrt leicht wortkarg. „Ich habe Probleme mit dem Gesetz gehabt“, brummte er leise vor sich hin: „Ich bin immer zu gutmütig, und viele nutzen das dann aus, halten mich für blöd.“ Er war bei der Drogenpolizei, nur wenige Monate, sagte er – und dann hätten ihm seine Kollegen selbst Drogen untergeschmuggelt, um ihn dran zu kriegen. So sagte er das zumindest.

 

Er sei eigentlich gelernter Koch, fügte er hinzu, aber noch besser als Bauarbeiter, er könne eigentlich alles, denn er habe goldene Hände, versicherte Michail – wobei sie das am Steuer definitiv nicht waren. Da war eher der Bleifuß vorherrschend, und ein Spurverhalten, das einem Pendel glich. Ich sagte mir, dass es die gerechte Strafe des Schicksals war, weil ich mich nach der Ankunft insgeheim beklagt hatte, dass mein Fahrer nur mit Tempo 50 bis maximal 60 über die Autobahn schlich (wohl, um seine Predigt zu verlängern – weil er mich aufklärte, dass Gottes Reich in Kürze komme, und dass Putin vom Westen fremdgesteuert sei und die Krim im Auftrag der Amerikaner besetzt habe, was er dann sehr lange ausführte, aber keine Angst – ich verschone Sie hier damit).

 

Zusammen gerechnet – Ankunft und Abflug – hatten die beiden Taxis jedenfalls eine gute Durchschnittsgeschwindigkeit. Michail fragte mich, wie er eine Arbeit in Deutschland bekommen könne – „wegen der Probleme mit dem Gesetz wäre das ganz praktisch“. Er fing solches Feuer an der Idee, dass wir die Abfahrt von der Leningrader Chaussee nach Norden verpassten und Richtung Westen rausfuhren. Auch an der ersten Wendemöglichkeit fuhr Michail zielsicher vorbei. Ob er mich mit dem Auto nach Berlin bringen wollte insgeheim? Um dann auch gleich eine Arbeit aufzunehmen?

 

Als ich Michail erzählte, wie hoch die Sozialhilfe in Deutschland sei, war der Eifer vollends entbrannt: „So viel verdiene ich hier nie!“ Vielleicht hätte ich ihm erzählen sollen, dass russische „Reiseagenturen“ Hilfe beim „Asyl in Deutschland“ anbieten, „passende Fluchtgeschichte“ inklusive. Auch eine Ratenzahlung für ihre Dienstleistung aus den späteren Sozialhilfe-Zahlungen in Deutschland wird angeboten. „So viel Geld vom Staat, ohne arbeiten zu müssen?“ – Michail drehte sich wieder um zu mir, mit weit offenem Mund – er glaubte, ich erzähle ihm Märchen. „Schauen Sie lieber nach vorne“, antwortete ich ihm zaghaft.

 

Das tat er – und musste feststellen, dass nun endgültig sein Ladekabel versagt hatte, und damit auch das Smartphone und der Navigator. Er versuchte hastig, an beiden Enden des Kabels zu hantieren, was aber dazu führte, dass er das Lenkrad vernachlässigte, und unseren Wagen immer wieder in leichte Schlangenbewegungen brachte. Zweimal musste ich laut „Vorsicht“ schreien, um ihn wieder auf Kurs zu bringen.

 

Ich bat ihn, nicht mehr mit dem Kabel zu hantieren: „Ich kenne den Weg, ich habe 16 Jahre in Moskau gelebt“. Jetzt bemerkte ich, dass seine Hände so schwarz waren, als ob er gerade eigenhändig alle vier Reifen gewechselt hatte. Auf Nachfrage antwortete er, dass er sich schon lange nicht mehr habe waschen können. Und fügte dann hinzu: „Sie wollen nicht wissen, wo ich jetzt schlafe hier in Moskau“. Doch, ich wollte es. „Hier im Auto“, sagte er traurig, und drehte sich schon wieder zu mir um: „Heute Nacht nur drei Stunden Schlaf, ich bin fix und fertig“. Was man ihm auch ansah. Ich kam gar nicht dazu, mir wegen seines Schlafmangels Gedanken zu machen: „Bremsen!“, schrie ich, weil wir wieder ganz nah an das Auto vor uns gekommen waren.

 

Mehrmals bat mich Michail, ihm mein Smartphone zu geben, für die Navigation. Ich redete mich raus, dass ich lieber selbst für ihn navigiere. Gut, ich gebe es zu, das mag sehr deutsch gewesen sein – aber ich wollte nicht unbedingt mein Gerät in die lange ungewaschenenen Händen legen, denn danach wäre eine General-Desinfizierung nötig gewesen.

 

Im Slalom fädelten wir auf den Moskauer Autobahnring ein und ich überredete Michail, die Mautstraße zum Flughafen zu nehmen. Das war schwer, weil er mehrfach meinte, der Preis, 320 Rube

 

l und damit umgerechnet rund 4,50 Euro, sei zu teuer. Ich stach schließlich mit dem Argument, dass ich die natürlich selbst bezahlen werde – und wir zehn Minuten Stau vermeiden könnten.

 

Ich ahnte zu diesem Zeitpunkt nur von einem weiteren Vorteil der Mautstraße – aber nicht von dem, der, wie sich wenig später herausstellte, wohl meinen Abflug rettete. Jedenfalls war die gähnende Leere auf der Mautstraße weitaus besser kompatibel mit Michails Slalom-Fahrstil. Als ich anfing, mich zu entspannen, fragte er, ob bald eine Tankstelle komme. Ich ahnte Schlimmes. Und tatsächlich: Die Tankanzeige drohte damit, dass nur noch für 10 Kilometer Sprit da war. Und die Entfernung zum Flughafen Scheremetjewo war nur unwesentlich geringer.

 

„Ich weiß es nicht“, sagte ich entgeistert, und stellte mir bereits vor, wie ich zu Fuß mit meinem Gepäck über die Autobahn zum Flughafen renne. Vor der Mautstation sprang die Anzeige auf „5 Kilometer“. Ich hatte Schweiß auf der Stirn. Michail schien dagegen entspannt und fragte weiter nach den Bedingungen für Sozialhilfe in Deutschland. Er hatte offenbar Feuer gefangen.

 

Die Fahrt zog sich für mich hin wie in Zeitlupe, alles ging viel zu langsam. Sobald das Flughafengebäude in Sichtweite kam, atmete ich etwas auf. Von hier aus würde ich es sicher schaffen zu Fuß. Als wir uns der Auffahrtsrampe näherten, muss ich vor Glück gestrahlt haben. „Ich drücke Ihnen die Daumen, dass Sie gleich eine Tankstelle finden, wenn Sie mich abgesetzt haben“, sagte ich Michail.

 

Ja, antwortete er freundlich, aber das löse sein Problem nur bedingt. „Warum?“, fragte ich nach. „Na ja“, meinte er schüchtern und drehte sich schon wieder weg von der Fahrbahn zu mir: „Ich habe Sie nicht umsonst gefragt, ob Sie in bar bezahlen können. Alle zahlen per Kreditkarte, und ich habe überhaupt kein Geld mehr flüssig für Benzin.“

Er bot mir an, meine zwei kleinen Taschen noch für mich ins Terminal zu tragen, und sagte, es tue ihm so leid, dass er kein Geschenk aus Wolgograd dabei habe, er würde mir so gerne etwas schenken. Ich habe lange genug in Russland gelebt, um den Wink zu verstehen. Ich drückte ihm zum Abschied einen dicken Rubelschein in die Hand. Er wäre mir um ein Haar um den Hals gesprungen aus Dankbarkeit, was ich aber höflich, doch bestimmt vermeiden konnte.

 

„Überstanden“, dachte ich mir – und ertappte mich bei dem Gedanken, dass ich mich – dank Michail – auf Berlin freute – während ich sonst auf dem Rückweg von Moskau oft etwas wehmütig bin, weil die Spree-Metropole im Vergleich zu der herausgeputzten russischen Hauptstadt doch etwas sozialistisch-heruntergekommen daher kommt (mehr dazu hier).

 

P.S.: Ich war naiv. Ich hätte ahnen müssen, dass Berlin mich wieder so empfangen würde, dass ich mich zurück nach Moskau wünschte – doch davon mehr in der Fortsetzung, dem nächsten „Frontbericht aus Charlottengrad“ – bzw. in diesem Fall dann Berlin-Schönefeld – hier auf der Seite.

 

 

P.P.S.: Ob es Michail noch zur Tankstelle geschafft hat, weiß ich nicht. Aber es gibt Indizien dafür. Er hatte meine Telefonnummer, und ich habe ihm gesagt, er solle mich anrufen, wenn er Schwierigkeiten habe. Zwei Stunden später war noch nichts von ihm zu hören. Natürlich wäre nun beinahe täglich mit einem Anruf von ihm zu rechnen – aber seit dem Einsteigen ins Flugzeug habe ich meine russische Handynummer nicht mehr eingeschaltet.

 

P.P.P.S.: Geschichten aus Russland sind für Deutsche oft so unglaublich, dass mein guter Freund, der leider inzwischen verstorbene Schriftsteller und Satiriker Wladimir Woinowitsch, der lange in München lebte, dazu augenzwinkernd eine eigene Theorie aufgestellt hat: „Ich bin überzeugt, dass Münchhausen ein völlig ehrlicher Mensch war, der nur als Lügenbaron verleumdet wurde, weil er lange in Russland war und dann in Deutschland erzählte, was er dort erlebt hatte. Die Deutschen können sich nämlich beim besten Willen nicht vorstellen, dass das, was man in Russland erlebt und ihnen dann erzählt, wahr sein kann. Unsere Realität übertrifft selbst die Vorstellungkraft der Deutschen.“ Auch Woinowitschs satirischer Roman „Moskau 2042“ wurde teilweise von der realen Entwicklung in Russland fast übertroffen.

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