Impfpflicht über alles! Mit fragwürdigen Instrumenten jenseits der Demokratie

Von Prof. Dr. Thomas Rießinger

Immer häufiger kriechen sie nun aus ihren Löchern, die Freunde des totalitären Denkens und Handelns, und bringen das ans Licht, was sie bisher im Dunkeln gehalten hatten. Man erinnert sich noch gerne an die Worte des so unvergleichlichen wie unverzichtbaren Weltärztepräsidenten Montgomery von der „Tyrannei der Ungeimpften“, später noch ergänzt durch jene informative Aussage:

„Übrigens, diese Impfstoffe sind die sichersten, die bestverträglichsten Impfstoffe, die wir jemals entwickelt haben.“

Bisher war mir gar nicht klar gewesen, dass Montgomery, wie das Wort „wir“ impliziert, bei der Entwicklung der Impfstoffe mitgewirkt hatte, aber das habe ich wohl wie die meisten anderen übersehen. Doch nach der Entwicklung scheint er das Produkt nicht mehr so genau beobachtet zu haben, vielleicht ist er aber auch einfach nicht in der Lage, die international vorhandenen Daten zu Impfnebenwirkungen zu verstehen – wer will das entscheiden bei einem so vielbeschäftigten und wichtigen Mann!

Das ist nicht alles, zu höchster Form läuft der Ärztepräsident erst auf, wenn es um rechtliche Fragen geht: „Was mich jetzt aber bewegt ist: Die Hütte brennt und mir ist völlig egal, auf welchem Rechtskonstrukt jetzt dieser Werkzeugkasten zusammengebaut ist. Ich will jetzt endlich loslegen.“ Ja, loslegen wollten schon viele in der Geschichte, und manch einer hat es getan, ohne sich um Lächerlichkeiten wie den Rechtsstaat zu kümmern; auch die deutsche Geschichte ist nicht frei von solchen Aktivitäten. Dass es hierzulande ein Grundgesetz gibt, das nicht nur bei schönem Wetter und angenehmen Verhältnissen Gültigkeit hat, sondern auch bei Sturm und in Krisenzeiten – das muss einen Denker wie den Ärztepräsidenten nicht stören, es hält ihn ja nur davon ab, endlich loszulegen, egal ob er das Grundgesetz damit vernichtet oder nicht. Gäbe es noch ein Amt für Verfassungsschutz, das diesen Namen verdient, würde es wohl Montgomery ins Blickfeld nehmen.

Aber auch andere wichtige und sich wichtig nehmende Akteure betreten die Bühne, Volker Bouffier beispielsweise, hessischer Ministerpräsident seit 2010, weil sein Amtsvorgänger Roland Koch damals keine Freude mehr an politischer Betätigung verspürte und zurücktrat. Die Hessenschau hat ihm die Möglichkeit gegeben, sich zu äußern: „Ich habe gestern ja zum Ausdruck gebracht“, hören wir da, „dass ich der Überzeugung bin, dass, wenn wir wirklich Corona dauerhaft in den Griff kriegen wollen und nicht von einer Welle zur nächsten uns entwickeln, dass dann an einer Impfpflicht aus meiner Sicht kein Weg daran vobeigeht.“ Wie das funktionieren soll, bleibt ein wenig unklar, denn auch Influenzaviren hat man noch durch keine Impfung der Welt „dauerhaft in den Griff“ bekommen, und erstaunlicherweise ist es nicht ungewöhnlich, dass mit schöner Regelmäßigkeit eine Influenza-Welle der nächsten folgt. Aber hören wir weiter zu.

„Die Grundsituation ist doch die: Die Virologen und die Mediziner sprechen schon jetzt von der fünften Welle, nicht von der vierten, von der fünften, von der sechsten.“ Das mag schon sein. Der Virologe Christian Drosten sprach beispielsweise im April 2020 von der epidemischen Lage in Afrika und drückte die Überzeugung aus, man werde „Bilder sehen in der Zeit zwischen Juni und August, die wir nur aus Kinofilmen kennen. Da wird es Szenen geben, die wir uns so heute nicht vorstellen können. Und ich bin mir nicht sicher, was das dann bei uns auslöst.“

Geschehen ist in Afrika tatsächlich nicht viel, weshalb sogar der Spiegel von einem afrikanischen Corona-Wunder spricht. Nur weil Virologen irgendetwas über die Zukunft sagen, muss es noch lange nicht eintreten. Zudem hätte man doch gerne Genaueres gewusst: Welche Virologen sprechen da von welcher Art Wellen? Soll es sich bei der fünften, sechsten und allen nachfolgenden Wellen – die Folge der natürlichen Zahlen lässt reichlich Platz nach oben – um Wellen positiv Getesteter handeln, um Wellen tatsächlich Infizierter oder gar Erkrankter, um Wellen schwer Erkrankter oder Verstorbener? Bouffier verrät es uns nicht, und die Vermutung drängt sich auf, dass er es schlicht nicht weiß, wie er auch vermutlich nichts darüber sagen könnte, auf welchen Grundlagen die angedeuteten Prognosen beruhen. Sollte es sich wieder einmal um die berühmt-berüchtigten Modellrechnungen handeln, die viel über die Modellierer und wenig über die Wirklichkeit verraten? Wir wissen es nicht, niemand sagt es uns. Der Ministerpräsident spricht so, wie es der Ministerpräsident versteht.

„Corona wird bleiben“, führt er weiter aus, „und wir haben zwei Möglichkeiten. Entweder wir gehen von Welle zu Welle, schränken jedesmal wieder ein, oder es gelingt uns, den Impfstatus zu erhöhen. Wenn wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass alles das, was wir bisher versucht haben, jedenfalls nicht hinreichend ist, dass wir eine höhere Zahl bekommen, … dann glaube ich, ist es richtig, dass man zu einer Impfpflicht kommt.“

„Ich werde ihm ein Angebot machen, das er nicht ablehnen kann“, sagt Don Vito Corleone im berühmten Film „Der Pate“. Und wie seltsam: Die gleiche Methode findet man auch hier. Denn wir haben ja nur zwei Möglichkeiten. Entweder das Spiel geht so weiter wie bisher oder „es gelingt uns, den Impfstatus zu erhöhen“, und sei es auch um den Preis einer Impfpflicht. Aber ist diese Alternative real? Nein, das ist sie nicht, und Bouffier verschweigt in schönster Politiker-Manier alles Relevante. Er könnte beispielsweise nach Gibraltar blicken, nach Island oder in manche Teile Irlands, um festzustellen, dass eine enorm hohe Impfquote keineswegs automatisch mit einem Rückgang der sogenannten Inzidenzen einhergeht, auf die man in politischen Kreisen immer so gerne verweist, sondern auch von einer drastischen Steigerung begleitet werden kann. Er könnte sich nach der augenblicklichen Lage in Schweden erkundigen, um zu bemerken, dass eine Impfquote in der Größenordnung der deutschen keineswegs automatisch mit einem Schreiten von Welle zu Welle verbunden ist. Er könnte die aktuellen Daten aus Indien zur Kenntnis nehmen, wo man derzeit eine Positivenrate von 0,9 % verzeichnet – im Mai lag man immerhin einmal über 22 % –, obwohl dort gerade einmal 29 % der Bevölkerung mit einer vollständigen COVID-19-Impfung versehen sind. Und er könnte sich von seinen Virologen und Medizinern, die er so freudvoll zitiert hat, einmal die Ergebnisse einer Studie im European Journal of Epidemiology erläutern lassen, der man entnehmen kann, dass auf der Basis von 68 untersuchten Staaten keine ernstzunehmende Beziehung zwischen der Impfquote und der Anzahl neuer Covid-Fälle feststellbar ist. (Lesen Sie auch den Artikel auf reitschuster.de hierzu.)

Seine Alternative, sein Angebot, das man nicht ablehnen kann, beruht darauf, dass er wichtige Informationen verschweigt, weil sie ihm nicht ins Konzept passen. Es geht ihm nicht um die Gesundheit der Menschen, denn in diesem Fall hätte er doch vielleicht einmal einen Blick auf die vorhandene Evidenz geworfen oder doch wenigstens werfen lassen. Es geht ihm nur darum, seine Agenda um jeden Preis durchzusetzen, indem er die Menschen staatlich angeordneten Zwangsmaßnahmen unterwirft.

Bouffier ist nicht der einzige Ministerpräsident mit einer gewissen Freude an totalitären Ideen. Auch Markus Söder, der erfolglose Kraftmensch aus Bayern, und Winfried Kretschmann, der seine Gesinnung hinter seinem sympathischen Dialekt verbirgt, haben sich ebenfalls in aller Deutlichkeit geäußert. „Eine Impfpflicht ist kein Verstoß gegen die Freiheitsrechte“, teilen sie uns mit. „Vielmehr ist sie die Voraussetzung dafür, dass wir unsere Freiheit zurückgewinnen.“ Man steht voller Erstaunen vor dieser argumentativen Leistung. Denn was wollen uns diese Worte sagen? Zuerst entzieht man den Menschen ihre Freiheit, die ihnen nicht etwa von Staats wegen gewährt wurde, sondern von Rechts wegen allein aufgrund ihrer menschlichen Existenz zusteht, schränkt massiv ihre Grundrechte ein, die kein Geschenk der Ministerpräsidentenkonferenz sind, sondern nicht grundlos Grundrechte heißen – um ihnen dann mitzuteilen, die Einführung einer Zwangsmaßnahme sei eine Voraussetzung dafür, eben diese Freiheit, eben diese Grundrechte zurückzugewinnen, die man den Menschen niemals hätte stehlen dürfen.

Manch einem Leser von Kriminalromanen mag so etwas bekannt vorkommen: Es handelt sich um die klassische Kidnapperlogik. Der Kidnapper entführt sein Opfer, entzieht ihm also die Freiheit, und verlangt eine gewisse Summe, die ganz in seinem willkürlichen Belieben steht, um das Opfer wieder in die Freiheit zu entlassen. Wird diese Summe verweigert, stellt er sich dann gerne auf den Standpunkt, er könne ja nichts dafür, dass er sein Opfer weiter knechten müsse, denn schließlich sei die pünktliche Zahlung die Voraussetzung dafür gewesen, die Freiheit zurückzugewinnen. Das Muster ist das gleiche, in Zukunft kann sich jeder Kidnapper mit einem gewissen Recht auf die Prinzipien der Gesundheitspolitk berufen.

Verachtung des Rechtsstaates, Angebote nach Corleone-Art, die man nicht ablehnen kann, und Kidnapperlogik. Das sind die Verfahrensweisen, derer man sich auf dem Weg zur Impfpflicht bedient. Es sind nicht die Verfahrensweisen eines demokratischen Rechtsstaates.

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Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.

Bild: Shutterstock
Text: Gast

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