Lockdown für die einen, Feste feiern für die anderen? Eine Komödie der Fehler: Corona und Parallelgesellschaft

Ein Gastbeitrag von Sonja Margolina

„Wir wollten nur das Beste, aber es kam so wie immer.“ – So brachte der russische Ministerpräsident Wiktor Tschernomyrdin im Jahr 1993 die Arbeit seines Kabinetts auf den Punkt. Inzwischen beschleicht einen das Gefühl, dass sich auch deutsche Entscheidungsträger in der Corona-Krise diesen Satz zu eigen gemacht haben. Nach dem ersten Lockdown hatte man von Handel, Gastronomie, Theater, Museen und anderen im März geschlossenen Branchen verlangt, Schutzkonzepte zu entwickeln. Nachdem die Bedingungen erfüllt worden waren, wurden sie während der zweiten Corona-Welle trotzdem geschlossen.

Auch mit Impfstoffen und ihrer Verabreichung wollte man es besser machen, aber es geschah „wie immer“. Statt Impfstoffe schnell zu bestellen und sofort mit dem Impfen zu beginnen, gab man, um höherer Gerechtigkeit willen, die Verantwortung an Brüssel ab, mit inzwischen bekannten Folgen. Als Impfstoffe endlich geliefert wurden, durften Ärzte, die am besten impfen können und die die Vorerkrankungen ihrer Patienten kennen, trotzdem nicht impfen, bevor die Politik nun Gnade walten ließ und ihnen erlaubte, nach Ostern 20 Dosen pro Woche zu verabreichen. Vom Kunststück mit AstraZeneca einmal abgesehen. Inzwischen gibt es einen Impftourismus nach Russland, und Sputnik wird in mehreren EU-Staaten verabreicht.

Die Komödie der Fehler droht unendlich weiter fortgesetzt zu werden, lustig ist sie nicht. Im Gegenteil, die Entwicklung ist tragisch, denn für abgehängte Jugendliche, für Millionen Mittelständler, deren Existenzen bereits vernichtet sind oder auf der Kippe stehen und für ganze Industriezweige verspricht sie wenig Gutes. Der Verrat an den Kindern kommt einer Absage an die Zukunft gleich. Zudem führen die bislang getroffenen Entscheidungen vor Augen, dass die Entscheidungsträger zwar Wissenschaft predigen, aber diese nur zur Bestätigung ihrer Ideologie benutzen, wenn auch nicht erst seit der Pandemie. Denn die Funktion der Ideologie bestand immer darin, argumentiert der große Soziologe Niklas Luhmann, „das Handeln zu orientieren oder zu rechtfertigen“. Damit sie aber nicht als bloßer (Irr-)Glaube erscheine, versuche sich Ideologie mit Hilfe wissenschaftlicher Expertise eine Legitimation zu verschaffen.

Um ihren ausschließlichen Geltungsanspruch und das Handeln zu orientieren oder zu rechtfertigen und zu untermauern, so Luhmann, privilegiere „Ideologie eine bestimmte Kausalwirkung von Ursachen und Folgen“ und neutralisiere „alternative Erklärungsversuche“ (Ideologie und Wahrheit, 1962).
In der Tat haben „alternative Erklärungsversuche“ nicht nur in der Klimapolitik einen schweren Stand und werden als Häresie stigmatisiert. Die Covid-Pandemie bietet dafür nicht weniger Spielraum. Doch ein Jahr nach deren bislang mäßig erfolgreicher Eindämmung verliert die herrschende Ideologie an Legitimation, und „alternative Erklärungsversuche“ brechen sich Bahn.

Rechnung ohne den Wirt

Ein Beleg dafür sind die an die Öffentlichkeit gelangten Ergebnisse der Telefonkonferenz von RKI-Chef Lothar Wieler mit Chefärzten deutscher Kliniken. Ärzte, die sich im Epizentrum der Epidemie befinden, bestätigten, dass 50 bis 90 Prozent der Covid-Intensivpatienten einen Migrationshintergrund hätten, um vieles höher als ihr prozentualer Anteil an der Bevölkerung. Darüber wurde von vielen Printmedien, unter anderem in Bild, Focus und zuletzt der Zeit berichtet.

So zitiert die Zeit vom 18. März den Chefarzt einer Lungenklinik im nordrhein-westfälischen Moers, die seit vergangenem November bei Schwerstkranken einen Anteil von 40 bis 50 Prozent an Patienten hatten, die „nicht oder sehr schlecht Deutsch sprechen“.

Auch in Nachbarländern ist die Lage ähnlich. Auf schweizerischen Intensivstationen, so wird die Baseler Zeitung im Focus zitiert, hätten beinahe 70 Prozent der Corona-Patienten einen Migrationshintergrund. Der österreichische Intensivmediziner Burkhard Gustorff bestätigte diesen Trend und erklärte, „in seiner Wiener Klinik würden Migranten rund 60 Prozent der Corona-Intensivpatienten ausmachen“.

Diese Zahlen entfalten eine schockierende Wirkung. Denn sie vermitteln den Eindruck, dass eine Minderheit – Menschen mit Migrationshintergrund – von der Pandemie besonders schwer betroffen sei und zugleich als „Superspreader“ fungiere. Genauere Angaben über die Herkunft der Patienten gibt es jedoch nicht, weil Krankenkassen in Deutschland diese Daten nicht erheben dürfen.

Trotzdem werfen derart hohe Abweichungen der relativen Anzahl der Schwererkrankten und Intubierten mit Migrationshintergrund von den Durchschnittwerten in der Gesamtbevölkerung Fragen nach den Hintergründen auf.

Von den Medien werden dafür in der Regel das Armut-Narrativ und beengte Wohnverhältnisse bemüht. Zweifelsohne ist der Zusammenhang zwischen Armut, Gesundheitszustand und Ansteckungsgefahr historisch belegt und eigentlich ein Common Sense. Andererseits widersprechen Rituale wie Massenhochzeiten, üppige Feste und kollektive Urlaubsreisen in die Heimat der Vorstellung von Armut, die für eine typische europäische Kernfamilie oder für ein Individuum gelten.

Meldungen wie diese stellen das Armut-Narrativ in Frage: Bürgermeister und Landräte verschiedener Ortschaften bestätigten, dass Corona-Ausbrüche oft von Großfamilien ausgegangen seien. Auf einer Intensivstation in Süddeutschland gehörten fast 90 Prozent der Intensivpatienten zu Familienclans: „Corona-Infektionen bei Göttinger Großfamilie“ und „Clan-Beerdigung in Essen: 750 Trauernde“. Oder: „Polizei löst illegale Hochzeitsfeier mit fast 60 Personen auf.“ Ort des Geschehens war ein Haus in Duisburg-Marxloh, ein sozialer Brennpunkt mit hohem Migrantenanteil. Die Gäste feierten ohne Abstand, viele trugen keine Maske.

Vielleicht lässt sich „Armut“ in generationenübergreifenden Verbänden anders bewerten als in einer individualisierten Gesellschaft.

Die „Privilegierung“, also Gewichtung von sozial-ökonomischen Erklärungen, scheint hierbei eher im Sinne der Luhmann‘schen „Neutralisierung“ anderer, womöglich nicht weniger bedeutender Ursachen zu geschehen.

Die Vermutung liegt nahe, dass nicht nur primär „Armut“, sondern ebenso tradierte, aus den Heimatländern mitgebrachte Wertvorstellungen und Sitten für die hohe Ansteckungsrate in migrantischen Milieus verantwortlich sein könnten. Parallelgesellschaften sind deshalb parallel, weil sie sich mit der Gesellschaft des Gastlandes – vermutlich ist dieser Begriff bereits nicht mehr en vogue – nicht überschneiden. Sie ignorieren Normen und Werte der Gesellschaft, die während der Pandemie Menschenansammlungen verbieten: die Party in einer Shisha-Bar, ein Grünkohlfest, eine „osteuropäische Hochzeitsfeier“ für tausend Personen oder die von der Polizei geschützte Bestattung eines Clanchefs während eines Lockdowns.

Nach der Angabe des RKI fände die Ansteckung überwiegend im Privatbereich statt. Das Problem ist, dass das Private in Parallelgesellschaften seine Grenzen anders zieht.

Demonstrationen der Überlegenheit und Verachtung

Naiv ist auch die Vorstellung, dass migrantische Milieus aufgrund von Sprachbarrieren keine Information erhalten und sich deshalb nicht an die vorgeschriebenen Beschränkungen halten würden. Es wird argumentiert, dass sie sich, würden sie in ihren Sprachen aufgeklärt, besser hätten schützen können. Aufklärung ist nie verkehrt, doch wie viele dadurch ihr Verhalten ändern würden, steht auf einem anderen Blatt. Wenn der Staat das falsche und für die Gesellschaft gefährliche Verhalten nicht sanktioniert, fehlt die Motivation, sich anzustrengen. Die Aufrechterhaltung kollektiver Rituale dient indes der Bestätigung überkommener Hierarchien und Machtverhältnisse innerhalb der Großfamilien und schert sich nicht um die Regel der Außenwelt. Eher fordern sie diese heraus, wie auf den Straßen der Großstädte immer wieder vorgeführt wird. Ereignisse wie Massenhochzeiten und Trauerfeiern während des Lockdowns, wenn der Großteil der Gesellschaft nicht einmal seine Familienmitglieder einladen darf, sind Demonstrationen der Überlegenheit und Verachtung.

Vor diesem Hintergrund scheinen viele Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Infektion ins Leere zu laufen. Jedenfalls entpuppen sich die abermalige Schließung von Kulturstätten wie Theatern, Museen, Konzertsälen, aber auch von Handel und Gastronomie als wirkungslose und irreführende Ersatzhandlung. Da wird die Rechnung ohne den Wirt gemacht.

Denn verboten werden just solche Aktivitäten, an denen der Großteil der Migranten nicht teilnimmt, während Gruppen, die sich an staatliche Regulierungen nicht gebunden fühlen, sich frei über die Staatsgrenzen bewegen und ihren gewohnten Alltag fortsetzen können. Zu dem Preis freilich, dass sie sich in ihren Heimatländern, z. B. im Westbalkan, infizieren und damit die Rückreise antreten. Anders wäre die gravierende Überzahl der Migranten unter Intensivpatienten nicht zu erklären.

Die Entscheidungsträger nehmen anscheinend nicht zur Kenntnis, dass, wenn nicht alle, dann jedoch ein Großteil der Bürger bei der Ausbreitung der Covid-Infektion eine relativ überschaubare Rolle spielen. Dort, wo das Infektionsgeschehen vermehrt stattfindet, schaut der Staat weg. Das zu erkennen, hätte der sinnfreien Zerstörung der Kultur und des gesellschaftlichen Wohlstands Einhalt gebieten können. Vor diesem Hintergrund erscheint auch der schwedische Weg in einem anderen Licht. Vermutlich war es den pragmatischen Schweden rechtzeitig gelungen, ihre beschränkten Möglichkeiten bei der Eindämmung der Infektion in Migrantenvierteln frühzeitig zu erkennen. Da sie in diese Kreise ohnehin kaum hineinwirken konnten, sahen sie von starken Einschränkungen für die gesamte Bevölkerung ab. Es ist unwahrscheinlich, dass der humane, soziale und wirtschaftliche Preis dafür höher ausfallen wird als in der Bundesrepublik, die es besser und gerechter machen wollte.

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

 

Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

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Sonja Margolina, geboren 1951 in Moskau, ist eine russisch-deutsche Publizistin und Schriftstellerin. Ihr Buch „Russland: Die nichtzivile Gesellschaft“ ist für mich das beste Werk über die Sowjetunion. Für mich ist sie eine der großen Denkerinnen unserer Zeit – und ich bin sehr stolz, heute diesen Gastbeitrag von ihr auf meiner Seite zu haben. Die Bücher von Sonja Margolina empfehle ich auf das Wärmste (zu finden sind sie hier).

Bild: hinterhof/Shutterstock
Text: Gast 

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