Die Geschichte war von Anfang an merkwürdig. Gesundheitsminister Karl Lauterbach wusch immer wieder seine Hände in Unschuld, nachdem das Robert Koch-Institut völlig unerwartet am 15. Januar über eine Mitteilung auf seiner Internet-Seite den Genesenenstatus von sechs auf drei Monate verkürzte. Und damit Millionen Genesene über Nacht viele Rechte verloren. Er habe nichts gewusst, beteuerte Lauterbach, an allem sei RKI-Chef Lothar Wieler schuld: Sein Vorgehen sei „nicht in Ordnung“ gewesen. Lauterbachs Aussage war deshalb fragwürdig, weil seine Staatssekretärin kurz zuvor genau diese Verkürzung quasi angekündigt hatte. Lügt der Minister, oder weiß in seinem Haus die eine Hand nicht, was die andere tut? Oder beides?
Eine Mail, die die „Welt am Sonntag“ unter Berufung auf das Informationsfreiheitsgesetz einsehen konnte, zeigt, dass das RKI als oberste Bundesbehörde dem Gesundheitsministerium bereits am 11. Januar einen Entwurf der geplanten Änderung zukommen ließ. „Auch die zeitnahe Veröffentlichung kündigten die Experten des RKI an. ‘Angesichts der drängenden Zeit (Veröffentlichung: 14 Januar) bitten wir um ein zeitnahes Treffen mit dem BMG‘, heißt es am Ende der E-Mail, die an mehrere Referate und die ‘Lageführung COVID-19 ging“, wie die „Welt“ schreibt.
Drang auf Änderungen
„Gemeinsam stimmten Mitarbeiter des Ministeriums und des RKI in der Folge die letzten Details ab, wie ein Jurist im Ministerium nun mitteilte. Die abschließende Zustimmung des Bundesgesundheitsministeriums sei dann ‘im Rahmen einer mündlichen Rücksprache erteilt‘ worden“, heißt es in dem Bericht. Mitarbeiter des Ministeriums drängten demnach auf eine kleine Änderung: Die 90 Tage für den Genesenenstatus sollten nicht, wie im ursprünglichen Entwurf des RKI, vom Symptombeginn an gezählt werden – sondern ab dem Datum des positiven Tests, so die „Welt“.
Besonders brisant ist die Enthüllung der Zeitung, wenn man an Lauterbachs Auftritt vor dem Bundesrat am 15. Januar, wenige Stunden vor der Veröffentlichung der neuen Regelung, denkt. Erst in dieser Sitzung übertrug der Bundesrat dem RKI die Kompetenz, eigenständig über den Genesenenstatus zu entscheiden – und damit als Behörde per Mausklick weitreichend in die Grundrechte der Bürger einzugreifen. Lauterbach versprach auf der Sitzung, „die Bundesregierung werde die Entscheidung der Gesundheitsexperten nicht beeinflussen. Und: Man werde rechtzeitig über Änderungen informieren und Einwände aus den Ländern berücksichtigen“, wie die Welt schreibt: „Das erste Versprechen war zu dieser Zeit durch die Mitarbeit des Ministeriums bereits obsolet. Nur wenige Stunden nach der Sitzung war auch das zweite Versprechen gebrochen.“
Bornierte Sturheit
Mehrere Ministerpräsidenten reagierten schon damals empört und erklärten, sie fühlten sich hintergangen. Lauterbachs Haus reagiert dennoch ungerührt auf die jetzt bekannt gewordene, brisante E-Mail. Das Ministerium bleibt bei seiner Aussage, Lauterbach sei nicht über die Vorgänge informiert gewesen, so die „Welt“.
Damit ist die Antwort auf die eingangs gestellte Frage eindeutig: Entweder hat der Minister tatsächlich sein Ministerium nicht im Griff und die eine Hand weiß dort nicht, was die andere tut. Oder er hat absichtlich gelogen.
Beides (und bei Lauterbach auch noch viele andere Skandale) wäre in funktionierenden Demokratien ein zwingender Grund für einen Rücktritt. In den großen Medien würden die Berichte darüber die Schlagzeilen beherrschen; die Opposition wäre hyperaktiv und darüber würde massiv berichtet. Nur nicht im „besten Deutschland aller Zeiten“, wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Bundesrepublik in unverhohlenem Größenwahn – oder Zynismus – nennt. Verantwortungslosigkeit der Verantwortungsträger scheint oberstes Prinzip zu sein. Und die neudeutsche Omerta: Das Schweigegebot, dass große Teile – nicht alle – Medien und Politik heutzutage vereint in einer Art und Weise, wie man sie sonst eher aus autoritären Staaten kennt.
Bild: Boris ReitschusterText: br