Ein Gastbeitrag von Gregor Amelung*
Bei der Olympiade in Mexico-City im Jahr 1968 sprang Bob Beamon derart weit, dass die Kampfrichter ihren Maßbändern nicht glauben wollten. Denn Beamon war im Vergleich zu allen früheren Weitsprüngen nicht etwa ins Jahr 1973 gesprungen, sondern direkt mal ins nächste Jahrtausend. Erst dann, so die Statistik, würde ein Mensch Beamons Weite von 8 Metern 90 einstellen können.
Ähnlich rekordverdächtig ist auch der Wahlsieg von Joe Biden gewesen.
Rekord Nummer 1 – die Vorwahlstimmen
Normalerweise ist die Stimmenzahl, die ein Kandidat bei den Vorwahlen seiner Partei erzielen kann, ein recht sicherer Indikator dafür, ob er auch die anschließende Präsidentschaftswahl gewinnen wird. So hat etwa noch nie ein Amtsinhaber, der mehr als 75 Prozent der Vorwahlstimmen gewinnen konnte, eine Wahl zur zweiten Amtszeit als US-Präsident verloren, wie der Politologe David Chapman erklärt.
Donald Trump hatte seine Vorwahlen mit 93,9 Prozent gewonnen. Abgehalten wurden die republikanischen Vorwahlen zwischen dem 3. Februar und dem 11. August 2020. Und anders als man vielleicht vermuten könnte, ist bei den Ergebnissen kein Covid-19-Malus oder -Knick zu erkennen:
Insgesamt war Trumps Vorwahlergebnis das vierthöchste, das jemals ein Amtsinhaber erreichen konnte. Es war sogar höher als das von Bill Clinton (89%) und das von Barack Obama (88,9%), als sie ihre zweite Amtszeit anstrebten. George Bush senior hingegen erreichte in seinen Vorwahlen nur 72,8% und verlor anschießend gegen Bill Clinton. Dem gegenüber war das Vorwahlergebnis seines Sohns George W. deutlich besser (98,06%) und er gewann seine Wiederwahl.
Darüber hinaus ist Donald Trump einer von fünf Amtsinhabern seit 1912, die mehr als 90 Prozent der Vorwahlstimmen auf sich vereinigen konnten. Ähnlich bemerkenswert sind seine absoluten Zahlen. So konnte er mehr als 18 Millionen Wähler mobilisieren, 4 Millionen mehr als bei seiner Nominierung 2016. Das ist das Doppelte von dem, was Bill Clinton im Jahr 1996 erreicht hat, und fast dreimal soviel wie bei Barack Obamas Vorwahl vor seiner zweiten Amtszeit. Obama erreichte lediglich 6,2 Millionen Wähler.
Nicht vergleichen sollte man diese Zahlen nun mit denen von Joe Biden, denn die Wahlbeteiligung bei einer Nominierung ist immer deutlich höher als die bei einer Vorwahl zu einer zweiten Amtszeit. Einfach deshalb, weil die Luft bei der zweiten grundsätzlich raus ist. Trotzdem – aber nur fürs Protokoll – sei hier gesagt, dass Biden bei den Vorwahlen zu seiner Nominierung insgesamt 19 Millionen Wähler für sich mobilisieren konnte. Das entspricht 51,8% der abgegebenen Stimmen, denn über ein Viertel der Demokraten hätte lieber den linkspopulistischen Senator Bernie Sanders als Spitzenkandidaten gesehen.
Dass sich Trump trotz seiner historisch guten Vorwahlen-Ergebnisse nicht gegen seinen demokratischen Herausforderer durchsetzen konnte, stellt die Erfahrungswerte aus nahezu einem Jahrhundert auf den Kopf. Und damit hat Joe Biden schon in dieser ersten Kategorie nahezu Unmögliches vollbracht.
Rekord Nummer 2 – über 80 Millionen Wähler
Auch bei den absoluten Stimmen konnte Biden seinen republikanischen Kontrahenten auf die Plätze verweisen. Und auch das war kein Kinderspiel, immerhin gaben 74.216.722 Wähler Donald Trump ihre Stimme bei der Präsidentschaftswahl. In der Wahl gegen Hillary Clinton vier Jahre zuvor waren es nur etwa 63 Millionen gewesen. Das entspricht einer Zunahme von mehr als 14 Prozent. Trotzdem konnte Joe Biden auch diese hohen Werte am 3. November 2020 pulverisieren und das, obwohl Trump bei den ethnischen Minderheiten im Vergleich zu 2016 deutlich aufgeholt hatte:
Damit lag Trump in etwa in Schlagdistanz mit dem sensationell guten Ergebnis, das George W. Bush bei nicht-weißen Wählern bei seiner Wiederwahl 2004 eingefahren hatte.
Trotzdem reichte auch das nicht gegen die Wahlkampfmaschine Joe Biden. Denn Trumps Stimmenfang kollabierte bereits nach der 72-Millionen-Marke, während es Obamas ehemaligem Vize-Präsident gelang, über 81 Millionen Wähler zu gewinnen. Damit überflügelte er sogar das bisherige Rekordergebnis der Demokraten aus dem Jahr 2008.
Rekord Nummer 3 – gegen den Trend der eigenen Partei
Joe Biden gelang dieses Kunststück nicht etwa mit seiner Partei sondern vielmehr gegen sie und ihren Trend in der Präsidentschaftswahl. Entsprechend titelte die New York Times am 7. November „Die „Blaue Welle“ der Demokraten ist vor den Landesparlamenten in sich zusammengefallen“ und schrieb weiter: „Den Demokraten ist es nicht gelungen, die Parlamente von Texas, North Carolina, Iowa, Pennsylvania und Michigan zu drehen.“ Und das, obwohl ihr Zugpferd in Pennsylvania und Michigan die Präsidentschaftswahl für sich entscheiden konnte. Stattdessen gelang es den Republikanern im Nordwesten den Senat und das Repräsentantenhaus im Bundesstaat New Hampshire von den Demokraten zu erobern. Ganz ähnlich verlief die parallel zur Präsidentschaftswahl durchgeführte Wahl zum US-Repräsentantenhaus. Auch hier: kein Rückenwind durch Biden. Stattdessen gewannen die Republikaner 15 Sitze hinzu.
Danach schrieb Randy DeSoto auf der konservativen Nachrichtenseite Western Journal leicht geknickt: „Donald Trump ist so ziemlich der einzige amtierende Präsident in der Geschichte der USA, der seine Wiederwahl verliert, obwohl seine eigene Partei Sitze im Repräsentantenhaus dazu gewinnt.“
Insofern lässt sich auch an den demokratischen Verlusten recht gut ablesen, wie herausragend Joe Bidens Rolle bei der diesmaligen Präsidentschaftswahl gewesen ist.
Rekord Nummer 4 – die Bellwether Counties
Bidens Durchschlagskraft machte auch nicht vor den sogenannten Bellwether Counties (Leithammel-Kreise) halt. Dieser exklusive Club, in den nur Counties aufgenommen werden, die in den zurückliegenden Präsidentschaftswahlen stets mit dem Sieger gestimmt haben, entpuppte sich nach Bidens Wahlkampf als nicht weniger als ein unbrauchbares Orakel. Denn die dort lebenden Wahlberechtigten hatten diesmal für den Falschen gestimmt.
Weil Biden nach unterschiedlichen Zählweisen nur 1 bzw. 3 von 17 bzw. 19 der Leithammel-Kreise gewinnen konnte, wollten Trump-Anhänger darin einen Beweis für Wahlbetrug erkennen, was es selbstverständlich nicht ist. Es ist vielmehr ein weiteres Indiz dafür, wie erfolgreich der Wahlkampf von Joe Biden im Ergebnis gewesen ist.
Rekord Nummer 5 – Most admired Man
An dieser Feststellung ändert auch die 5. Kategorie nichts, auch wenn es sich auf den ersten Blick anders lesen mag. Am 29. Dezember veröffentlichte das Institut Gallup mal wieder, wer der am meisten bewunderte Mann in den USA 2020 gewesen ist. Eine Beliebtheitsliste, die seit dem Jahre 1946 erhoben wird und in der sich amtierende US-Präsidenten traditionell an der Spitze finden.
Wenn man bedenkt, dass George Bush senior im Jahr seiner Abwahl mit 15% Platz 1 belegen konnte und sein siegreicher Herausforderer Bill Clinton einen zweistelligen zweiten Platz, zeigt sich auch hier die enorme Durchschlagskraft von Joe Biden an den Wahlurnen. Denn trotz seines niedrigen Gallup-Wertes vermochte er es, den amtierenden US-Präsidenten zu schlagen und das Ergebnis in fünf Bundesstaaten, die 2016 noch für Trump gestimmt hatten, zu flippen. In Michigan, Pennsylvania, Wisconsin, Arizona und in Georgia.
Rekord Nummer 6 – Wahlsieg ohne Schmoozing
Und all das hat Joe Biden ohne den klassischen Straßenwahlkampf zustande gebracht.
Unter normalen Bedingungen ist der für einen Kandidaten in den USA das A und O. Vor allem Bill Clinton war ein Meister darin. Seine besondere Gabe, Hände zu schütteln, wird in dem Roman „Primary Colours“ anschaulich beschrieben. Dieser Magie spürt der Ich-Erzähler gleich auf der ersten Seite nach und muss sich doch eingestehen, dass er nicht weiß, wie sein Chef, der Kandidat Bill Clinton alias Jack Stanton, die Hände seiner Gegenüber ergreift und drückt. „Ich kann Ihnen aber darüber berichten“, fährt der Erzähler fort: „wie er seine andere Hand benutzt. Mit ihr ist er ein Genie. Er könnte sie auf Ihren Ellbogen legen oder auf den Bizeps. Eine einfache, reflexartige Bewegung. Er interessiert sich für Sie. Es ist ihm eine Ehre, Sie kennenzulernen. Wenn er höher zu Ihrer Schulter greift, wenn er beispielsweise seinen linken Arm über Ihren Rücken legt, ist es irgendwie weniger intim, eher lässig. Dann teilt er ein Lächeln oder ein Geheimnis – kein großes, nur ein kleines – mit Ihnen und schmeichelt sanft mit der Illusion einer Verschwörung.“
„Schmoozing“ nennen die Amerikaner diese Art der Kommunikation.
In deutschen Wahlkämpfen zählt diese Nähe zum Publikum eher weniger, trotzdem kann man wohl annehmen, dass im heutigen Berlin niemand so Recht Lust darauf hätte, gegen einen vitalen Gerhard Schröder antreten zu müssen, denn auch der verstand es, Kontakt mit dem Wähler aufzunehmen. Selbst dann, wenn er das Autogramme schreiben einstellen wollte, wenn er nicht alsbald ein Bier bekäme.
‘Hiding Joe Biden‘
Würde man Schröders Schmoozing potenzieren, käme man wohl in etwa dort heraus, was ein Präsidentschaftskandidat in den USA an Nähe-Instinkt benötigt, um bei einer landesweiten Wahl bestehen zu können. Um so bemerkenswerter ist es, dass Joe Biden seinen Kontrahenten aus seinem Keller heraus – wo er sich gegen Covid-19 verbunkert hatte – schlagen konnte. Nahezu ohne Veranstaltungen, Interviews, Reisen in umkämpfte Bundesstaaten und Auftritte bei Parteifreunden, Bürgern, Arbeitern, Angestellten, Soldaten, Polizisten, Lehrern, Barbesitzern und Normalos. Joe Biden mied ihre Nähe vielmehr, weshalb ihn konservative Medienvertreter während des Wahlkampfs spöttisch als „hiding Joe Biden / der sich versteckende Joe Biden“ abtaten.
Dass er trotzdem einen riesigen Zuspruch an den Wahlurnen bekam, lässt sich nur zum Teil mit dem Corona-Virus und den Schutzmaßnahmen erklären, die Biden in seinem Keller-Domizil mustergültig vorexerzierte. Daneben muss es noch eine gewisse Magie gegeben haben, denn Amerikaner sind – verglichen mit Europäern – schon auch an einer mutigen, anpackenden Führerfigur interessiert. Einer, der keine Angst zeigt. Einer, der rausgeht, redet, erklärt, macht und tut. Und eben deshalb wäre wohl auch jeder, der sich einfach so in einen Keller gesetzt hätte, um von dort aus Wahlkampf zu machen, gnadenlos untergegangen. Mit oder ohne Corona. Nicht so Joe Biden. Der war auf einer magischen Wellenlänge mit seinen Wählern. Ereichte Millionen und das ganz ohne Twitter. Denn der 78-jährige hatte am 2. November 2020, also einen Tag vor der Wahl, nur knapp 12 Millionen Follower oder 14 Prozent der Twitter-Gemeinschaft seines Kontrahenten. Mehr nicht. Trotzdem hat er gewonnen. Und angesichts dieser herausragenden Performance, mal ehrlich. Also, Hand aufs Herz unter uns Betschwestern:
Wieso hätten die Demokraten bescheißen sollen, wenn sie Magic Joe Biden haben?
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Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Und ich bin der Ansicht, dass gerade Beiträge von streitbaren Autoren für die Diskussion und die Demokratie besonders wertvoll sind. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen, und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
*) Der Autor ist in der Medienbranche tätig und schreibt hier unter Pseudonym.
Bild: Stratos Brilakis/Shutterstock
Text: Gast
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