Nizza mit Maske Die Krise hat auch meine Lieblingsstadt geprägt

Von Sönke Paulsen

Der Flug war verspätet, aber nicht viel. Die Beeinträchtigung durch die Maske wurde durch das Catering abgemildert, man konnte sich auf das Essen freuen. Damit verging die Zeit. Im Anflug taten mir die Ohren weh, ich hatte den Mund weit aufgemacht und gegähnt, was niemand bemerkt hatte, wegen der Maske. Es achtete ohnehin nur jeder auf sich oder sein Smartphone. Wo ist der Unterschied?

Neben mir eine junge Frau, vielleicht aus Pakistan, die während des Fluges in sich gekehrt war und sich Bilder auf ihrem Handy ansah. Sie nahm auch dann keinen Blickkontakt auf, als ich ihr nach mehreren eigenen Versuchen schließlich das Gepäck in die Ablage hob. „Thank you“, als hätte ich ihr auf der Gangway kurz den Vortritt gelassen.

Der Anflug auf eine dunkle Stadt täuschte und täuschte wieder nicht. Wer Nizza kennt, weiß, dass hier Licht eine ganze besondere Bedeutung hat. Dunkelheit gibt es hier eigentlich nicht und doch ist es so. Ein subjektiver Eindruck, sicher, Nizza in der Verdunkelung.

Es lag an der Uhrzeit, es war schon fast dunkel, aber man hatte das Licht noch nicht angemacht. Die Straßenbeleuchtung war noch aus, wie aus Nachlässigkeit.

Eine neue Straßenbahnlinie geht direkt vom Flughafen ins Zentrum, teilweise unterirdisch. Auch das gab es vor drei Jahren noch nicht. Man fuhr mit einem Bus den Boulevard entlang, bis man im Zentrum angekommen war. Jetzt zeigen mir nicht die Häuser und das Meer, die am Fenster vorbeifliegen, wo ich bin, sondern ein Monitor in der Tram. „Jean Medecin“, „Place Garibaldi“. Ich steige aus und fahre endlose Rolltreppen nach oben, bis ich endlich in meinem bekannten Nizza angekommen bin. Aus der Unterwelt, gewissermaßen.

In Corona-Zeiten oder wie man es nennen und interpretieren will, vielleicht auch als Zeit der Angst, die eine autoritäre Krise in den liberalen westlichen Gesellschaften ausgelöst hat, in dieser Zeit jedenfalls kommt es mir nicht normal vor, mit einem Flieger an der Côte d´Azur zu landen und in einem billigen Hotel einzuchecken, wie ich es immer tue, wenn ich allein in Nizza bin. Es wirkt nicht normal, obwohl es normal für mich ist.

Mit 16 und mit 60

Mit sechzehn war ich das erste Mal hier und nun bin ich sechzig. Dazwischen habe ich diese Stadt unzählige Male besucht, allein, mit meiner Familie, mit meiner Frau und wieder allein. Ich bin es, der nach Nizza will. Die anderen interessiert es nicht so sehr. Für mich ist es ein Teil meines Lebens, ja, ein Teil meiner Identität.

Zumindest das Hotelzimmer ist für mich normal. Es liegt in einem kleinen Hinterhof, ist dunkel und wird von außen durch Klimaanlagen beschallt, eine Art elektrisches Meeresrauschen, nur sehr monoton. Wenn ich das Fenster schließe, höre ich die eigene Klimaanlage, die sich nicht abschalten lässt. Ich halte das Fenster also offen und stelle einfach den Strom im Zimmer ab, was funktioniert, wenn man die Karte aus dem Kontakt zieht. Dann ist auch die Klimatisation aus. Ich schreibe das, weil man sonst meine Nacht, die ich hatte, vielleicht nicht versteht.

Nachts scheint die Luft um den Bahnhof herum ausschließlich gebraucht zu sein, man hat das Gefühl, die Luft einzuatmen, die andere vorher ausgeatmet haben, eine Art Klimastillstand ohne jede wissenschaftliche Erklärung, ein rein subjektiver Eindruck, wie das Gefühl, dass die vielen Schwarzen, die sich nachts in den Straßen bewegen, die Stadt dunkler machen. Auch das wirkt von Jahr zu Jahr intensiver, so wie die Nachlässigkeit, die die Stadt jedes Jahr mehr erfasst, trotz aufwendiger Modernisierungsprojekte. Die armen Menschen prägen nachts die Stadt, als wollten sie eine Antithese zum schönen neuen Nizza in die Fußgängerzone stellen.

„Seht her! Das ist Nizza. Arm, schwarz und schmutzig.“ Auch die Clochards, die hier überall liegen, wirken schwarz, obwohl die meisten von ihnen Weiße sind, identitäre Franzosen, wenn man es so ausdrücken will. Le Pen hat hier die Mehrheit, obwohl Nizza tolerant und weltoffen wirkt. Die Armut in Frankreich macht vor keiner Bevölkerungsgruppe halt und wird, im Unterschied zu der Zeit vor der Krise, weniger versteckt. Natürlich kommt sie vor allem nachts auf die Straße, was typisch ist, wegen des warmen Klimas und der angenehmen Luft in der Nacht und des eben doch noch bestehenden Versteckspiels mit der Armut.

Wie auch immer. Eigentlich wollte ich nur sagen, dass es in Nizza keine Ausgangssperren mehr gibt. Aber die Stadt hat mich schon im Griff, lenkt mich ständig ab, von dem, was ich eigentlich sagen will.

Bedienung mit Pirouette

Die Straße an meinem Hotel ist aufgerissen, die Menschen drängen sich an der Baustelle vorbei, daneben ein Café. Ich bitte um einen Espresso und die Bedienung fragt freundlich, ob ich noch ein Glas Wasser und einen Aschenbecher dazu haben möchte, wegen dem Rauchen. Ich stimme erfreut zu und lächele sie an. Sie lächelt zurück, aber ihr Lächeln verzieht sich sofort, als sie mich ansieht. Etwas scheint ihr zu missfallen, aber ich weiß nicht was. Sie tänzelt zurück ins Café und macht dabei eine Pirouette. Ich glaube, so etwas das erste Mal zu sehen, und schüttele leicht den Kopf. Später nimmt sie meinen Geldschein und bringt das Restgeld zurück. Sie lächelt wieder und auch sehr schön, aber direkt an mir vorbei.

Vielleicht hat sie gemerkt, wie fremd ich bin. Als ich das Café verlasse, schaut ein älterer Franzose von einem Tisch zu mir auf und sagt schnell „Merci“. Ich verstehe nicht und lächele. Dann wird mir klar, dass es der „Patron“ ist, der sich für meinen Besuch bedankt. Auch das habe ich so noch nicht erlebt. Es gibt eben weniger Touristen zurzeit und die kleine Brasserie liegt ungeschützt an dieser Baustelle. Die Gäste bleiben aus.

Die erste Nacht ist gewohntermaßen schlecht. Ich kenne das. Irgendwann stelle ich mir vor, mit meiner Frau zu schlafen. Warum, weiß ich nicht. Aber es wirkt. Ich schlafe dabei ein.

Ich wache sehr früh auf. Es ist noch dunkel um diese Zeit und ich höre nur die Ventilatoren. Der Impuls, aufzustehen wird nur durch die fehlende Aussicht auf ein Frühstück gebremst. Ich döse ein bisschen. Dann ist es kurz vor sieben und ich gehe zum Frühstück, als Einziger.

Die Maske behindert die Kommunikation, mein Französisch ist dafür nicht sicher genug. Ich nehme sie ab und frage an der Rezeption, ob ich schon Frühstück haben kann. Ich bekomme welches und auch sehr schnell, aber auch sehr eingeschränkt. Ein Croissant, ein Kaffee, etwas Butter und Marmelade. Zwei Sterne eben.

Entscheidender Kontrast

Zum Rauchen gehe ich auf die Straße, die menschenleer und ruhig ist. Dann und wann schreien ein paar Möwen. Die Autos schlafen noch an der engen Straße und geben ihr den entscheidenden Kontrast zwischen verfallenden Fassaden und glänzendem Lack. Manche Fassaden sind renoviert, aber hinter den Fenstern sieht es noch alt aus. Auch mein Hotel hat eine schöne Fassade und ein paar Zimmer mit Balkon. Ich habe keines bekommen, zu kurzfristig gebucht, aber auch das ist normal, wenn ich hierher komme.

Später taucht die Sonne einige dieser alten Fassaden ins Licht und die Grautöne weichen leuchtenden, warmen Farben. Menschen gehen zur Arbeit. Einige Männer tragen medizinische Masken am Hals, einige sogar vor dem Mund. Eine Frau im schwarzen Kleid klappert die Straße herunter mit silbernen Sandaletten und einer schwarzen Satin-Maske. Ein junges Mädchen hat die einzige frische Maske an diesem Morgen. Dafür hat sie Plattfüße, die bei jedem Schritt hart auf dem Pflaster aufschlagen. Sie scheint es eilig zu haben.

Ich spüre das erste Mal Zufriedenheit und die Liebe zu dieser nachlässigen Stadt, die sich schwer begründen lässt. Es ist ein absurdes Gefühl, in einer berühmten und ehemals glänzenden Stadt auf Armut, Schmutz und Elend zu treffen, Jahr für Jahr mehr und sie dann doch zu lieben. Jedes Jahr mehr!

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Sönke Paulsen ist freier Blogger und Publizist. Er schreibt auch in seiner eigenen Zeitschrift „Heralt“. Hier finden Sie seine Fortsetzungsgeschichte „Angriff auf die Welt“ – der „wahre“ Bond.

Bild: Sabina photography/Shutterstock
Text: Gast

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