Die Pläne für einen „harten Lockdown“ begründete Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit einem Papier der „Leopoldina“, für die auch ihr Mann, Joachim Sauer, tätig ist. Man müsse auf die Wissenschaft hören, so die Kanzlerin im Bundestag, als sie ihre Forderungen darlegte. Das Papier, auf welchem massivste Einschnitte ins Leben und in die Grundrechte basieren sollen, besteht aus sieben Seiten. Wenn man nicht mitrechnet, dass auf Seite sechs und sieben nur die Mitwirkenden aufgelistet sind, bleiben viereinhalb Seiten übrig (nachzulesen hier). Einer dieser „Mitwirkenden“ ist der Virologe Christian Drosten. Nach seinen Worten „enthält das Papier allerdings keinen Rat, sondern eine ,deutliche und letzte Warnung der Wissenschaft´“, wie die Welt in einem leider hinter einer Bezahlschranke versteckten, brillanten Beitrag schreibt: „Wenn die Politik nicht auf diese Warnung höre, dann habe „sie sich auch nicht mehr für die Wissenschaft entschieden“.
„In jedem Fall muss jemand, der solche Warnungen ausspricht, schon ziemlich fundierte Argumente für seine Forderungen liefern“, heißt es in dem Blatt: „Die Argumente, die das offenbar unter hohem Zeitdruck entstandene Papier an die Hand gibt, sind allerdings fast ausschließlich Autoritätsbeweise. Das ganze Dokument enthält lediglich zwei Verweise auf wissenschaftliche Studien.“ Umso mehr Platz nimmt dafür die Schilderung ein, welche genauen Funktionen die Mitglieder der Arbeitsgruppe haben, die als „Mitwirkende“ des Papiers gelistet sind. Die Welt meint dazu: „Eine seltsam unscharfe, an eine Schultheateraufführung erinnernde Formulierung, im Wissenschaftsbetrieb spricht man eigentlich klar von Autoren, wenn es darum geht, wer die Verantwortung für einen Text übernimmt.“
Tatsächlich sind viereinhalb Seiten Text für eine fundierte wissenschaftliche Abhandlung ausgesprochen dürftig. Die Zeitung kommt zu dem Schluss: „Wenn ein wissenschaftliches Dokument dieser Kürze überhaupt sinnvoll zu einem aktuellen Geschehen Stellung nehmen soll, dann müsste es umfangreich auf gesicherte Studien verweisen“. Die sogenannte Ad-hoc-Stellungnahme der Leopoldina sei „alles andere als ein wissenschaftliches Dokument“, ja sie sei nicht einmal eine wissenschaftliche Zusammenfassung eines Forschungsstandes: „Sie ist ein Sammelsurium von sorgenvollen Aussagen über die aktuelle Situation, kombiniert mit einigen drastischen Vorschlägen, die ihre Autorität daraus ziehen sollen, dass die Autoren nun einmal in leitenden Funktionen im Forschungsbetrieb tätig sind.“
Das Blatt geht sogar noch weiter: „Der wissenschaftliche Gehalt ist so gering, dass wohl jede aufmerksame Zeitungsleserin, jeder ‘Tagesschau‘-Zuschauer und jede internetaffine Gymnasiallehrerin den Text hätte verfassen können, einschließlich der Diagramme, die den Infektionsverlauf in Irland und in Deutschland miteinander vergleichen – eine Grafik, die der Autor dieser Zeilen innerhalb von weniger als einer Minute auf einer bekannten Datenplattform zusammenklicken könnte.“
Mit dieser Grafik wollen die „Mitwirkenden“ etwa belegen, dass ein harter und kurzer Lockdown wirksam sei und verweisen darauf, in Irland seien die Zahlen der positiv Getesteten nach Lockdown gesunken, im Gegensatz zu Deutschland mit seinem leichten Lockdown. Dazu die Welt: „Man muss sich das einmal genau durch den Kopf gehen lassen: Da argumentiert man im Streit mit Klimawandelleugnern und Wissenschaftsfeinden seit Jahren, dass Korrelation keine Kausalität sei und dass man bei komplex vernetzten Systemen keinesfalls aus dem zeitlichen Zusammentreffen von Ereignissen auf einen kausalen Zusammenhang schließen könne – und dann wird von einer ,wissenschaftlichen Arbeitsgruppe‘ (man kann in diesem Zusammenhang diesen Begriff nur in Anführungsstrichen verwenden) mal eben eine vermutete Kausalität aus zwei unterschiedlichen Verläufen in Irland und Deutschland abgeleitet.“
Auch an einer zweiten Grafik aus dem Leopoldina-Papier lässt das Blatt kein gutes Haar:
Hier werden die Fallzahlen mit „Prognosen“ aus einer „Modellrechnung“ kombiniert. Gezeigt werden soll so, welche Auswirkungen eine veränderte Reproduktion auf die Fallzahlen hat. Dazu die Welt: „Die Aussage der Darstellung – ‘wenn sich weniger Menschen anstecken, sinken die Infektionszahlen‘ – ist allerdings trivial. Warum eine ‘strenge Verschärfung‘ zu einem R-Wert von 0,7 führt, verrät die Darstellung nicht.“
Die Zeitung verweist auch darauf, dass der Tag, an dem die Lockdown-Maßnahmen wirksam werden sollten, bei Betrachtung des Verlaufs der Infektionszahlen der vergangenen Wochen nicht zu finden sei. Stattdessen sei ein Übergang von der Wachstumsphase in die Stabilitätsphase um den 20. Oktober herum zu erkennen. Also nicht nach dem Lockdown, wie zu erwarten war, sondern bereits bevor er in Kraft trat. Ein Lockdown mit rückwirkendem Effekt? Dass die Politik derzeit auf das Verhalten der Menschen schimpft, könne eigentlich nur daran liegen, „dass man Schuldige braucht, die dafür verantwortlich sind, dass die prognostizierten Erfolge des November-Lockdowns nicht eintreffen.“ Schließlich könne „die Wissenschaft“ nicht einfach sagen: „Wir haben eigentlich keine Ahnung, was hier wirklich passiert, wir können nicht erklären, warum in Sachsen die Infektionszahlen steigen und in Rheinland-Pfalz nicht“. Deshalb müssten „die Bürger selbst zu Schuldigen erklärt werden.“
Das Fazit der Zeitung: „Der Schaden, den die Funktionäre der Wissenschaft damit anrichten, ihre eigene Unwissenheit in der Zeit der Pandemie nicht offen einzugestehen, ist unermesslich – gerade mit Ausblick auf die weiteren großen Herausforderungen, vor denen die Gesellschaft steht. “ Und weiter: „Für keine der geforderten Maßnahmen nennt die Stellungnahme eine belastbare wissenschaftliche Quelle, nennt sie wissenschaftlich gesicherte kausale Zusammenhänge. Nichts wird nachvollziehbar belegt … Es ist somit auch nicht im Ansatz nachvollziehbar, woher die Autoren ihre Überzeugung nehmen, dass die geforderten Maßnahmen zum einen wirklich notwendig sind, und zum anderen auch die erhoffte Wirksamkeit zeigen werden.“
Ganz offen gestanden hat mich dieser Beitrag in der Welt außerordentlich positiv überrascht. Journalismus vom Feinsten, der kritisch hinterfragt und die Finger in die Wunden der Regierenden legt bzw. derjenigen, die sie beraten. Umso bedauerlicher, dass solche Stücke zum einen eine absolute Ausnahme sind in den großen deutschen Medien. Und, zum zweiten, dass der Beitrag hinter einer Bezahlschranke steht und damit nur eine sehr überschaubare Zahl von Menschen ihn lesen kann. Sein Inhalt müsste in den großen Abendnachrichten in ARD und ZDF aufgearbeitet und in den großen Talkshows durchdiskutiert werden. Wetten, dass dies nicht geschieht?
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Bild: Lightspring/Shutterstock
Text: red
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