Die Zahlen der Corona-Patienten in intensivmedizinischer Betreuung sorgen für große Irritationen und Fragen. So werden etwa in Bayern offenbar nur halb so viele Corona-Patienten wirklich beatmet, wie die Regierung angibt. Riesen-Verwirrung gibt es um einen deutschen Corona-Hotspot: Das Robert-Koch-Institut hat völlig andere Daten als das Landratsamt. Zitat: „Wir sind etwas ratlos“. Bei Betrachtung des bundesweiten DIVI-Intensivregisters fällt zudem auf, dass zwar die Covid-Fälle steigen, die Gesamtanzahl der belegten Betten aber annähernd gleich bleibt bzw. sogar leicht sinkt. Und das, obwohl seit letztem Monat über 1000 Patienten wegen Corona hinzugekommen sind.
Eine mögliche Erklärung für die Zahlen bei den Intensivbetten wäre, dass Patienten auf den Intensivstationen nicht wegen, sondern hauptsächlich mit Corona eingewiesen wurden und diejenigen, die wirklich nur wegen Corona intensivmedizinisch behandelt werden müssen, in der Gesamtzahl nicht ins Gewicht fallen. Sollte diese Erklärung zutreffen, würde das den erneuten Lockdown in Frage stellen. Eine andere Möglichkeit wäre (mit der umgekehrten Konsequenz), dass das Pflegepersonal nur für die Anzahl der aktuell belegten Betten ausreicht. Dafür würde sprechen, was der österreichische Arzt Jörg Hutter in der Sendung „Corona-Quartett“ im Sender Servus-TV erklärte. Demnach erfordert ein mit Covid-19 Erkrankter in einem Intensivbett ein Vielfaches an Pflegeaufwand und damit auch Personal verglichen mit einem nicht infizierten Patienten. Dieses Pflegepersonal würde dann wiederum in anderen Bereichen fehlen, leere Intensivbetten könnten nicht benutzt werden.
So wenig Anlass besteht, an den Worten des Salzburger Oberarztes zu zweifeln, der direkt aus seinem Krankenhaus berichtete, so deutlich ist doch, dass dieses Problem für das Phänomen der nicht steigenden Zahl der belegten Intensivbetten nicht ausschlaggebend sein kann. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) betonte am Dienstag vor der Bundespressekonferenz, dass alle als frei gemeldeten Betten auch wirklich verfügbar seien, also inklusive Personal. Zudem ist über die 7.238 freien Betten hinaus die im aktuellem Intensivregister vom 3.11.2020 ausgewiesenen sind, eine 7-Tage-Notfallreserve von 12.717 Betten ausgewiesen.
Insofern fällt auch eine weitere Möglichkeit wohl aus: Dass die Krankenhäuser zur Freihaltung von Kapazitäten für eine befürchtete steigende Fallzahl von Covid-19-Fällen Intensivbetten frei halten und versuchen, etwa nicht dringend notwendige Operationen mit anschließendem Intensiv-Betreuungs-Bedarf zu verschieben. Das wäre angesichts doch recht hoher Betten-Reserven ethisch zumindest fragwürdig. Die Helios-Kliniken stellen inzwischen täglich die Zahlen zur COVID-19-Auslastung jeder einzelnen Klinik online (siehe hier). Die Zahl der Covid-19-Patienten in Intensivbetreuung dort ist verhältnismäßig gering.
Gut möglich ist eine Kombination aller erwähnten Möglichkeiten. Die unten stehende Statistik zeigt, dass die Zahl der insgesamt in Deutschland verfügbaren Intensivbetten laut Tagesreport des DIVI-Intensivregisters von Ende Juli bis Ende Oktober um 3500 zurückgegangen ist. Es spricht viel dafür, dass dieser Unterschied auf die „Notfallreserve“ von heute 12.717 Betten zugeschlagen wurde, die für Covid-19-Kranke freigehalten wird.
Noch verwirrender als bei den Intensivbetten ist die Situation etwa bei den künstlich beatmeten Patienten auf Intensivstationen. Nach BR-Recherchen werden im Freistaat Bayern nur halb so viele Corona-Patienten beatmet, wie offiziell angegeben. Die Ursache hierfür liegt in unterschiedlichen Statistiken und einer fehlerhaften Interpretation. „Schon häufiger gab es während der Corona-Pandemie ein Durcheinander oder gar widersprüchliche Zahlen“, schreibt der BR: „So variierten beispielsweise die Inzidenzwerte stark – je nach Quelle.“
Bayerns Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU) hatte auf einer Pressekonferenz nach der Kabinettssitzung am vergangenen Dienstag berichtet, dass bereits deutlich mehr Patienten in den Kliniken behandelt werden müssten als noch vor einigen Wochen. Stand Dienstag seien es 926 Patienten, „wovon 114 Menschen in Intensivbetten mit Beatmung sind“, so Huml. Zwei Tage später begründete Vize-Ministerpräsident Hubert Aiwanger den Teil-Lockdown für Bayern auch damit, dass die Zahl der Patienten in den Kliniken steige. Aiwanger sagte, dass „151 Corona-Patienten an der Beatmung hängen“.
Dazu der BR: „Doch der Blick in die Statistik der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), die die Daten etwa für das Robert Koch-Institut erhebt, zeigt: An eben diesem Dienstag wurden laut DIVI 55 Patienten beatmet, am Donnerstag waren es 71. Also etwa halb so viele, wie von den Ministern angegeben. Auch die Unterbehörde des bayerischen Gesundheitsministeriums – das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit – verweist auf BR-Anfrage nach den beatmeten Corona-Patienten auf die DIVI-Statistik.“
In dem Bericht wird der leitende Oberarzt Michael Irlbeck vom Münchner Klinikum Großhadern zitiert: Dessen Worten zufolge sind die Zahlen der DIVI die „wahrscheinlicheren“ angesichts der Gesamtzahl der Intensivpatienten. Die Zahlen der Staatsregierung können laut Irlbeck „nicht stimmen“. Generell würden Intensivmediziner versuchen, so Irlbeck, Covid-19-Patienten deutlich seltener zu intubieren als noch vor sechs Monaten. Insbesondere, weil die Folgeschäden schwerwiegend sein könnten, die Thrombosegefahr hoch sei und auch die Todesrate.
Recherchen des BR legen folgenden Schluss nahe: „Bei den Zahlen der Staatsregierung muss es sich um eine Fehlinterpretation der Statistik handeln – mit der etwa das Gesundheitsministerium arbeitet. Auf Nachfrage erklärte Gesundheitsministerin Huml, sie stütze ihre Aussage auf das System IVENA, das derzeit ebenfalls Daten zu den mit Covid-19-Patienten belegten Betten erhebt. Unter dem Stichwort ICU (Intensive Care Unit) finden sich dann auch die Zahlen, die Huml und Aiwanger am Dienstag und Donnerstag verbreitet haben. Allerdings: ICU-Betten bieten lediglich die Möglichkeit der invasiven Beatmung, sagen aber nichts darüber aus, ob tatsächlich beatmetet wird. Denn IVENA fragt das bei den Krankenhäusern nicht ab – anders als DIVI.“
Dem BR-Bericht zufolge ging auch die Bayerische Krankenhausgesellschaft mit alarmierenden Zahlen an die Öffentlichkeit, die aber die tatsächliche Lage nicht wiedergeben: „‘Derzeit werden 224 Covid-Patienten auf einer Intensivstation beatmet‘“, sagte der Geschäftsführer der Gesellschaft, Siegfried Hasenbein, der dpa. Doch laut DIVI wurden Stand gestern 120 Covid-19-Patienten beatmet, also wiederum deutlich weniger. Stichproben bestätigen: In mehreren bayerischen Kliniken belegten an Covid-19 erkrankte Patientinnen und Patienten vorige Woche so genannte ‘ICU-Betten‘, also Betten in der ‘Intensive Care Unit‘. Doch tatsächlich beatmet wurden mitnichten alle von ihnen.“
Von einem weiteren Fall von Corona-Chaos berichtet der Münchner Merkur: „Der hessische Landkreis Marburg-Biedenkopf wurde vom Robert-Koch-Institut in seinem Lagebericht vom Sonntag als Deutschlands schlimmster Corona-Hotspot angegeben. Die lokale Inzidenz von 299,5 konnte keiner der 401 Stadt- und Landkreise toppen. Am Montagnachmittag zeigt das RKI-Dashboard für Marburg-Biedenkopf 294,6 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen an. Seltsam ist, dass das Landratsamt von völlig anderen Zahlen spricht.“
Vor Ort in dem Landkreis selbst ist nämlich von einem viel geringeren Inzidenzwert die Rede: von 250,7. Dazu der Merkur: „Das bedeutet bei Weitem keine Entspannung, würde aber zumindest nicht dem unrühmlichen Spitzenplatz im Deutschland-Ranking entsprechen. Allein die bayerischen Corona-Hotspots Rottal-Inn (287,2) und Berchtesgadener Land (282,3) lägen vor Marburg-Biedenkopf.“
Wie kam es zu der Abweichung um fast 45 Punkte? „Wir wissen nicht, wie die Zahlen zustande kommen“, erklärte ein Sprecher des Robert-Koch-Instituts gegenüber der F.A.Z. : „Wir sind etwas ratlos.“ Daher werde nun ein Rechen- oder Übertragungsfehler geprüft.
Text: red