Ein Gastbeitrag von Henning Rosenbusch, Stockholm
Die Berichterstattung der etablierten deutschen Medien über den schwedischen Sonderweg während der Corona-Pandemie bleibt im Großteil einseitig bis tendenziös, die Schlagzeilen reißerisch, dafür jedoch ohne jeden Nachrichtenwert. Ein Beispiel von vielen: „Mehr als 6000 Corona-Tote – das Ende des schwedischen Wegs?“, fragt die WELT am 7. November und müsste es doch besser wissen, denn dieses Ende wurde seit April in Deutschland unzählige Male ausgerufen und hat doch nie stattgefunden. Staatsepidemiologe Anders Tegnell will es weiter „relaxed“ angehen, wie er vor zwei Wochen verkündete: „Wir rufen die ältere Bevölkerung auf, sich nicht mehr komplett zu isolieren, nur noch große Menschenansammlungen zu vermeiden.“ Denn, die soziale Distanzierung wirke sich, Berichten zufolge, bei vielen Älteren negativ auf ihre psychische Gesundheit aus. „6000 Tote – viele Neuinfektionen – hohe Positivrate“, überschreibt der Tagesspiegel und lässt die guten Nachrichten einfach weg: Dass die Zahl der Corona-Toten in der parlamentarischen Monarchie seit dem 1. August um gerade mal 255 gestiegen ist, ganz ohne Lockdown und ganz ohne Masken, dafür fast ausschließlich mit Empfehlungen und trotz einem massiven Anstieg der Fallzahlen, ist im ansonsten durchaus ausführlichen Artikel, in dem vor allem Kritiker zu Wort kommen, nicht zu lesen.
Als besonders absurd stellte sich bei genauerem Hinsehen die weitverbreitete Meldung „Schweden mit Rekord-Todesfällen im ersten Halbjahr seit 150 Jahren“ aus dem Sommer heraus, da man einfach die absolute Zahl der Todesfälle während einer Hungersnot 1869 mit dem heutigen Schweden verglich. Dass die Bevölkerung in dieser Zeit von 4,1 Millionen auf 10,2 Millionen angewachsen ist und weiterwächst, was natürlicherweise für mehr Todesfälle pro Jahr sorgt, wurde in all diesen Berichten geflissentlich weggelassen.
Mit komplett falschen Zahlen führte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder vor zwei Wochen bei einer Regierungserklärung sogar den Landtag in die Irre: „München ist ein Drittel größer als Stockholm, aber Stockholm hatte 16 mal so viele Tote auf 100.000 Einwohner“, behauptete er da unwidersprochen. Der Corona-Hardliner kommt aber nur dann auf den Faktor 16, wenn er nicht Stockholm-Stadt, sondern die Region Stockholm mit München vergleicht. Und die hat 2,4 Millionen Einwohner, ist also nicht kleiner, sondern hat eine Million mehr Einwohner als München. Dabei ist Söder ja gar kein Bürgermeister: Wenn man Bayern auf die Einwohnerzahl bereinigt mit Schweden vergleicht, kommt man nicht einmal mehr auf den Faktor drei. Bayern liegt mit den restriktivsten Maßnahmen und der weitestgehenden Maskenpflicht mit 22,3 Corona-Toten auf 100.000 Einwohner momentan an der Spitze aller Bundesländer (Bundesschnitt: 13,6) und holt wie Gesamtdeutschland zu Schweden (59,5) tagtäglich auf. Im Oktober, auf die Einwohnerzahl bereinigt, hatte die Bundesrepublik fast doppelt so viele Corona-Tote wie Schweden zu beklagen und diese Entwicklung setzt sich fort.
Und so steht, Umfragen zufolge, die große Mehrheit der Bevölkerung mit steigender Tendenz, hinter dem Kurs der Gesundheitsbehörden und die internationale Berichterstattung ruft bei vielen stolzen Schweden nur noch Verwunderung und manchmal auch Wut aus. Tegnell steht bei den Pressekonferenzen in Stockholm angesichts stark ansteigender Fallzahlen weiterhin wie ein Fels in der Brandung, wobei die Journalisten lange nicht so eine Welle machen wie im April, als der Staatsepidemiologe für seinen vermeintlich laxen Umgang mit der Pandemie sogar Morddrohungen erhielt und unter medialem Dauerfeuer stand.
Auf Facebook gibt es heute Tegnell-Fanclub-Gruppen mit zehntausenden Mitgliedern, die weiterhin geöffneten Clubs feiern Partys für ihn. Fanartikel und T-Shirts werden verkauft, er wird gemalt und modelliert, gestrickt und plakatiert und bei vielen Menschen ziert er nun die heimische Einrichtung. Einige Schweden haben ihn sogar auf ihrer Haut als Tattoo verewigt. Ihm wurde auch die besondere Ehre zuteil, in diesem Jahr das „Sommerinterview“ führen zu dürfen, wofür er sich traditionell mit einem schwedischen Blumenkranz schmücken ließ. Tegnell wird für seine ruhige und klare Art verehrt und vor allem auch dafür, dass er etwaige Kollateralschäden von Maßnahmen immer im Blick hat.
Weil der 64-jährige eben nicht nur auf Fallzahlen schaut, die in Schweden nach einer Verdreifachung der Tests derzeit massiv ansteigen. Wobei in Schweden die Inzidenz (Fälle/100.000 Einwohner) im europäischen Vergleich niedriger liegt als in weiten Teilen Europas. Weil Tegnell, wie die Virologen Hendrik Streeck und Jonas Schmidt-Chanasit sowie der Kassenärzte-Verband für Deutschland forderte, die Positivrate, die Krankenhauseinweisungen und vor allem die weiter gleichbleibend niedrigen Todesfälle mit Covid-19 im Blick hat. Übrigens gilt dabei auch in Schweden die Definition der Europäischen Seuchenbehörde: Diese empfiehlt, dass jeder, der binnen 28 Tagen nach positivem Befund verstorben ist, in die Statistik aufgenommen werden müsse. Das gilt auch für diejenigen, die ohnehin auch ohne Covid-19 verstorben wären.
Das alles gibt es in Schweden weiterhin nicht: Masken(pflicht), Beherbergungsverbote, Sperrstunden, kalte Klassenzimmer mit maskierten Kindern, Aufrufe zum Denunziantentum, Verordnungswahn, Corona-Polizeikontrollen, Diskussionen um die Unverletzlichkeit der Wohnung, Demonstrationen gegen die Corona-Politik, Bundeswehr im Innern, Schulklassen in Quarantäne und vor allem bleibt es dabei: „Wir werden weitermachen wie bisher und Lockdowns vermeiden“, so Tegnell.
Das ebenso wie Deutschland stark exportorientierte Schweden scheint so in Punkto Wirtschaft besser zu fahren als die Länder, die mit strikteren Maßnahmen gegen die Pandemie vorgehen. Zwar brach auch das schwedische Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal während der Lockdowns im Ausland um nie da gewesene 8,2 Prozent zum Vorjahresquartal ein. Damit hielt sich die Wirtschaft aber besser als in Deutschland – hierzulande schrumpfte die Leistung im zweiten Quartal um 11,7 Prozent zum Vorjahr.
Laut dem staatlichen Unternehmensanalysebüro Tillväxtanalys wurden in den ersten sieben Monaten 2020 knapp 9 Prozent mehr Konkurse verzeichnet als im gleichen Vorjahreszeitraum. Ernstzunehmende Vergleichszahlen aus Deutschland gibt es nicht: Die in Deutschland bis zum Jahreswechsel ausgesetzte Insolvenzanmeldepflicht gilt in Schweden weiterhin. Die Auskunftei Creditreform schätzte im August die Zahl der sogenannten „Zombie-Unternehmen“ derzeit auf 550.000. Sollte die Insolvenzantragspflicht in Deutschland bis März 2021 ausgesetzt bleiben, was im Gespräch war, so könnte sich die Zahl der Zombie-Unternehmen laut Creditreform auf 700.000 bis 800.000 erhöhen: „Die Lage verschlimmert sich von Tag zu Tag. Denn die Insolvenzen werden derzeit nur verschoben“, warnte seinerzeit Patrik-Ludwig Hantzsch, Leiter Wirtschaftsforschung bei der Auskunftei Creditreform gegenüber der „Welt“. „Dadurch könnten viele derzeit noch gesunde Firmen mit in den Abgrund gerissen werden.“ Das habe am Ende gravierende Auswirkungen auf die Zahl der Arbeitsplätze. Und: Weitere Lockdowns hatte die Creditreform seinerzeit noch gar nicht auf dem Schirm.
Die allgemeinen Empfehlungen zur Verringerung der Corona-Ausbreitung angesichts der steigenden Zahl der Neuinfektionen wurden verschärft und auf weitere Landesteile ausgeweitet: In den betroffenen Regionen werden die Menschen in den kommenden Wochen dazu aufgefordert, Kontakt mit Personen aus anderen Haushalten, den Nahverkehr und Veranstaltungen wie Konzerte oder sportliche Wettkämpfe zu meiden. Geschlossen wird allerdings nichts: In der Fußgängerzone der betroffenen Stadt Linköping (rund 100.000 Einwohner) beispielsweise herrschte am vergangenen Wochenende fast Normalbetrieb, so die Einzelhändler. Restaurant, Café- und Barbetreiber berichten allerdings von einem Einbruch der Gästezahlen: „Am Samstag sind wir üblicherweise komplett voll,“ sagt ein Kellner in der Sportsbar „shooters“, während gerade der Bundesligaknaller Dortmund – Bayern übertragen wurde, „heute sind wir bei 60 bis 70 Prozent.“ Eine Verschärfung: In Restaurants dürfen nur noch acht Personen (auch aus acht Haushalten) zusammen an einem Tisch sitzen. Dafür sind jetzt wieder Veranstaltungen mit bis zu 300 Besuchern erlaubt (vorher 50). Masken sind weiterhin drinnen wie draußen nicht zu sehen, eine Pflicht stand für Tegnell nie zur Debatte, „da wir nicht glauben, dass Erwachsene oder gar Kinder Masken so handhaben, dass sie am Ende auch nützlich sind.“ Einen wissenschaftlichen Beleg zum Nutzen der Masken gäbe es auch nicht, so Tegnell.
Dr. Sebastian Rushworth, tätig in der Notaufnahme einer der größten Kliniken Stockholms, und damit im Zentrum des schwedischen Corona-Sturm im April, kann über die erneut verhängten Lockdowns in Mitteleuropa nur noch den Kopf schütteln. Der Mediziner betreibt einen englischsprachigen Internetblog, wo er evidenzbasierte medizinische Erkenntnisse in einem Format bieten will, das auch Nicht-Wissenschaftler verstehen. Zuletzt war er vom Australischen Sender Sky News in eine Expertenrunde geladen und vorgestern veröffentlichte er einen Beitrag mit einer neuen Übersichtsstudie, die in „The Lancet“, einer der ältesten und renommiertesten medizinischen Fachzeitschriften der Welt, veröffentlich wurde: „Kommen wir gleich zur wichtigsten Erkenntnis, man könnte fast zur Einschätzung kommen, dass die Autoren dies verbergen wollten, da sie es kaum besprechen: Sie fanden keinerlei Korrelation zwischen der Dauer und Härte von Lockdowns und der Zahl der Corona-Todesfällen.“ Es gäbe auch keinen Zusammenhang zwischen Massentests und der Zahl der Toten: „Im Grunde scheint nichts von dem, was verschiedene Regierungen zur Bekämpfung von Corona unternommen haben, irgendeinen Einfluss auf die Zahl der Todesfälle gehabt zu haben.“
Covid has resulted in no excess deaths whatsoever in Sweden. The evidence is clear. The world locked down for a virus that causes zero excess mortality. We locked down for the common cold and acted like it was ebola. https://t.co/Alo4V0srva
— Sebastian Rushworth M.D. (@sebrushworth) October 20, 2020
Rushworth vertritt schon seit einigen Monaten die These, dass alle Länder, ganz gleich wie hart die Restriktionen für die Bevölkerungen sind, am Ende die gleiche Anzahl an Toten durch Covid-19 zu beklagen haben werden und feuert mit Zahlen gegen die wiederholten Lockdowns in Mittel und Südeuropa: „Der vergangene September war für Schweden der Monat mit der niedrigsten Sterblichkeit pro Einwohner aller Zeiten. Das Jahr 2020 ist bisher das Jahr mit der drittniedrigsten Sterblichkeit pro Einwohner aller Zeiten“. Und die Schweden wären bekannt für ihre genauen Statistiken, unterstreicht er. Bezogen auf die Bevölkerungszahl gab es im Januar 2000 mit einer Sterblichkeitsrate von 110,8 Todesfälle pro 100 000 Einwohner mehr Todesfälle als im April 2020 mit Covid-19. Da waren es 101,1 Todesfälle pro 100 000 Einwohner. Die schwedischen Covid-19-Opfer wurden im Median 86 Jahre alt und liegen damit im Bereich der üblichen Lebenserwartung im Land: „Das und die fehlende Übersterblichkeit im Vergleich zu den Vorjahren deuten an, dass viele vulnerable Menschen, die 2020 ohnehin verstorben wären, zu diesen Opfern gehören. Gleichzeitig sterben in Schweden 250 Menschen pro Tag an anderen Ursachen. Covid-19 ist momentan nur für 1,2% der Todesfälle in Schweden verantwortlich, erhält aber wahrscheinlich 99% der Aufmerksamkeit. Wir müssen eine gewisse Perspektive wahren, Zahlen in Relation setzen, um Gefahren richtig einschätzen zu können.“
Und große Gefahren für die Gesundheit der Bevölkerung sieht der 37-Jährige eher in weiteren Lockdowns: „Die Menschen müssen die Maßnahmen auch über einen längeren Zeitraum aushalten können. In vielen europäischen Ländern wird protestiert und man liefert sich auch schon Auseinandersetzungen mit der Polizei, etwa in Italien oder Spanien“. Tegnell hätte immer wieder darauf hingewiesen, dass es sich um einen Marathon handele, keinen Sprint. Und Rushworth liefert weitere Argumente: „In einer britischen Regierungsstudie rechnet man langfristig mit 200.000 Toten allein durch den ersten Lockdown, aufgrund von Verzögerungen im Gesundheitswesen und den wirtschaftlichen und sozialen Folgen.“ Dr. Scott Atlas, Chef der Neuroradiologie an der Universität Stanford, nannte Lockdowns kürzlich in Bezug auf verlorene Lebensjahre der Gesamtbevölkerung eine völlig destruktive Politik.
Dass Schweden dünner besiedelt und nicht vergleichbar wäre, dem sei nicht so: „Das gilt für den nördlichen Teil im und am Polarkreis. Schwedens Bevölkerung konzentriert sich auf die Küsten der südlichen Hälfte und hat einen Urbanisierungsgrad von 87 Prozent, zehn Prozent mehr als Deutschland.“ Auf Twitter setzte der praktizierende Arzt sogar noch einen drauf: „Lockdowns für einen Virus, der keine Übersterblichkeit in Schweden erzeugt?“ Es handele sich doch offensichtlich eher um eine „herkömmliche Erkältung, einen saisonalen Virus, als um Ebola“. Und in Schweden hätten in einigen Regionen schon genug Menschen Immunität aufgebaut: „Es gibt als Immunantwort nicht nur Antikörper, sondern auch die viel schwerer nachzuweisenden T-Zellen“, sagt Rushworth. Trotz zuletzt massiv steigender Fallzahlen im Großraum Stockholm gäbe es bisher nur einige wenige neue Covid-19-Patienten in den Intensivstationen: „Und ich gehe davon aus, dass es lange nicht mehr so viele Todesfälle geben wird, wie seinerzeit.“ Bisher hat er damit Recht behalten, auch wenn davon in den deutschen Leitmedien nichts zu lesen ist.
Bilder: RolandL/ Oleksiichik/ Basel Al seoufi/ Shuttstock
Text: Gast