(Selbst-)Kastrierter Journalismus

Das ganze Wochenende war die kritische Corona-Analyse aus dem Innenministerium das beherrschende Thema in den Internet-Medien, die von Kritikern und Anhängern als „alternativ“ bezeichnet werden. Das Papier eines Mitarbeiters hat es in sich, weil es massiv die Corona-Maßnahmen der Regierung kritisierte. Die großen Medien befassten sich mit ihm zunächst nur am Rande und eher abfällig.

Gestern sorgte dann die Reaktion der für das Papier befragten Ärzte und Wissenschafter für Aufregung, in dem diese sich über den Umgang mit der Analyse beschwerten und massive Kritik am Innenministerium übten. Unterschrieben hatte den Protest auch ein Mitglied der „Leopoldina“-Akademie, für die auch Merkels Mann tätig ist und auf die die Kanzlerin große Stücke hält. Spätestens jetzt ließ sich die Version, es handle sich bei den Experten nur um Verschwörungstheoretiker und Spinner, nicht mehr halten. Nun kamen auch die großen Medien nicht mehr umhin, über die ganze Sache prominent zu berichten. Der FOCUS brachte einen großen Aufmacher auf seiner Internet-Seite. Der Artikel ist ein Musterbeispiel dafür, wie Informations-Nebelkerzen aussehen, mit denen von inhaltlicher Debatte und problematischem Handeln der Regierung abgelenkt und der Leser in eine bestimmte Richtung geleitet wird (meine Kurz-Analyse dazu finden Sie hier).

In dem umstrittenen Papier aus dem Ministerium heißt es unter anderem: „ Die nahezu durchgängige positive Resonanz der Medien insbesondere auf jegliche Aktivität der Bundeskanzlerin, egal was sie gerade ankündigte und wie und mit welchem Timing sie ihre Haltung zu bestimmten Fragen als alternativlos darstellte oder auch änderte, bestätigt leider negative Vorurteile über die Presse. Als Korrektiv für Fehlentwicklungen z.B. in einem suboptimalen Krisenmanagement scheint der übergroße Teil der (freien) Presse mehr oder weniger unbrauchbar.“

So ist es fast schon tragikomisch, dass genau dieses Urteil am heutigen Mittwoch auf der Bundespressekonferenz haargenau bestätigt wurde. Innenminister Horst Seehofer (CSU), der dort vor der versammelten Hauptstadtpresse auftrat, wurde erst nach ca. 30 Minuten und eher beiläufig zu dem Corona-Papier gefragt (anzusehen hier bei WELT TV). Der fragende Journalist nannte das Papier „ominös“, um gleich seine Einstellung klar zu machen, und fragt nur nach dem Mitarbeiter: „Wie schätzen Sie den Mitarbeiter ein? Kannten Sie ihn vorher? Wie bewerten Sie den Vorgang?“ Kein einziges Wort in der Frage betraf den Inhalt des Papiers. Oder den Protest der Experten. Solche Fragen sind kein Journalismus, sondern willfährige Stichwort-Geberei für die Befragten. Seehofer beantwortete die Frage zunächst gar nicht. Erst nachdem er daran erinnert wurde, ging er darauf ein. Und dann teilweise mit genau den Punkten, die in dem oben erwähnten Focus-Bericht standen und von der Problematik ablenken. Seehofer sagte kein einziges Wort zum Inhalt des Papiers. Sein Staatssekretär Engelke sagte dann sogar noch ausdrücklich: „Es geht nicht um Inhalte.“

In so einer Situation drängt sich natürlich eine Nachfrage auf. Die kam dann auch. Und bezog sich wieder nur auf den Mitarbeiter bzw. den Konsequenzen für diesen. Als Seehofer auswich, kam noch eine zweite Nachfrage. Nun wollte der Journalist wissen, welche Sanktionen denkbar seien gegen den Mitarbeiter. Es klang so, als ob er sich diese wüsche, wenn nicht gar fordere. Nur der Bild-Journalist Peter Tiede fragt dann kurz nach den Inhalten des Papiers. Seehofer sagt: „Die teile ich nicht“.

Was in einer funktionierenden Demokratie mir Medien, die ihre Wächterfunktion wahrnehmen, das große Thema gewesen wäre – mögliche massive Fehler bei den Corona-Maßnahmen – wurde in Deutschland 2020 zum Nebenaspekt und füllte nur sechs Minuten der 70-minütigen Pressekonferenz. Es gab keine einzige kritische Nachfrage zum Inhalt, nicht einmal den Versuch, den Finger in die Wunden zu legen, wie es journalistische Pflicht gewesen wäre. Dafür interessierte andere Themen wie Fußball oder Flüchtlinge die versammelten Journalisten gefühlt mehr als der Verdacht, dass die einschneidenden Corona-Maßnahmen mit ihren weit reichenden Folgen übertrieben waren und so massiver Schaden entstanden ist. Auch die anderen Fragen wirkten zahm, und erinnerten mich mehr an Nachfragen von Schülern an den Lehrer als an Kontroll-Ausübung der vierten Macht im Staat, die der Regierung auf den Zahn fühlen muss. Die Pressekonferenz belegt eindeutig, wie (selbst-)kastriert weite Teile unsere Medien sind.


Bild: Screenshot WELT

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