Nach der Stuttgarter Krawallnacht am 21. Juni, bei der Teile der Innenstadt verwüstet und zahlreiche Polizisten verletzt wurden, gaben sich die Verantwortlichen sicher: In Zukunft würden sie so etwas vermeiden können. Eine Woche später konnte dann nur ein Großaufgebot die öffentliche Ordnung in der Schwaben-Hauptstadt aufrecht erhalten. Und der Einsatzleiter der Polizei meinte, diese neue Realität – also die Innenstadt als Hochsicherheitstrakt, sei „eine durchaus normale Samstagnacht“. Eine bemerkenswerte neue Normalität.
Dieses Wochenende kam es in der Innenstadt von Stuttgart erneut zu mehreren Auseinandersetzungen. Und das Medienecho ist überraschend gering – und es wird auf erstaunliche Weise der Fokus verschoben. Elf Menschen musste die Polizei in der Nacht zum Samstag festnehmen. Vier Polizisten wurden verletzt, aber erfreulicherweise nur leicht. Der Auslöser ähnelte hier zumindest in einem Fall dem vom 21. Juni: Wieder gab es eine Kontrolle, diesmal eines betrunkenen 16-Jährigen. Dieser leistete Widerstand. Vier Verdächtige wurden zudem bei einem Streit unweit vom Marienplatz festgenommen. Bei einer Schlägerei am Landtag wurde ein Mensch schwer verletzt, auch hier gab es Festnahmen. Die Polizei hatte mehr als 200 zusätzliche Beamte im Einsatz. Wie schon am 21. Juni gab sich die Behörde zunächst sehr wortkarg. Wie es zu den Auseinandersetzungen kam, sei unklar. Ein Polizeisprecher sagte, die genauen Abläufe seien Teil der Ermittlungen, und die Betroffenen würden noch vernommen.
„Stuttgart: Bloß nicht Roß und Reiter nennen!“ – das war die Überschrift zu meinem Beitrag zu Stuttgart am 22. Juni. Ich kritisierte darin unter anderem, dass man die Wurzeln von Problemen schlecht bekämpfen kann, wenn man sich scheut, sie zu benennen. Im konkreten Fall wurde mit beinahe akrobatischen, sprachlichen und semantischen Verrenkungen vermieden, Klartext zu reden – dass es sich bei den Randalierern vorwiegend um Migranten bzw. deren Kinder handelte. Die Polizeiführung sprach von „Party- und Eventszene“.
Einiges spricht dafür, dass zumindest die Polizei da jetzt umdenkt, zumindest ansatzweise. Umso bemerkenswerter ist, dass diese Versuche, „Ross und Reiter“ zumindest in Erfahrung zu bringen, jetzt in vielen Medien mehr Aufmerksamkeit auslösen als die neuerlichen verletzten Polizisten. Bei einer google-Suche nach Nachrichten zu Stuttgart und Polizisten sind am Sonntag (Stand 12. Juli 2020, 14 Uhr) nicht etwa die verletzten Polizisten von diesem Wochenende die zentralen Fundstücke – sondern ganz andere Berichte:
Die Schlagzeilen bei n-tv heute: „Nach Krawallnacht in Stuttgart: „Mitten in die Debatte um Racial Profiling platzt der Stuttgarter Polizeipräsident mit seinem Plan, die genaue Herkunft von Tatverdächtigen aus der Krawallnacht Ende Juni recherchieren zu wollen. Politiker auf Stadt- und Bundesebene reagieren empört. Doch die Behörde verteidigt sich.„ Ähnlich bei vielen anderen Medien. Etwa beim Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND), bei dem die SPD zu den Eigentümern gehört, wovon aber möglicherweise ein Großteil der Leser der mehr als 50 Zeitungen gar nichts ahnt, die das RND mittlerweile mit Artikeln beliefert.
Im Vorspann des RND-Beitrags steht: „Bei den Ermittlungen zur Krawallnacht in Stuttgart interessiert sich die Polizei auch für die Stammbäume der Tatverdächtigen. Das führt zu massiver Kritik beim Gemeinderat. Auch der Datenschutzbeauftragte prüft den Vorgang.“ Von den neuen Ausschreitungen, von den neuen Verletzten erfährt der Leser dieses Beitrags nichts (und auch nicht bei dem n-tv-Beitrag). Dafür machen die Beiträge zumindest unterschwellig Stimmung gegen die Polizei.
„Racial Profiling“, das den Ordnungshütern zumindest zwischen den Zeilen vorgeworfen wird, „beschreibt Fälle, bei denen Beamte Menschen allein aufgrund von äußeren Merkmalen wie der Hautfarbe kontrollieren“, erläutert n-tv. Was das mit Stammbaumforschung zu tun haben soll, erklärt das Medium nicht. Auch der Tod des US-Amerikaners George Floyd wird in diesem Zusammenhang erwähnt. Und SPD-Chefin Saskia Ecken zitiert: „Das verstört mich nachhaltig.“
Die Gründe der Polizei für ihre Absicht werden etwa im n-tv-Artikel nicht mal ansatzweise erläutert – der Beitrag ist eine einzige Anklage gegen die Behörde. RND gibt die Argumente der Polizei eher formalistisch wieder, ohne wirklich auf die inhaltliche Ebene zu kommen. Das macht die Stuttgarter Zeitung – sie lässt wenigstens einen Verteidiger der Polizei mit inhaltlichen Aussagen zu Wort kommen. Thrasivoulos Malliaras, der Vorsitzende der Jungen Union (JU), wird in dem Blatt wie folgt zitiert: „Wir sind uns alle einig, dass man gezielter in die Präventionsarbeit gehen muss mit allerlei Maßnahmen im Bereich der Straßensozialarbeit.“ Wer gezielter arbeiten möchte, brauche aber genauere Infos – die Herkunftsgeschichten der Tatverdächtigen eingeschlossen.
Dass viele Medien diesen Standpunkt nicht einmal ansatzweise erwähnen, sagt viel über ihre Auffassung von Journalismus aus. Ebenso wie die Tatsache, dass die neuen Verletzten und Ausschreitungen in vielen Berichten völlig verschwiegen werden. n-tv etwa hatte dazu zwar eine eigene, getrennte Meldung in der Rubrik „Panorama“, und auch RND vermeldet die Vorfälle kurz in einem eigenen Beitrag. Aber die Stammbäume sind etwa bei n-tv am Sonntag Mittag die Hauptmeldung, also die erste und größte, wenn man auf die Homepage geht. Zu den verletzten Polizisten findet man auf der Seite dagegen nichts – zumindest nicht beim schnellen Überfliegen. Auch beim RND ist die „Stammbaumforschung“ sofort in den Schlagzeilen zu finden – zu den Verletzten findet man auf Anhieb dagegen nichts:
Die Gewichtung und Platzierung von Nachrichten ist im Journalismus entscheidend. Man kann durchaus korrekt über Einzelfälle berichten, und dann doch in der Gesamtheit die Realität verzerren: Das faktische Verstecken von Nachrichten, das Wegblenden von Zusammenhängen, deren Trennen – all das kann die Wahrnehmung eines Problems in seiner Gesamtheit verzerren. Umgekehrt kann man daran, insbesondere an der Schwerpunktsetzung, sehr gut politische Schlagseiten von Medien erkennen.
Interessant ist auch, warum die Polizei hier ein Wort wie „Stammbaumforschung“ verwendet, bei dem sofort vorhersehbar ist, dass es als Reizwort negative Reaktionen in Deutschland hervorrufen wird. War die Polizeiführung hier wirklich arglos oder wird das Wort taktisch verwendet, wie Norbert Brausse in einem Kommentar hier auf der Seite meint: „Wer darüber nachdenkt weiß doch sofort, welchen Zweck das Ankerwort ‘Stammbaum‘ zu erfüllen hat: Jeden, der in Richtung Migrationshintergrund zu ermitteln gedenkt, sofort als Rassisten zu brandmarken.“
Bild: Pxhere (Symbolbild)