Unsere Meinungsfreiheit – nur noch Selbstbetrug?

Seit ihrem Umzug vor knapp zwei Jahren von Moskau nach Berlin wundert sich Lena, wie viel Sozialismus sie in der deutschen Hauptstadt entdeckt. Als jemand, der in einer Diktatur gelebt hat, hat sie auch ein feines Gespür für Beschränkungen der Meinungsfreiheit. Im Gegensatz zu vielen Deutschen. Wer selbst im Takt mit dem linksgrünen Zeitgeist tickt, hat hierzulande selbstverständlich nicht den Eindruck, in irgendeiner Weise in seiner Meinungsfreiheit eingeschränkt zu sein. Darin bestätigt fühlen sie sich, weil sie regelmäßig kritische Meinungen lesen und hören können. Was diejenigen, die sich so äußern, dafür einstecken müssen, und wie viele sich erst gar nicht trauen, den Mund aufzumachen, ist ihnen dagegen nicht bekannt.

An Weihnachten hatte ich ein sehr bewegendes Gespräch mit einem alten Freund, der früher viele Jahrzehnte in der SPD war. Er hatte mir mit seinen Festwünschen auch seine Unterstützung ausgedrückt, und meinte: „Weiter so!“ Wir kamen dann auch auf die Meinungsfreiheit zu sprechen. „Ich hätte nie gedacht, dass ich noch solche Zeiten erleben muss“, sagte der alte Sozialdemokrat traurig: „Erst kürzlich wollte ich einen Kommentar auf Facebook schreiben, hatte ihn fast fertig, aber mich dann doch nicht getraut, ihn zu veröffentlichen, weil ich mir sagte, da wird es Ärger geben. Danach habe ich mich für mich selbst geschämt, dass ich so feige war.“ Ich sagte ihm, er solle sich nicht schämen. Ich bekomme viele Briefe von Lesern, die mir schreiben. dass es ihnen ähnlich geht. „ Danke für Ihren Mut“, lese ich da oft: „ Sie drücken das aus, was wir auch denken, aber uns nicht (mehr) zu sagen trauen.“

„Wir haben zwar keine Diktatur, aber viele Menschen haben Angst, ihre Meinung zu sagen. So etwas darf es in einer Demokratie nicht geben“, sagte mir ein befreundeter Politikwissenschafter kürzlich: „Da entsteht etwas seltsames Neues“. Kein autoritäres System, aber auch keine klassische, pluralistische, freiheitliche Demokratie mehr? Hatte am Ende gar Bärbel Bohley Recht, die vor einer Wiederkehr von DDR-Methoden im neuen Gewand warnte?

Viele in Politik, Medien und gesellschaftlichen Organisation wie etwa den Kirchen ignorieren die Probleme und Sorgen der Menschen einfach. So schrieb etwa Harry Luck, Pressesprecher des Bamberger Erzbischofs Ludwig Schick, als Kommentar zu meinem Beitrag über die Lanz-Talkshow mit Hans-Georg Maaßen im ZDF, die Sendung widerlege „die hier immer wieder verbreitete These, man dürfe hierzulande dieses und jenes nicht mehr sagen.“

Rainer Kersting entgegnete: „Harry Luck, argumentieren Sie mal, als im öffentlichen Dienst Beschäftigter, so wie Herr Maaßen auf einer Mitarbeiterversammlung. So schnell können Sie gar nicht sehen, wie Ihnen die rot grüne Moralkeule entgegen schwingt und Sie sich beim Arbeitsamt wieder finden ?!“

Marco Molik schrieb: „Sie dürfen alles sagen, nur müssen Sie mit den Konsequenzen rechnen. Als Beispiele füge ich Ihnen an: Die aggressiven Störungen der Vorlesungen von Bernd Lucke. Die Verhinderung einer Buchlesung von Thomas de Maiziere. Fortgesetzte Störversuche gegenüber Prof. Jörg Baberowski. Der Versuch, eine kritische Diskussion zu unterbinden, welche Frau Prof. Schröter organisiert hat. Der Anschlag auf das Auto von Prof. Werner Patzelt. Die Verhinderung eines Vortrags von Christian Lindner an der Uni Hamburg. Jüngstes Beispiel: Ein Vortrag des Journalisten Ralf Schuler an einer Hochschule des Bundes, welcher nicht stattfinden soll. Bei allen diesen Personen handelt es sich um prominente Persönlichkeiten. Was Personen erleben, welche nicht prominent sind, kann man sich also mit wenig Phantasie durchaus vorstellen.“

Das lässt sich weiter ausmalen. Etwa in einer Redaktion im öffentlich-rechtlichen Fernsehen oder Radio, oder bei vielen großen Zeitungen. Und in vielen großen Betrieben. Wer sich als „systemnah“ zu erkennen gibt, mit dem werden natürlich die „Abtrünnigen“ ihre Ängste nicht teilen, und er kann in der Illusion bleiben, alles sei wunderbar. Aber selbst wenn man aufgrund eigener Systemtreue selbst keine negativen Erfahrungen machen kann, muss man gut im Verdrängen sein, um das Problem nicht zu sehen. Spätestens nach der erwähnten Allensbach-Studie. Nach all den vielen Fällen, wo Menschen aufgrund ihrer politischen Ansichten in Probleme kamen – was soweit geht, dass einem ein Mittagessen mit dem Falschen den Job kosten kann, und umjubelte Prominente AfD-Mitgliedern das Menschsein absprechen (mehr zur Problematik in meinem Artikel „Auch Schweigen bereitet den Boden der Gewalt“ im Cicero).

Es ist genau dieses oft in Tateinheit mit Hohn anzutreffende Negieren des Problems, dieses demonstrative, selbstgefällige Wegsehen, das die demokratiefeindlichen Entwicklungen in unserem Land ermöglicht und beschleunigt. Das unsere Gesellschaft zerreißen wird. Denn dass ausgerechnet diejenigen, Journalisten, Politiker und Prominente, die selbst wesentlich (mit)verantwortlich sind für massive Verengung unserer Meinungskorridors, die Menschen mit anderen Meinungen als „Nazis“ oder „Rechte“ diffamieren, ja entmenschlichen, über ihre Opfer auch noch lustig machen und ihnen den Leidensdruck absprechen, ist nicht nur menschlich schäbig – es ist Sprengstoff für die Demokratie.

Ich empfehle all denen, die das Problem abstreiten, einen Selbstversuch. Sie sollen sich in ihrem Arbeits-, Kollegen- und Familienkreis als AfD-Sympathisanten „outen“, massive Kritik an der Zuwanderung und an Angela Merkels Flüchtlingspolitik äußern, in Tateinheit mit Sympathie für Maaßen, und den Islam so kritisieren, wie hierzulande das Christentum und seine Vertreter kritisiert werden, vorzugsweise in Berlin-Neukölln. Für Softies könnte auch schon der Schongang ausreichen – ein öffentliches Bekenntnis zu Positionen, die noch vor kurzem in Deutschland von prominenten Vertretern der großen Parteien geäußert wurden – ob Angela Merkels Satz von 2003, dass „Multi-Kulti absolut gescheitert“ sei, oder die Aussage von Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt von der SPD 2005, „wir müssen eine weitere Zuwanderung aus fremden Kulturen unterbinden“. Nach diesem Selbstversuch können wir uns dann gerne über Meinungsfreiheit unterhalten. Vorher kann ich viele leider nur so ernst nehmen wie einen Nicht-Schwimmer mit Höhenangst, der sagt, vom Zehn-Meter-Brett zu springen sei doch eigentlich die einfachste Sache der Welt: Es gebe doch jeden Tag Leute, die das machen.

Das Unverständnis der Probleme hat auch etwas mit Infantilität zu tun – mit einem schwarz-weißen Blick auf die Welt und Geschichte. Und so sage ich jetzt etwas, was viele wundern oder gar schockieren wird: Auch in Putins Russland darf man fast alles sagen. Ich konnte im russischen Staatsfernsehen vor einem Millionenpublikum kritisieren, dass Putin und die Führung des Landes korrupt seien. Ich wusste, worauf ich mich einlasse. Und ich weiß, dass viele das nicht tun. Was ich bestens verstehen kann.

Ich lese gerade die Autobiographie von meinem väterlichen Freund Wladimir Woinowitsch, dem großen russischen Schriftsteller. Dort erzählt er, wie im Krieg in einem riesigen Schlafsaal vor vielen Mitbewohnern eine Frau übelst auf Stalin schimpfte. Die Frage ist eben immer und überall, welchen Preis man bezahlt für seine Meinungsfreiheit. Und ob man Glück hat (der Frau aus der Autobiographie ist übrigens nichts passiert, weil sie niemand verpfiff).

Bevor jetzt hier einige in Schnappatmung verfallen und in typischer neudeutscher Aufregungs-Manier Vergleich und Gleichsetzung unterstellen und in einen Topf werfen: Das Geschriebene ist weder das eine, noch das andere, sondern einfach eine Schilderung von Fakten. Jemand, der noch halbwegs bei Verstand ist, käme nie auf die Idee, die Verhältnisse in Deutschland 2019 mit einer klassische Diktatur zu vergleichen. Fakt ist aber auch, dass wir hierzulande beängstigende Entwicklungen erleben, die in manchem denen gleichen, die Diktaturen vorausgegangen sind. Deshalb müssen wir so wachsam sein und dürfen nicht schweigen. Die Geschichte lehrt uns, dass wir uns der Anfänge erwehren müssen – statt sie ständig zu beschönigen, mit dem ebenso wahren wie gefährlichen und irreführenden Verweis darauf, im nationalen und internationalen Sozialismus sei alles viel, viel schlimmer gewesen.

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