Eines vorweg: Obwohl ich in jungen Jahren selbst im Verein Fußball spielte, bin ich alles andere als ein Fachmann. Und erst recht keiner der Millionen Freizeit-Bundestrainer in Deutschland. Deshalb maße ich es mir nicht an, zu urteilen, ob das Handspiel von Spaniens Nationalspieler Marc Cucurella im Viertel-Finale der Europameisterschaft gegen Deutschland am Freitagabend elfmeterwürdig war oder nicht. Selbst bei Schiedsrichtern gehen da die Meinungen auseinander. Genauso wie bei dem Handspiel Tage zuvor im Achtelfinale gegen Dänemark – als die Entscheidung des Unparteiischen anders als im Viertelfinale zu Gunsten Deutschlands ausfiel. Das einzige Urteil, das ich mir anmaße: Die aktuellen Handspielregeln sind in meinen Augen unausgegoren und fragwürdig. Insbesondere dann, wenn eine einzige unabsichtliche, unglückliche Handbewegung wichtige Spiele entscheiden kann.
Aber um all das geht es heute und hier nicht.
Es geht um den unglaublichen Realitätsverlust, der in Deutschland inzwischen allgegenwärtig ist. Und der quasi von der Politik auch auf den Sport und Millionen Sportfans übergegriffen hat.
Denn ganz egal, ob man eine Schiedsrichter-Entscheidung für richtig hält oder falsch – im Endeffekt muss man sie akzeptieren. Wer etwas philosophisch herangeht, dem fällt das leichter – weiß er doch darum, dass sich längerfristig Benachteiligungen und Bevorzugungen ausgleichen. So hätte etwa in demselben Viertelfinale gegen Spanien Deutschlands Superstar Toni Kroos schon viel früher die gelbe Karte und später womöglich auch die gelb-rote sehen können. Und dem umstrittenen Handspiel von Cucurella, dem Mann mit der imposanten Mähne, war möglicherweise eine Abseitsposition eines deutschen Spielers vorausgegangen – womit das besagte Handspiel obsolet wäre.
Doch all das ficht Deutschlands größte Zeitung nicht an – und mit ihr offenbar viele Leser.
Ich traute meinen Augen nicht, als ich heute in der „Bild“ folgende Schlagzeile las: „Petition wegen Elfer-Szene: Hunderttausende fordern Spielwiederholung.“
Sorry, Kollegen von der „Bild“ – aber habt ihr sie noch alle?
Zwei Tage kocht ihr jetzt das Thema hoch. Offenbar ist es gut für die Klickzahlen.
Das sei euch unbenommen. Ebenso wie die Umfrage, die ihr gestattet habt.
Aber allen Ernstes die Werbetrommel rühren für eine völlig absurde Fan-Petition – das ist dann doch der Abgehobenheit etwas zu viel.
Es ist „völlig losgelöst“, um es mit den Worten des 42 Jahre alten deutschen EM-Songs von Peter Schilling zu sagen: Völlig losgelöst von jeder Realität.
Besonders bitter ist, dass die „Bild“ dabei auch noch ihre Leser in die Irre führt. „Sonderlich aussichtsreich ist die Petition dabei nicht“, steht in dem Artikel.
Was für eine Untertreibung!
Die Petition ist komplett aussichtslos.
Das erfährt der Leser dann aber erst später. Erst im allerletzten Satz des Beitrags steht: „Das bittere Aus der DFB-Elf – auch hunderttausende Unterzeichner der Petition werden es nicht rückgängig machen können.“
Die Geschichte ist ein Musterbeispiel für die Realitätsverweigerung bei Teilen der Bevölkerung und der Medien in Deutschland. Und für ihren Gratismut.
Besonders bitter: Bei wirklich drängenden Problemen wie etwa Massenzuwanderung und Gewaltimport halten die meisten Journalisten anders als bei der Schiedsrichter-Entscheidung den Mund. Da wäre auch mehr als Gratismut nötig.
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