Eigentlich soll man über Tote nichts Schlechtes sagen und schon gar nicht schreiben. Wie aber verhält es sich mit dieser Grundregel, wenn ein Toter kurz vor seinem Ableben ein Buch geschrieben hat und dieses erst nach seinem Tod erscheint? Und wenn er in diesem Werk zu einem Rundumschlag ausholt? Und sich noch einmal massiv in die Politik einmischt? Mit ehemaligen Weggefährten abrechnet? Ich finde: In einem solchen Fall muss man jemanden auch nach seinem Tod kritisieren dürfen – weil man ja zu seinen Lebzeiten die entsprechende Chance nicht hatte.
Für mich brachte das Buch vor allem eine Antwort auf eine Frage, die mich seit längerem bewegt hat: Wie konnte jemand wie Wolfgang Schäuble als Konservativer still mitansehen, ja sogar aktiv daran mitwirken, dass unser freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat von Angela Merkel und ihren Genossen ebenso still wie vehement in einen Linksstaat verwandelt wurde? Die zentrale Antwort aus dem Buch: Schäuble macht dort deutlich, dass er gar kein Konservativer war.
Wie sehr sich Schäuble vom Konservatismus distanziert und auf welche Weise, ist geradezu peinlich. Er sei Christdemokrat gewesen, und damit also ein Mann der Mitte, gibt er an. Und er müht sich in dem Buch sichtlich, sich als Vordenker schwarz-grüner Bündnisse darzustellen. So betont er etwa, er habe es nicht begrüßt, dass sich Angela Merkel 2013 für ein Bündnis der CDU mit der SPD statt mit den Grünen entschied.
Das Buch ist ein postumer Kniefall vor den Grünen. Die „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ) etwa schreibt in einer Rezension, die leider für Nicht-Abonnenten nur eingeschränkt verfügbar ist: „Die Grünen, ist sich Schäuble sicher, seien mittlerweile eine etablierte Partei, die sowohl den ökologischen Gedanken als auch die Notwendigkeit gesellschaftlicher Modernisierung fest in der Gesellschaft verankert habe – nicht zuletzt in ihm selbst. Schäuble bekennt: ‘Auch ich habe gelernt, dass es neben Mann und Frau noch mindestens etwas Drittes gibt und dass diese Vielfalt niemanden gefährdet, sondern völlig in Ordnung ist.‘“
Ein Satz, der sitzt.
Und tief blicken lässt.
Schäuble will sich in dem Buch als „verkannter Progressiver“ ausgeben, so das Fazit der NZZ.
Womit er sinnbildlich steht für das Elend von vielen Konservativen, Bürgerlichen und Liberalen: Dass sie sich selbst zu Steigbügelhaltern der rot-grünen Ideologen degradiert haben. In beispielloser Selbsterniedrigung versuchen sie, den Beifall derjenigen zu bekommen, die sie eigentlich politisch bekämpfen müssten. Genau das ist der Grund, warum unser Land heute vor dem Abgrund steht.
Der (Selbst-)Verrat von Schäuble an dem, was wohl einmal sein Anspruch war, ist schockierend. So versucht er etwa, die Ansprüche der AfD auf das Amt eines Bundestags-Vizepräsidenten zu relativieren. Dazu verweist er darauf, dass auch die Grünen erst spät zum Zuge gekommen seien: 1994, als sie eine „normale Oppositionspartei“ geworden seien. Um die AfD außen vorzuhalten, sollten die „Demagogen“, so Schäuble, durch eine Änderung der Geschäftsordnung außen vorgehalten werden. Ganz anders sein Blick nach Linksaußen. Politiker der SED-Nachfolgerin „Linke“ wie Petra Pau oder Jan Korte lobt Schäuble. Zu Recht wundert sich die NZZ, dass der Christdemokrat „dankbar jede Würdigung seiner Arbeit in linken und linksliberalen Medien notiert“.
Womit wir wieder bei der Selbsterniedrigung und dem Kniefall vor Rot-Grün wären. Man könnte auch böse von einem „Einschleimen“ reden.
Auch in Sachen Islam bleibt Schäuble stramm auf rot-grünem Kurs. Er ignoriert die Probleme der von ihm initiierten Islamkonferenz – und versucht sie zu einer Erfolgsgeschichte umzuschreiben. Auch in der Asyl- und Migrationspolitik lobt sich Schäuble selbst und verschließt die Augen vor der Realität. So preist er seine eigene Rolle bei der Neuregelung, dass Asylbewerber unmittelbar in sichere Herkunfts- oder Transitländer abgeschoben werden können. Dass dies faktisch kaum durchgesetzt wurde und wird, ignoriert Schäuble geflissentlich.
Während er den Rot-Grünen gefallen will, attackiert Schäuble in dem Buch heftig Parteifreunde. Edmund Stoiber, so empört er sich, habe ihn dazu bringen wollen, „Merkel zu stürzen, um selbst Kanzler zu werden. Ich lehnte das entschieden ab“. Dass er damit Deutschland viel Elend erspart hätte, ist ihm offenbar nicht bewusst. Bis ins Grab blieb er, wie wir jetzt wissen, treuer Merkelianer.
Doch es kommt noch dicker: Mit der CSU und mit der FDP verband Schäuble laut seinen Erinnerungen „weniger als mit den Grünen. Darum rügt er die ‘Frühvergreisung‘ junger CDU-Politiker, die sich ‘rechts vom Mainstream‘ positionieren. Schäuble wünschte sich die Jugend so, wie sie früher einmal war, grundsätzlich links. Für die Junge Union freilich galt das noch nie“, wie die NZZ seine Aussagen zusammenfasst.
Während er bei Merkel ihre Rücksichtsnahme auf aktuelle politische Stimmungen als politische Beweglichkeit lobt, sieht er genau das gleiche Verhalten bei Kohl überaus kritisch: Man „darf nicht beim ersten Wind umfallen, sondern muss bisweilen gegen schnelllebige öffentliche Stimmungen Kurs halten“.
Sodann tritt der frühere Ziehsohn von Kohl noch einmal gründlich gegen den Mann, der ihm den Weg nach oben ebnete.
Schäubles Buch ist eine Selbstentlarvung. Sie erklärt vieles – insbesondere, wie es zum Linksruck der CDU kommen konnte. Seiner Partei schadet Schäuble, der sich nun postum als „Progressiver“ outete, mit seinem Buch auch noch über seinen Tod hinaus. Und tut damit, so darf man annehmen, Merkel einen letzten Gefallen.
Für künftige Historiker wird das Buch Antworten liefern, wenn sie die Frage untersuchen werden: Wie konnte Deutschland so weit nach links driften und von rot-grünen Ideologen übernommen werden?
Wolfgang Schäuble (mit Hilmar Sack und Jens Hacke):
„Erinnerungen. Mein Leben in der Politik“.
Verlag: Klett-Cotta
Stuttgart 2024.
656 Seiten, 38 Euro.
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