Ein Gastbeitrag von Hubertus Voigt
Die aktuelle Diskussion um das Impfen, die Impfpflicht, Grundrechte und neue Freiheiten, Impfpass, ob digital oder in Papierform, wirft doch erhebliche Fragen auf.
Hintergrund des Lockdowns ist, so wird von Seiten der Bundesregierung und des RKI immer wieder betont, ein Zusammenbrechen des Gesundheitssystems zu verhindern. Glücklicherweise war dies an keinem Tag in den vergangenen 14 Monaten der Fall. Auch heute, mitten in der sogenannten 3. Welle, sind ausreichend Krankenhausbetten vorhanden. Wir haben knapp 2.000 Krankenhäuser in Deutschland. Von den Betten der Normalversorgung waren im letzten Jahr 67,3 % belegt, was einem historischen Allzeittief entspricht. Zugegeben, die Intensivbelegung (Stand 26.04.2021) ist mit 20.716 Patienten in den heute 23.866 zur Verfügung stehenden Betten recht hoch. Davon sind 5.122 SARS-CoV-2-PCR-positive Patienten (nicht unbedingt COVID-19-Patienten).
Neues 'nationales COVID-19 Dashboard' von Universitätskliniken wieder ohne Differenzierung 'wegen' oder 'mit'
Ein neues Projekt der Universitätsmedizin Bonn zeigt auch, dass auf den Intensivstationen dieser 9 sich beteiligenden Universitätskliniken (Bonn, Berlin-Charité, München-LMU, Aachen, Erlangen, Halle, Jena, Leipzig und Ulm) am 27. April (Stand 9.12 Uhr) 82 Patienten, die auf SARS-CoV-2 positiv getestet wurden, lagen, davon 39 Patienten mit Beatmung oder ECMO (extrakorporale Membranoxygenierung, mehr dazu hier). Leider werden auch in diesem Dashboard die Zahlen nicht differenziert ausgewiesen: Ob die Patienten wegen oder mit SARS-CoV-2 auf der Intensivstation liegen, wird nicht mitgeteilt. Dies mag für die Schutzmaßnahmen unerheblich sein, nicht aber für die Beurteilung des Pandemiegeschehens. Da die Universitätskliniken und andere Häuser der Maximalversorgung die Hauptlast der medizinischen Versorgung leisten, sehen wir, dass über Deutschland gesehen auch diese Häuser nicht am Limit kämpfen. Bei einigen Häusern mag dies der Fall sein. Aber fast alle Krankenhäuser versorgen alle Patienten im Regelbetrieb und auch die elektiven, geplanten Operationen finden wie gewohnt statt. Während man dies von anderen wichtigen Bereichen im gesamten Land aktuell nicht sagen kann. Rathäuser sind geschlossen für den Publikumsverkehr, Home Office überall, Schulen im Distanzunterricht.
Wir sehen: Die Medizin in Deutschland in ihrer Breite ist nicht überlastet, bestimmt aber in einigen wenigen Regionen. Überlastet hier aber auch, da die Stellen nicht besetzt sind und viele Betten nicht belegt werden können.
Warum diese Einleitung?
Erst kürzlich hat die Kanzlerin in ihrer Pressekonferenz gesagt, dass bis zum Sommer ca. 50 % der Bevölkerung geimpft sein werden. Und stellte dann weiterhin fest, „wir müssen dann sehen, welche Rechte bekommen Geimpfte“. Aus meiner Sicht ein ganz falscher Ansatz. Es hätte heißen sollen, “welche Rechte können wir den Nicht-Geimpften weiterhin wegnehmen?“ Grundrechte kann man nicht bekommen, die hat man qua Geburt. Es ist traurig, dass demokratisch gewählte Politiker eine solche Einstellung zu den Grundrechten haben. Hier frage ich mich auch, wie es mit dem Amtseid einer Bundeskanzlerin bestellt ist, welcher die Loyalität zur Verfassung beinhaltet.
Ziel ist es, so denken wir uns, dass wir die aktuelle Situation mit dem Lockdown und den Restriktionen hinter uns lassen können und wollen.
Gerade hieß es in einigen Zeitungen, dass wir bereits im September die Herdenimmunität haben können. Zu diesem Ergebnis kommt der Greifswalder Universitätsprofessor für Bioinformatik Lars Kaderali. Dies steht im Gegensatz zu der Aussage von Prof. Dr. Lars Schaade, Honorarprofessor an der Charité und Vizepräsident des Robert-Koch-Instituts in Berlin, während der Bundespressekonferenz am 24.04.2021, dass eine Herdenimmunität nicht erreichbar sei.
Prof. Dr. Klaus Cichutek, ein Biochemiker und seit 2009 Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts, plädiert dafür, die Schutzmaßnahmen auch nach dem Herbst aufrechtzuerhalten. So äußerte er sich am 24.04.2021. Es sei ja noch nicht genau bekannt, wie lange die Immunität durch den Impfstoff halten werde. Dem widerspricht im o.g. Beitrag der Ostsee-Zeitung der Greifswalder Mediziner und Corona-Experte Prof. Dr. Nils-Olaf Hübner: „Das Virus wird dann noch nicht verschwunden sein. … Aber ja, wir werden dann auf die großen Maßnahmen verzichten können. Das brauchen wir dann nicht mehr.“ Wem glaube ich dann mehr? Dem Biochemiker Cichutek oder dem Facharzt für Hygiene und Umweltmedizin Hübner?
Neudefinition des Begriffs 'Herdenimmunität'
Unbemerkt von Vielen kam es im vergangenen Jahr zu einer Neudefinition des Begriffes „Herdenimmunität“. Am 09.06.2020 heißt es auf der WHO-Webseite, dass Herdenimmunität der indirekte Schutz vor einer Infektionskrankheit ist, der erreicht wird, wenn eine Population Immunität entweder durch Impfung oder Exposition erreicht hat. Nun heißt es auf der WHO-Webseite: Herdenimmunität gegen COVID-19 sollte durch eine Impfung erreicht werden, nicht durch eine Exposition gegenüber dem Virus. Begründet wird dies mit den hohen Risiken, die eine Erkrankung mit SARS-CoV-2 mit sich bringen könnte. Gleichzeitig wird aber auch darauf hingewiesen, dass es noch unklar ist, ab welchem Prozentsatz der Durchimpfung eine Herdenimmunität für die aktuelle Viruserkrankung besteht.
Warum schreibe ich dies? Wir werden schrittweise darauf hingelenkt, dass eine Impfung gegen SARS-CoV-2 unumgänglich ist.
Die Kanzlerin bringt schon den 'Inzidenzwert 2.0' ins Spiel
Anscheinend ist die Regierung erpicht darauf, ihre Bevölkerung weiter im Lockdown und zu Hause zu halten. Die Kanzlerin hat bei der Pressekonferenz ebenfalls erklärt, dass bei einer „Durchimpfung“ von 50 % und einem „Inzidenzwert von 100 der eigentliche Inzidenzwert ja 200“ sei. Da die 50 % Geimpften schon nicht mehr COVID-19 bekommen könnten. Da die Kanzlerin nun letzte Woche aber den Inzidenzwert im Gesetz festgehalten hat (ich frage mich, wann Karlsruhe hier reagiert und dieses Gesetz bewertet), kann nun spielend und auf lange Sicht der Inzidenzwert noch höhergeschraubt werden. Irgendwann kommt dann auch noch die „gefühlte Inzidenz“ auf uns zu.
Zudem: Die Kanzlerin ist Physikerin und hat damit bestimmt auch einige Kurse Mathematik belegt. Wie sie jetzt den Wandel des Inzidenzwertes vorsieht, ist medizinisch-mathematisch nicht haltbar, da sich der Inzidenzwert nicht auf die Gruppe der Geimpften oder Nicht-Geimpften herunterbrechen lässt. Er ist das Maß einer relativen Häufigkeit, z.B. von neu auftretenden Erkrankungsfällen, in einer Population innerhalb einer bestimmten Zeitspanne.
Die Kanzlerin plant aber jetzt schon vor, dass den Nicht-Geimpften, die ein Angebot erhalten haben, aber abgelehnt haben, weiterhin Rechte verwehrt werden können – dies sei ja deren „individuelle Entscheidung“. Somit fordert sie indirekt die Impfpflicht, sonst verbleiben die Nicht-Geimpften im Dauerlockdown. Was für Aussichten? Eine Impfpflicht kann es aus meiner Sicht nicht geben (s.u.), bei Vorliegen einer Herdenimmunität haben alle Schranken zu fallen. Wenn die Risikogruppen durchgeimpft sind und viele sich freiwillig impfen lassen, dann entfällt auch die aktuelle Begründung zum Lockdown, dass das Gesundheitswesen in Deutschland zusammenbrechen könnte.
Grundrechtliche Probleme zur Impfpflicht und Vorzeigen der Negativtestergebnisse
Wir werden langsam darauf vorbereitet, dass die Nicht-Geimpften vom öffentlichen Leben ausgeschlossen werden sollen. Aber dies ist ja „selbst gewählt“. So wird natürlich versucht, die Impfpflicht zu umgehen in der Hoffnung, dass dann alle sich impfen lassen, nur um wieder in ein Buchgeschäft, ein Restaurant oder mal ins Kino zu gehen. Gleiches gilt für die Kinder, deren Impfung jetzt auch ins Gespräch gekommen ist. Meine Schwiegereltern wollten sich eigentlich nicht impfen lassen, haben dies aber aufgrund des sozialen Drucks durch deren Freunde getan, weil diese sich mit Nicht-Geimpften nicht mehr treffen wollten. Soweit sind wir schon gekommen.
Die Erfahrung mit COVID-19 und deren Auswirkung sind einerseits noch unzureichend, um eine Verpflichtung zu diesem Zeitpunkt bereits festzulegen. Zum anderen sind in den vergangenen 14 Monaten die Daten über Infektiösität und Letalität immer weiter nach unten korrigiert worden, auch vom RKI. Mit welchen Argumenten möchte die Regierung eine Impfpflicht stützen? Regelhaft spricht die STIKO (Ständige Impfkommission, angesiedelt am Robert-Koch-Institut) entsprechende Empfehlungen aus, die bisher den Ländern als Grundlage von Impfempfehlungen dient. Sollte es zu einer Impfpflicht statt zu einer Impfempfehlung kommen, wäre eine demokratische Legitimation der STIKO erforderlich – die hat sie aber nicht. Hinzukommt, dass die bereits jetzt praktizierte Notwendigkeit zum Vorlegen einer Impfbescheinigung oder eines Negativ-Schnelltests, wie dies in Bayern beschlossen wurde, nicht aufgrund eines Gesetzes erfolgt, sondern aufgrund eines Kabinettsbeschlusses. Die Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts erlaubt dies ausdrücklich nicht, wonach die Eingriffe in das Grundrecht hinreichend deutlich im Parlamentsgesetz selbst definiert sein müssen.
Die Pflicht, Impfschutz herzustellen und auch nachzuweisen, müsste den allgemeinen rechtsstaatlichen und demokratischen Anforderungen genügen, die an ein grundrechtsbeschränkendes Gesetz zu stellen sind. Das gilt auch für die Nachweis- bzw. die akzessorischen Einhaltungspflichten, die als grundrechtsbeschränkende Folgeeingriffe den ursprünglichen Grundrechtseingriff verstärken.
Eine Impfpflicht tangiert mehrere Grundrechte. Es sind betroffen das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) (auch der Kinder) und das grundrechtlich geschützte Elternrecht, sollten Kinder auch geimpft werden (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG). Es handelt sich um Grundrechte, auf die sich alle Menschen berufen dürfen. Für die Ärzte und Ärztinnen, die in die Umsetzung der Impfpflicht eingebunden wären, ist darüber hinaus die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) tangiert.
Eine Impfpflicht einzuführen, vor allem bei nahezu erreichter Herdenimmunität, würde besondere Hürden für den Gesetzgeber stellen. Ich deute den Druck von Seiten unserer Regierung so, dass sie Angst hat, dass sich zu viele Menschen einer Impfung verweigern, da die Langzeitfolgen einer Impfung noch nicht absehbar sind.
Daher sind die aktuellen Diskussionen um Impfpflicht und entsprechende Schnelltestnachweise für mich brisant und in ihrer Datengrundlage und mit Blick auf die rechtlichen Voraussetzungen fragwürdig.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Hubertus Voigt ist Arzt in leitender Funktion an einer großen deutschen Klinik und möchte anonym bleiben.
Bild: ShutterstockText: Gast
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