Ein Gastbeitrag von Ekaterina Quehl. Die gebürtige Petersburgerin lebt seit über 15 Jahren in Berlin.
Vor ein paar Tagen ist mir aufgefallen, dass ich eine Nachbarin, die bei uns in der Nähe wohnt, schon lange nicht gesehen habe. Es ist eine alte Dame, die nach meinem Wissen allein wohnt. So habe ich gestern Abend bei ihr geklingelt. Niemand hat mir die Tür aufgemacht. Deshalb habe ich ihr einen Zettel mit einem Hilfeangebot vor der Tür gelegt.
Heute früh hat die alte Dame bei mir angerufen und erzählt, dass sie erkrankt sei. Seit Tagen habe sie Fieber, Gliederschmerzen, Hustenanfälle, an denen sie fast erstickt, und furchtbare Halsschmerzen. Ihr Pflegedienst sei zur üblichen Zeit nicht gekommen und habe sich auch bei ihr nicht gemeldet. Sie habe Angst, dass sie das Pflegepersonal angesteckt hat. Bei ihren Allgemeinärzten gehe niemand ans Telefon und die Nummer 116117 sei völlig überlastet. Also habe sie aufgegeben, nach Hilfe zu suchen und habe sich praktisch freiwillig in Quarantäne begeben – sie sei früher Krankenschwester gewesen und verstehe deshalb ihre Lage vollkommen.
Wir haben vereinbart, dass ich für sie Lebensmittel einkaufe und vor ihre Tür stelle. Dann habe ich überlegt, wie ich für die Dame einen Arzt organisieren kann. Als erstes habe ich die 116117 gewählt. Dort hat mir eine freundliche Anrufbeantworter-Stimme erzählt, was es für ein Dienst ist, wo ich wissenswerte Informationen über das Corona-Virus im Internet finden kann und wie ungewöhnlich stark der Dienst derzeit überlastet sei, weshalb es zu längeren Wartezeiten kommen kann. Nach ca. einer Minute musste ich meine Postleitzahl eingeben; dann wurde ich zum Dienst in meiner Region weitergeleitet.
Nach der Weiterleitung erzählte mir eine andere freundliche Stimme, was es für ein Dienst ist, wo ich wissenswerte Informationen über das Corona-Virus im Internet finden kann und wie ungewöhnlich stark der Dienst derzeit überlastet ist, weshalb es zu längeren Wartezeiten kommen kann. Ich habe mir die Schleife drei Mal angehört und nach einigen Minuten aufgelegt – im Klaren darüber, dass ich bei dieser Auskunft nicht viel erreichen werde. Dann habe ich bei der Feuerwehr angerufen und über die alte Dame erzählt. Die freundliche Stimme am Telefon hat mir gesagt, dass sie die Daten und die beschriebenen Symptome an die Kassenärztliche Vereinigung weiterleitet und dass sich möglicherweise schon heute ein Arzt bei der Dame meldet.´
Das passierte dann auch. Die alte Dame hat mir am Telefon erzählt, dass der Arzt sie über die Symptome befragt und ihr empfohlen hat, viel zu trinken und zu schlafen und – sollte es ihr nach dem Schlafen nicht besser gehen – nochmal anrufen. Von Vorbei-Kommen und einem Test hat der Arzt nicht gesprochen.
Ich habe einen Bekannten, der Mediziner ist, gefragt, ob die alte Dame, die bekanntlich zu der Risikogruppe gehört, mit solchen Beschwerden nicht unbedingt medizinische Hilfe brauche. Völlig aufgeregt schrie er mich an, es sei nicht notwendig, die Dame habe doch höchstwahrscheinlich keinen Kontakt mit einem Infizierten gehabt, es sei bestimmt eh nur ein grippaler Infekt. Er würde der Dame das Gleiche empfehlen wie der Notarzt von der Feuerwehr, der sie angerufen hatte. Auf meine Frage, ob es dennoch nicht notwendig wäre, bei solchen Symptomen die Dame unbedingt zu testen, zumal sie auch bis vor kurzem Pflegepersonal besucht hat und auch das Haus verlassen hat, hat mein Bekannter dann gesagt, dass alle ärztlichen Dienste komplett überlastet seien und ein Test überhaupt nichts bringen würde. Sie sei doch krank, so oder so. Und ob es Corona ist oder Grippe, spiele keine große Rolle.
Seit Wochen lese ich in Zeitungen und höre auf Pressekonferenzen, wie wichtig es ist, dass wir gerade auf alte Menschen in unserer Nähe aufpassen und ihnen – wo es nur geht – Hilfe anbieten sollten. Seit Wochen höre ich, wie anfällig alte Menschen für diese Erkrankung sind und wie wichtig es ist, sie zu schützen. Und gerade als ich hier schreiben wollte, dass ich sehr, sehr hoffen möchte, dass meine Geschichte eine gravierende Ausnahme von der tatsächlichen Situation ist und dass sie die Realität nicht widerspiegelt, da hat mir mein Freund folgende Nachricht weitergeleitet: „…bei uns kommt gerade eine Meldung rein, dass Leute von Haus zu Haus gehen und sich als Leute vom Gesundheitsamt ausgeben. Sie sind ausgerüstet mit Mundschutz, Schutzanzug u.s.w. (Sieht ziemlich echt aus) und wollen die Menschen testen und in deren Wohnung gelangen. Diese Leute sind NICHT vom Gesundheitsamt. Es sind Betrüger, die sich die momentane Verunsicherung und Angst der Menschen zu Nutze machen. Bitte aufpassen und die anderen bitte informieren.“
Nach dem Erscheinen dieses Artikels gab es Hilfsangebote von Lesern. Die alte Frau hat inzwischen ein Arzt besucht. Er habe sie zwar mit „in die Statistik aufgenommen“, aber keinen Test gemacht. Es geht der Dame besser und sie hofft, dass sie das Schlimmste überstanden hat und bedankt sich herzlich bei den Menschen, die ihr so schnell geholfen haben.Sie hat gesagt, dass die Lebensmittel, die ich ihr gebracht habe, ihr sehr geholfen haben, denn sie habe seit einigen Tagen so gut wie nichts gegessen. Schauen Sie sich um, vielleicht gibt es jemanden in Ihrer Nähe, dem Sie in diesen schweren Zeiten schon mit einer kleinen Geste helfen können.
Dieser Artikel ist auch auf dem Blog der in Berlin lebenden, gebürtigen Petersburgerin von Ekaterina Quehl „Mein Leben in den Zeiten von Corona“ erschienen, den ich sehr empfehle.
Bild: pressfoto/freepik, privat.