Ein Gastbeitrag von Gregor Amelung
Die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA erfasst in ihrer Datenbank alle Meldungen, die sie zu »Verdachtsfällen« auf Arzneimittelnebenwirkungen von nationalen Behörden wie dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI) übermittelt bekommt. Und während das PEI bei seiner Datenaufbereitung eher den Weg beschreitet, die Veröffentlichung der Zahlen zeitlich hinauszuzögern und sich in semantischer Schönfärberei zu üben, hat die EMA ein visuelles Daten-Labyrinth angelegt, das den Datenstand und die Kernzahlen nur schwer erkennen lässt.
Ein Daten-Labyrinth mit Fallstricken
Am 1. Mai gab die EMA zu den registrierten »Verdachtsfällen auf Nebenwirkungen« bei den Corona-Impfstoffen folgende Zahlen an:
Die Daten der ersten Spalte stammen aus den Ländern des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR), der auf Englisch die Abkürzung EEA für European Economic Area trägt. Zu diesem Verbund zählen alle 28 EU-Mitgliedsstaaten sowie die EFTA-Länder Norwegen, Island und Liechtenstein. Darüber hinaus verwaltet die EMA auch Daten aus dem »Non European Economic Area«, die oben in der Tabelle unter »Nicht EWR / EEA« aufgeführt sind.
Wie diese Fälle ausgewiesen sind, trägt nicht gerade zur Orientierung des interessierten Laien bei. Und auch nicht zu seiner Beruhigung, denn viel zu schnell fällt ihm die erschreckend hohe Summe aus EWR und Nicht-EWR ins Auge. Insgesamt 384.178 Fälle.
5.317 deutsche BioNTech-Fälle nicht bei der EMA registriert
Bezogen auf Deutschland selbst finden sich in den EMA-Daten nicht erklärbare Lücken. So enthält beispielsweise der Bericht des deutschen Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) vom 9. April 2021 alle »Verdachtsfälle« auf Impfnebenwirkungen bis zum 2. April. Trotzdem sind diese Daten noch nicht vollständig im Datenbestand der EMA enthalten. So gibt die EMA beispielsweise für den BioNTech-Impfstoff 7.092 Verdachtsfälle in Deutschland an (Stand 1. Mai 2021). Demgegenüber gibt das PEI in seinem »Sicherheitsbericht« vom 9. April 12.409 »Verdachtsfälle« an. Somit sind 5.317 »BioNTech-Fälle« (43 Prozent) aus dem PEI-Datenbestand noch gar nicht bei der EMA angekommen.
Auch ein Vergleich der Gesamtzahl aller Meldungen zu den in Deutschland eingesetzten Corona-Impfstoffen gibt Rätsel auf. Offenbar ist der Datenbestand der EMA bezogen auf Deutschland lediglich auf dem Stand von Ende Februar.
Holländer 18-mal 'meldefreudiger' als Deutsche
Ähnlich irritierend fällt ein Vergleich der EMA-Zahlen zwischen einzelnen Ländern aus. So liegen Deutschland, Italien und die Niederlande, was die Durchimpfung der Bevölkerung in Prozent anbelangt, etwa auf gleichem Niveau.
Trotzdem schwanken die EMA-Fallmeldungen zwischen den drei Ländern erheblich. Die Deutschen scheinen extrem “meldefaul“ zu sein im Vergleich zu den 6-mal ”meldefreudigeren“ Italienern. Noch krasser fällt der Vergleich mit unseren niederländischen Nachbarn aus. Sie sind rein rechnerisch 18-mal so “meldefreudig” wie wir Deutschen.
Mit diesen Schwankungen und dem offensichtlichen Daten-Nachlauf (zum Beispiel vom PEI) entziehen sich die Zahlen des EMA-Labyrinths – bewusst oder unbewusst – einer Bewertung. Und selbst wenn beide Mängel behoben wären, ließen sich die Zahlen immer noch nicht in Relation zu den verabreichten Impfdosen setzen, denn den EMA-Zahlen fehlt ein festes Datum. Das EMA-Datum »1. Mai 2021« ist lediglich ein ”bisher eingesammelt“-Datum, mehr nicht.
Und so lässt sich nur mit einem Trick aus dem Meldeaufkommen der EMA auf das Risiko der neuen Corona-Impfungen schließen. Denn die EMA hat auch in den Jahren zuvor Buch geführt und zwar über Nebenwirkungen von allen Arzneimitteln, wozu neben Medikamenten eben auch Impfstoffe gehören.
Vergleich mit den Jahren zuvor
Betrachtet man nun die EMA-Daten für den EWR und stellt in Rechnung, dass Großbritannien mit seinem Austritt aus der EU am 31. Januar 2020 nicht mehr Teil des EWR ist, dann ergibt sich ein ziemlich gleichbleibendes Niveau an Meldungen zu Arzneimittel-Nebenwirkungen pro 1.000 Einwohner in den vergangenen drei Jahren.
Bis zum Beginn der Impfkampagne registrierte die EMA also äußerst gleichbleibende Zahlen. Über drei Jahre hinweg, in denen ebenfalls Millionen Menschen geimpft worden sind; in Deutschland waren es alleine 2019 knapp 40 Millionen (39,7 Mio. DDD, Tagesdosen). Und auch Medikamente wurden in diesem Zeitraum eingenommen und neu eingeführt; in Deutschland 2019 insgesamt 25 neue Präparate, im Jahr davor waren es 36.
Und auch im letzten Jahr präsentierten sich die EMA-Zahlen stabil. So registrierte die EMA während der Corona-Krise von April 2020 bis Dezember 2020 durchschnittlich 10.847 Nebenwirkungsfälle pro Monat – bei einem Gesamtjahresdurchschnitt von 10.541. Dabei schwankte das Meldeaufkommen in den neun Monaten vor Beginn der Impfkampagne im Januar 2021 nur moderat in einem Korridor von 9.418 bis 12.567 Fällen. Die maximale Differenz entsprach mit 3.149 Meldungen rund 30 Prozent des Jahresdurchschnitts. Mehr nicht.
I. Quartal 2021: Meldungen wie sonst in einem ganzen Jahr
Zu Beginn der Corona-Impfungen schnellten diese bisher recht stabilen Zahlen plötzlich in die Höhe. Im Vergleich zu den Durchschnittswerten der Jahre zuvor kam es im Januar 2021 beinahe zu einer Verdreifachung der Meldungen. Exakt entsprach der Zuwachs 258 Prozent, was den Schwankungskorridor der Vormonate völlig sprengte.
Im Februar ging der Trend weiter. Im Vergleich zu den Vorjahren verfünffachten sich die Zahlen, so dass die EMA am Ende des I. Quartals ein Meldeaufkommen hatte wie sonst in einem ganzen Jahr. Waren es im abgelaufenen Kalenderjahr 2020 noch insgesamt 126.500 Meldungen gewesen, registrierte man bis Ende März 2021 zusammen mehr als 130.000.
Und die bei der EMA registrierten Fälle auf Nebenwirkungen verstehen sich, ähnlich wie beim deutschen Paul-Ehrlich-Institut, als »Verdachtsfälle« auf »unerwünschte Reaktionen« (suspected adverse reactions). Hier sind also nicht etwa »erwünschte Reaktionen« bei Impfstoffen mit drin, die der Fachmann als »Impfreaktion« bezeichnet, weil sie eine Immunantwort des Körpers abbilden, die aber ein Laie – wie man es aus den Beipackzetteln von Medikamenten gewohnt ist – ebenfalls als ”Nebenwirkung“ bezeichnen würde.
Das irreführende Argument von der 'zeitlichen Nähe'
Und eben diese Verdachtsfälle sind derart rasant angestiegen, dass sie ein nie dagewesenes Rekordniveau erreicht haben. Diesen Anstieg nun mit dem in vielen Medien und Faktenchecks beliebten Hinweis kleinzureden, dass die registrierten »Verdachtsfälle« auf »unerwünschte Reaktionen« nur in einem zeitlichen aber in keinem kausalen Zusammenhang stünden, ist mindestens irreführend – wenn nicht gar falsch.
Denn erstens wurden Impfstoffe auch in den Jahren zuvor verimpft, und die zu ihnen gehörenden »Verdachtsfälle« wurden in den Jahren 2018 bis 2020 genauso erhoben wie jetzt. Zum Zweiten hilft ein Blick in die Sicherheitsberichte des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI). Ganz hinten unter Methodik heißt es dort: »Ärztinnen und Ärzte sind gesetzlich verpflichtet, Impfkomplikationen, d.h. gesundheitliche Beschwerden, die über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehen und nicht evident auf andere Ursachen zurückzuführen sind, namentlich dem zuständigen Gesundheitsamt zu melden …«
Ein Fall wird also nur dann zu einem Fall in den Büchern des deutschen PEI bzw. der EMA, wenn er eine definierte »zeitliche Nähe« zur Impfung aufweist UND »nicht evident auf andere Ursachen zurückzuführen« ist.
Explosion der Zahlen im April 2021
Rechnet man nun den Durchschnitt der Meldungen von Nicht-Covid-Impfstoffen (2018–2020) aus den bei der EMA eingegangenen Meldungen zu allen Arzneimitteln heraus, ist die Zahlenexplosion nicht mehr zu übersehen. Die EMA hätte dann nämlich im April 2021 so viele Meldungen zu Nebenwirkungen bei den Covid-Impfstoffen erhalten wie sonst in einem ganzen Jahr – und zwar für alle Arzneimittel von der Pille bis zur Spritze.
Im letzten Sicherheitsbericht des PEI zu den Corona-Impfstoffen gehörten rund 11 Prozent aller Meldungen zur Kategorie »schwerwiegend«. Diese Kategorie umfasst alles vom notwendig gewordenen stationären Krankenhausaufenthalt über bleibende Schäden wie Lähmungen bis hin zum Tod. Überträgt man diese Quote auf die EMA, würde das bedeuten, dass man dort bis Ende April rund 25.000 »schwerwiegende« Fälle registriert hat.
Um sich die Dimension dieser Zahl besser vor Augen führen zu können, hier die Einwohnerzahlen von Lindau am Bodensee: 24.673 und Zittau in Sachsen: 25.086. Hier ist also auf europäischer Ebene keineswegs nichts passiert. Hier tickt eine Bombe … wenn sie nicht bereits explodiert ist.
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Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Und ich bin der Ansicht, dass gerade Beiträge von streitbaren Autoren für die Diskussion und die Demokratie besonders wertvoll sind. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen, und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Der Autor ist in der Medienbranche tätig und schreibt hier unter Pseudonym.
Bild: Haris Mm/Shutterstock
Text: Gast
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