„Die meisten Flüchtlinge würden nach Deutschland zurückkommen“

Als Angela Merkel „Wir schaffen das“ sagte, habe sie Warschau vorher nicht gefragt, beklagt der Politikwissenschaftler Jerzy Maćków. Maćków wirft deutschen Politikern und Journalisten vor, die Realitäten in Polen zu verzerren – weil ihnen vor allem die Migrationspolitik dort nicht passe.

Frage: Nach der in Deutschland vorherrschenden Meinung bewegen sich Polen, Ungarn, die Slowakei und Tschechien in Richtung Autokratie. Ist dieser Vorwurf berechtigt?

Maćków: Ich kann genauso wenig für diese Länder vorhersagen, ob dort ein autoritäres System entstehen wird, wie für Deutschland. Ich sehe es als problematisch an, dass man der Entwicklung dieser Länder einen negativen Stempel aufdrückt, ohne sich eingehend damit zu beschäftigen, was dort tatsächlich passiert.

Ist also die Demokratie dort unbedroht?

Jedenfalls erkenne ich keine Anzeichen dafür, dass sie gezielt abgeschafft wird. Ein Gegenbeispiel: Man hat sehr lange Italien zu Recht dafür kritisiert, dass die Regierungen dort sehr kurzlebig waren und die Mafia dauerhaft stark. Trotzdem kam niemand auf die Idee, Italien den Status einer Demokratie abzusprechen. Der Vorwurf der Abschaffung der Demokratie für Länder, deren Innenpolitik uns nicht gefällt, ist neu.

Polen wird vor allem vorgeworfen, die Justizreform sei undemokratisch, amtierende Richter seien in Rente geschickt worden und neue würden von der Politik ernannt.

Die vorzeitigen Pensionierungen der Richter wurden zurückgenommen.

Das ist aber in Deutschland kaum bekannt?

Das war eine Reaktion auf die Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union. Es ging übrigens niemals um alle Richter, sondern um zwei oder drei Dutzend Richter des Obersten Gerichts, die laut Verfassung bei Reformen des Justizsystems verrentet werden durften. Zugleich besagt die Verfassung, dass das Rentenalter für Richter 65 Jahre beträgt. Der Europäische Gerichtshof hat die Regelung mit 65 Jahren als wichtiger eingeschätzt. Insofern hatten wir es mit einem gewöhnlichen Fall der Auseinandersetzung um die Auslegung der Verfassung zu tun, man muss nicht gleich unterstellen, dass es ein Angriff auf diese war.

Und die Auswahl der Richter durch Politiker?

Dieser Vorwurf ist falsch. Da man in Polen nach dem Kommunismus die Richter unabhängig von der Politik machen wollte, wurden Richter alleine von Richtern bestimmt. Dieses Modell hat sich nicht bewährt – das Gerichtwesen in Polen arbeitet schlecht. Nicht von ungefähr ist in jedem Land mit langer demokratischer Tradition das System von check und balances, also gegenseitiger Gewaltenkontrolle, üblich. Es gibt dafür unzählige Beispiele: in den USA bestimmt der Präsident die Richter des Supreme Courts, in Deutschland werden Richter des Verfassungsgerichts vom Parlament, also de facto von politischen Parteien, bestimmt, in den meisten Demokratien gibt es Richterwahlgremien, die sich aus Richtern und Politikern zusammensetzen – so wie jetzt in Polen.

Also keine Verletzung demokratischer Normen?

Im Gegenteil. Auf diesem Feld wurde ein System von check und balances eingeführt, das es bisher nicht gab.

Wie erklären Sie sich den Aufschrei der Empörung in Deutschland?

Die Reform des Justizsystems stellt ein sehr komplexes Unterfangen dar, in dem politische Interessen selbstverständlich eine große Rolle spielen. Konflikte sind insofern vorprogrammiert, und tun der Sache gut. So gab es einen heftigen politischen Streit um die Besetzung des Verfassungsgerichts in Polen, bei dem die Verfassung von beiden in Polen konkurrierenden großen politischen Lagern verletzt wurde. Es gab zudem eine umkämpfte Neuregelung, nach der der Justizminister einmalig sechs Monate lang die Vorsitzenden der Gerichte einsetzen konnte. Auch der Einfluss der Exekutive im Landesrat der Gerichte ist selbstverständlich politisch umstritten, usw. Trotzdem: Die Verfassung erlaubt ausdrücklich eine Justizreform, die in Polen seit so etwa zwei Jahrzehnten fällig war. Die Unabhängigkeit der Richter, die sich auf Rechtsprechung bezieht, ist nicht bedroht.

In Deutschland nehmen viele die Berichte aus Polen so wahr, dass die Unabhängigkeit der Gerichte massiv eingeschränkt ist. Warum?

Das ist die Meinung der polnischen Opposition, die in demokratischer Wahl 2015 von der Macht verdrängt worden ist. Die deutschen Polen-Berichterstatter stellen sich im demokratischen Streit zwischen Regierung und Opposition auf die Seite der Letztgenannten. Seitdem Michael Ludwig von der Frankfurter Allgemeinen in Rente ging, gibt es unter den deutschen Polen-Korrespondenten leider niemanden mit vergleichbarer Kompetenz, Urteilsvermögen und Berufsethos. Es kommt hinzu, dass die neue polnische Regierung eine außenpolitische Linie führt, die auf einigen Feldern der Außenpolitik der Bundesregierung widerspricht

Zum Beispiel?

In Russland-Politik. Aber für die Deutschen ist die Migrations- und Flüchtlingsfrage besonders wichtig. Polen mit seinen 37 Millionen Einwohnern ist in Europa das Land, das in absoluten Zahlen die zweitmeisten Migranten aufgenommen hat nach Deutschland. Dazu gehören vor allem mehr eine Million Ukrainer. Warschau will sich nicht von Berlin vorschreiben lassen, wie viele Flüchtlinge es aufnehmen soll.

Der Vorwurf ist, Polen wolle gar keine Flüchtlinge aufnehmen.

Dies Absage bezieht sich ausschließlich auf die vorgeschriebenen Kontingente von Flüchtlingen, wie Deutschland es mit EU-Quoten erzwingen wollte. Das muss man trennen von individuellen Asylanträgen, die in Polen nach wie vor gestellt werden. Die polnische Regierung lehnt allerdings die deutsche Flüchtlingspolitik lautstark ab und ist sich dabei der Unterstützung von mehr als der Hälfte der Bevölkerung sicher.

Warum?

Die Regierung ist gegen den unkontrollierten Zufluss von Migranten, weil sie die sicherheitspolitischen Risiken in Sachen Terrorgefahr und Kriminalität für nicht akzeptabel hält. Zudem ist sie der Meinung, dass sich die EU und die Nationalstaaten mit ihren Mitteln auf die Besserung der Zustände in den betreffenden Ländern konzentrieren sollen. Polen und andere Wyschehrad-Staaten stellen dafür Millionen zur Verfügung. Es gibt aber auch noch einen weiteren, in Deutschland verschwiegenen Grund.

Welchen?

Wie andere Wyschehrad-Staaten will auch Warschau nicht die Flüchtlinge aufnehmen, die keine Absicht haben, in Polen einen Asylantrag zu stellen. Im Jahre 2015 konnten alle sehen, dass keiner in Ungarn bleiben wollte, und alle Deutschland, Dänemark und Schweden wählten. Frankreich war übrigens auch kein beliebtes Zielland.

Warum?

Da müssen sie die Betroffenen fragen, ich kann nur vermuten, dass sie dorthin wollen, wo bereits viele ihre Landsleute leben.

Sind in Polen und Ungarn die Sozialleistungen geringer als in Deutschland?

In Polen bekommen Flüchtlinge die gleichen Sozialleistungen wie Polen in sozialen Schieflagen. Das bedeutet etwa 200 bis 250 Euro im Monat. Seit der PiS-Regierung gibt es allerdings bessere Sätze für Behinderten und relativ hohes Kindergeld.

Aber insgesamt trotzdem deutlich weniger als in Deutschland?

Gewiss. Die meisten Flüchtlinge, die in Polen irgendwann Asyl beantragt haben, sind irgendwann in den Westen abgereist. Niemand in Deutschland weiß, dass Polen in den neunziger Jahren rund 90.000 muslimische Tschetschenen aufgenommen hatte. Die meisten von ihnen leben inzwischen in Deutschland.

Also glauben Sie, dass viele Kontingentflüchtlinge nach Deutschland zurückkommen würden, wenn es eine Vereinbarung mit Polen gäbe, sie dort aufzunehmen?

Die meisten. Deutschland drängte deshalb darauf, dass die neuen EU-Mitglieder Flüchtlinge aufnehmen und diese anschließend daran hindern, in die westlichen Ländern der EU zu fahren.

Wäre da nicht der Vorwurf der Einschränkung der Freizügigkeit laut geworden?

In Polen gab es Stimmen, dies sei der Versuch, aus dem Land Sibirien zu machen. Das ist sicher etwas übertrieben. Polen hat milderes Klima.

Diese polnischen Sichtweisen scheinen in Deutschland nicht sehr bekannt? Teilen Sie diese?

Nicht immer. Aber ich halte sie weder für undemokratisch noch für illegitim.

Dennoch – es gibt den Vorwurf, Polen lasse die europäische Solidarität in der Flüchtlingsfrage vermissen?

Soweit ich mich erinnere, wurden die Grenzen unseres Landes geöffnet ohne Absprache mit anderen, dafür aber mit dem Aufruf „Wir schaffen das“, an dem sich der beträchtliche Teil meiner nativ-deutschen Landsleute im Herbst 2015 ergötzte. Niemand sagte damals, dass mit „wir“ auch die ethnisch fremden Polen gemeint waren. So ist der spätere Vorwurf der mangelnden europäischen Solidarität ebenso unredlich, wie er hierzulande verbreitet ist. Wenn wir schon über Solidarität reden, dann heißt es nicht nur in Polen, dass diejenigen anderen keine mangelnde Solidarität vorwerfen sollen, die sich in Fragen der Sicherheit anderer europäischer Länder nicht solidarisch verhalten, sondern dem pekuniär motivierten Nationalegoismus huldigen. Das beharrliche Durchsetzen der Ostseepipeline 2 durch Berlin im jahrelangen Schulterschluss mit autoritären Moskau wird von den Polen ebenso wie von den Esten, Litauern, Letten, Ukrainern und vielen anderen nicht nur als unsolidarisch, sondern zu Recht als Verrat an europäischen Prinzipien gesehen.

Zurück zu dem Vorwurf des Autoritarismus. Für Polen weisen Sie diesen zurück. Wie steht es mit Ungarn?

Da ich kein Ungarisch spreche, kenne ich die Entwicklung in diesem Land nicht so gut wie die in Polen und maße mir kein abschließendes Urteil an. Aber ich kann sehr wohl nachvollziehen, weshalb frühere Regierungen, die Ungarn an den Rand des Staatsbankrotts führten und im Zuge des Finanzkrise 2008 zwangen, um Kredite zu betteln, abgewählt wurden. So wie ich die Situation einschätze, ist der Premierminister Victor Orbán zumindest auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialpolitik erfolgreicher als seine Vorgänger.

Ist der Preis dafür eine Einschränkung der Demokratie?

Ich halte jede Situation für gefährlich, in der eine Regierung dauerhaft über eine überwältigende Mehrheit im Parlament verfügt. Andererseits kann man keiner politischen Partei vorwerfen, dass sie bei Wählern große Zustimmung bekommt. Die ungarische Auseinandersetzung um den Finanzinvestor George Soros und von ihm geförderte Einrichtungen in Ungarn sehe ich als unappetitlich an, aber nicht als eine Demokratiebedrohung.

Nochmal – ist die Demokratie in Ungarn gefährdet?

Keine Demokratie wird durch umstrittene und zweifellos bedauernswerte Schließung einer Universität gefährdet.

Und die Konzentration der Medien?

Eine massive Front für die Regierung in den Medien wiegt schwerer. Etwa die, die der Großteil der Medien in Polen samt vielen deutschen Warschau-Korrespondenten vor dem Regierungswechsel des Jahres 2015 aufgebaut hatten. Sie war niemals als Anlass genommen worden, Polen eine antidemokratische Entwicklung zu attestieren. Dabei war sie nicht minder bedenklich als die jetzige in Ungarn, soweit ich sie aus der Distanz abschätzen kann. Im Umkehrschluss: Die Tatsache, dass der Großteil polnischer Medien heute eine regierungskritische Haltung einnimmt, belebt die polnische Demokratie und stützt die schwache, programmatisch und personell schlecht aufgestellte Opposition. Da ist man sogar geneigt, über das miserable Berufsethos des politisch einseitigen Journalismus hinwegzusehen, weil der demokratische politische Wettbewerb dringend der Kritik an der Regierung bedarf. Ja: Regierungsunkritische Medien gefährden die Qualität jeder Demokratie.

Ist in Deutschland der Großteil der Medien ausreichend regierungskritisch?

Dass man  den dauerhaften Bestand der Großen Koalition, die bekanntlich die politische Opposition künstlich marginalisiert, in weiten Teilen der Medien nicht als demokratiegefährdend kritisiert hat, erfüllt mich als deutschen Staatsbürger mit großer Sorge. Wir sollen wachsam sein, wenn unsere Demokratie gefährdet wird, und nicht unsere vermeintlichen nationalen Vorzüge auskosten, indem wir über uns unbekannte Länder herziehen.

Wie wird die deutsche Kritik an der polnischen Regierung in Polen wahrgenommen?

Die politischen Gruppierungen, die in ihrer Oppositionsrolle versagen, freuen sich über fremde Unterstützung in Form der aus Deutschland strömenden Kritik an der Regierung. Aber die polnischen Bürger, die der Meinung sind, dass sie einen souveränen Staat haben, um die eigenen politischen Probleme selbst zu lösen, finden diese Kritik bevormundend. Man darf in diesem Zusammenhang die Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen nicht außer Acht lassen. Seit den Teilungen Polens im 18. Jahrhundert war Deutschland extrem selten ein guter Nachbar für die Polen.

Jerzy Maćków (57) ist Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Regensburg. Er ist Autor mehrere Bücher, zuletzt erschienen: „Die Ukraine-Krise ist eine Krise Europas“, edition.fotoTAPETA, Berlin 2016.

 

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