Auf Twitter nimmt der Behördenleiter kein Blatt vor den Mund und legt sich auch mit lautstarken Corona-Hardlinern an. „Herr Kollege @Karl_Lauterbach, bei allem gebührenden Respekt; ich kann nicht verstehen, warum Sie so etwas schreiben! Schulen sind bei #COVID19 nicht das Problem! Gerne können wir uns darüber persönlich austauschen. Sie sind eingeladen. #coronavirus #Corona #Covidioten“ – so konterte der Amtsarzt etwa folgenden Tweet des SPD-Politikers: „Es sollte zentrale Meldestelle für Schulausbrüche geben, so dass Schulen nicht zum Motor der 2. Welle werden. Es ist gerade durch neue Studien klar belegt, dass Schulkinder so ansteckend sind wie Erwachsene.“
Viele der Tweets des Behördenchefs klingen für heutige Verhältnisse geradezu ketzerisch. Etwa dieser vom 3. Oktober: „Mehrheit unterstützt angeblich noch #Coronamassnahmen. Warum macht dennoch ein nicht unerheblicher Teil in Restaurants falsche Angaben? Warum sollte Bayern sonst das Bußgeld für Falschnamen auf Corona-Listen auf 250 Euro erhöhen?“ Oder dieser Tweet vom selben Tag: „Wenn Maßnahmen nicht mehr angemessen sind! Wie viele Kinder werden wohl eine Maske tragen müssen, um nur eine tatsächliche Infektion zu verhindern? Bitte Zahlen (keine Schätzungen) zu mir.“
Man kann allenfalls ahnen, welche Reaktion es bei Pürners oberstem Dienstherren Söder, der zeitweise auch eine Maskenpflicht im Freien durchsetzte, auslöst, wenn er Tweets des Twitter-Rebellen wie diesen liest: „Mund-Nasen-Schutz im Freien nicht nötig. Gebührender Abstand (ohne Maßband) ist auch in Innenstadt möglich. Ansteckungsgefahr im Freien ist deutlich geringer als im geschlossenen Raum. Aufklärung statt Verbote!“ Auch Gesundheitsminister Jens Spahn dürfte sich nicht freuen über den kritischen Mediziner aus der Amtsstube:
Die Twitter-Aktivitäten des Amtsarztes sind so beachtlich und meinungsstark, dass der Bayerische Rundfunk offenbar nicht umhin kam, ihm eine Geschichte zu widmen. Und auch da zieht der mutige Arzt und Vater dreier Kinder vom Leder. Modellrechungen zufolge sei die Zahl „falsch Positiver zu hoch – mit diesen Worten zitiert der Sender Pürner. Der macht sich dafür stark, für die Berechnung des so genannten „Inzidenzwerts“ (Zahl der Neuinfizierten pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen) nicht nur positive Tests zu verwenden, sondern auch andere Parameter: „Ich würde beobachten, wie viele tatsächlich an Covid Erkrankte es gibt.“ Pürner schlägt „Sentinel-Praxen“ vor, wie sie für Grippefälle schon vorhanden sind.
Im Rahmen dieses Projekts schicken schon heute 100 Praxen regelmäßig Proben von Patienten mit akuten Atemwegserkrankungen ein, die auch auf SARS-CoV-2 untersucht werden, wie es auf der Seite des Robert-Koch-Instituts heißt. In den Kalenderwochen 34 bis 38 ist in diesen Proben kein einziger Fall einer Corona-Erkrankung festgestellt worden (entsprechende Hinweise von Prof. Dr. Bhakdi in einem Interview mit reitschuster.de führten im August noch zur Zensur dieses Videos auf Youtube). Erst in Kalenderwoche 39 wurde deutschlandweit wieder ein (einziger) Fall fixiert, wie aus dem aktuellen Bericht des RKI zu ersehen ist:
Pürner wünscht sich eine erweiterte Meldepflicht für Corona-Infektionen, bei der auch die Stärke der Erkrankung mit aufgezeichnet werden sollte. Zudem wäre es in seinen Augen sinnvoll, zu berücksichtigen, wie viele Erkrankte ins Krankenhaus und auf die Intensivstation müssen.
Die Kritik des Beamten und Arztes trifft wesentliche Elemente der offiziellen Corona-Politik ins Mark. Nach der gemeinsamen Entscheidung der bayerischen Staatsregierung und der Bundesregierung werden ab bestimmten Inzidenzwerten die Corona-Maßnahmen verschärft: Etwa wenn über 50 Neuinfizierte auf 100.000 Einwohner in einer Stadt oder in einem Landkreis erfasst wurden. Söder rechtfertigte dies laut BR damit, dass „ab diesem Schwellenwert nach Einschätzung der ‘Superexperten von RKI und Universitäten‘ die Nachvollziehbarkeit der Infektionsketten schwierig wird.“
Der Mediziner Pürner, im Gegensatz zu Söder vom Fach und vor dem Wechsel an die Spitze des Gesundheitsamtes Leiter der Abteilung Epidemiologie und der Taskforce Infektiologie am Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, sieht das nicht so. Und steht damit nicht allein. Auch der Chef des Frankfurter Gesundheitsamtes, René Gottschalk, hat ähnliche Bedenken gegen die Corona-Politik und betont, es gebe keine Übersterblichkeit (siehe Bericht auf reitschuster.de hier).
Kritik übt der Aichacher Gesundheitsamtschef auch an der in Bayern besonders strengen Maskenpflicht für Kinder in der Schule. „Gerade nach der Urlaubszeit war es wichtig, mit der Maske im Unterricht das Risiko fundamental zu reduzieren, damit nicht viele Schulen wieder geschlossen werden“, hatte Söder noch vergangene Woche beim virtuellen Parteitag seiner Partei gesagt.
Pürner hat hier laut BR einen exakt gegenteiligen Standpunkt: „Kinder sollten in der Schule keine Maske tragen müssen. Sie sollten in der Pause rausgehen und miteinander spielen dürfen. ‘Kinder brauchen das‘, sagt der dreifache Vater. Und er verweist darauf, dass die Kinder sich ja nach der Schule auch privat ohne Maske träfen.“
„Dass ein bayerischer Beamter, der als Leiter eines Gesundheitsamtes die Maßnahmen der Staatsregierung umsetzen muss, sich so deutlich gegen seinen Dienstherrn stellt, ist ungewöhnlich“, schreibt der BR. Und hat als Sender, dem seit Jahrzehnten eine Nähe zur CSU-Landesregierung nachgesagt wird, auch gleich beim zuständigen Ministerium nachgefragt, was man dort von dem widerspenstigen Staatsdiener hält: „Wie das zuständige Finanzministerium mitteilt, gilt die Meinungsfreiheit auch für Beamte. Sie dürften daher auch Kritik an der Politik der Regierung oder Organen ihres Dienstherrn üben. Allerdings gebe es auch ein Mäßigungs- und Zurückhaltungsgebot.“
Pürner ahnte offenbar Ungemach und ging laut BR in die heute für Kritiker staatlicher Maßnahmen fast unerlässliche Vorwärtsverteidigung: Er sagte, er sei weder Impfgegner, noch rechtsradikal: „Er wolle nur seine fachliche Meinung äußern, auch als bayerischer Beamter. Intern kritisiere er einzelne Maßnahmen, die er fachlich unbegründet findet. ‘Remonstrieren‘ heißt das im Beamtenrecht. Dennoch setzt Pürner die Anweisungen aus dem Gesundheitsministerium nach eigenem Bekunden um. Er betont: ‘Ich will mich für keine Partei instrumentalisieren lassen, und am allerwenigsten für die AfD.‘“
Negative Konsequenzen fürchtet Pürner trotz seines Muts und seiner Aktivitäten auf Twitter nicht. Er glaube an „Meinungsfreiheit und Demokratie“, zitiert ihn der BR. Bleibt nur zu hoffen, dass er sich da nicht irrt!
PS: Unterstützung bekommt Pürner auch von Kollegen. So tweetet er ein Interview mit dem Leiter des Krankenhauses Havelhöhe, Berlin, Prof. Dr. Harald Matthes. Titel: „Die Corona-Maßnahmen sind in dieser Pauschalität nicht mehr zu rechtfertigen“. Darin heißt es unter anderem: „Laut dem Portal Worldometer gibt es in Deutschland rund 15.000 mit Covid-19 infizierte Menschen, viele davon symptomfrei, etwas mehr als 200 sind ernsthaft erkrankt – angesichts einer Bevölkerung von 83 Millionen Menschen eine verschwindend anmutende Zahl. Dennoch sprechen Vertreter von Wissenschaft und Politik sowie fast alle Medien seit Wochen von einem wieder anwachsenden Corona-Infektionsgeschehen mit bedrohlichen Ausmaßen.“
Die Strategie der Regierung, dass die Pandemie „erst zu Ende sein wird, wenn ein Impfstoff zur Verfügung steht“, habe „keinerlei wissenschaftlichen Hintergrund, sondern ist Ideologie.“, so Matthes: „Auch die Influenza kann man ja nicht mit einer Impfung ausrotten. Wir wissen derzeit noch überhaupt nicht, ob es überhaupt eine effektive Impfung gegen Covid-19 geben wird, wie dauerhaft eine Impfung wäre und ob dann eine ausreichende Antikörperbildung vorliegt. Selbst wenn eine Impfung vorhanden ist, wissen wir noch nicht, was sie langfristig leistet. Davon abgesehen wird der Verlauf einer Pandemie an klinischen Parametern gemessen, von daher ist die Aussage, dass sie erst mit einem Impfstoff enden kann, rein ideologisch und verlässt sämtliche Argumentationen, die wir sonst bei Pandemien ansetzen.“
„Die jetzt angeordneten Maßnahmen sind sicher für fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung sinnvoll und notwendig, aber sie werden auf die gesamte Bevölkerung ausgedehnt, das ist nicht an den realen Risiken orientiert und das ist auch sozial nicht kompatibel“, sagt der Professor.
Bild: Twitter
Text: red