Von Gregor Amelung
Freitag. 18. September. Eine Frage von Boris Reitschuster auf der Bundespressekonferenz lautete: „Nach einer 2G-Party in Münster ist jeder fünfte Teilnehmer mit Corona infiziert. So tragen also auch Geimpfte das Virus weiter, werden aber viel seltener getestet. – Wie will die Bundesregierung mit diesem Problem umgehen?“
„Es ist ja so, dass Geimpfte das Virus deutlich weniger weitergeben können und einen weitaus weniger schweren Verlauf haben“, erklärte dazu die Sprecherin des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) Parissa Hajebi. „Dementsprechend setzen die [Bundes]Länder auch die 2G- bzw. 3G-Regeln um. Inwieweit es zu dieser Situation kam, die gerade erläutert wurde, kann ich jetzt von hier aus nicht analysieren.“
Um den Ausführungen des BMG weiteren Nachdruck zu verleihen, schaltete sich Regierungssprecher Steffen Seibert ein und führte aus: „Es bleibt dabei: Das Impfen ist der beste Schutz vor der Erkrankung. Es senkt auch die Wahrscheinlichkeit, im Falle einer Infektion das Virus weiterzugeben. Vor allem aber senkt es die Wahrscheinlichkeit dramatisch, schwer an dem Virus zu erkranken oder gar zu versterben. Sie kennen die Zahlen. Die Menschen, die derzeit wegen Corona im Krankenhaus sind, sind zum ganz überwiegenden Teil nicht oder nicht vollständig geimpft. Das gilt noch viel mehr für die Menschen, die auf [den] Intensivstationen sind.“
Seiberts Aussage überlebt einen Faktencheck allerdings nur dann als „richtig“, wenn man alle Geimpften zusammenzieht.
Differenziert man dagegen nach Altersgruppen, dann zeigen sich bereits beim Thema der „Infektion“ erste Risse in der Argumentation. – Hier die Zahlen des RKI aus dem aktuellen Wochenbericht vom 16. September 2021 (Datenstand 15. September) mit den sogenannten „wahrscheinlichen Impfdurchbrüchen“ in den Kalenderwochen 33 bis 36. Also in einem Zeitfenster, in dem laut RKI 82,6 Prozent der Altersgruppe durchgeimpft waren und über einen vollen Impfschutz „mindestens zwei Wochen [nach]… der letzten Dosis“ verfügten, so das RKI in den Fußnoten.
Anteil der Impfdurchbrüche bei symptomatischen COVID-19-Fällen:
12-17 Jahre: 1,3 % Geimpfte mit vollem Impfschutz
18-59 Jahre: 19,5 % Geimpfte mit vollem Impfschutz
60 Jahre und älter: 42,8 % Geimpfte mit vollem Impfschutz
Weiter führte Steffen Seibert aus, die Impfung senke „die Wahrscheinlichkeit dramatisch, schwer an dem Virus zu erkranken… Die Menschen, die derzeit wegen Corona im Krankenhaus sind, sind zum ganz überwiegenden Teil nicht oder nicht vollständig geimpft.“
Das ist laut den aktuellen Zahlen des RKI richtig für die Altersgruppe 12 bis 59 Jahre. Deutlich weniger richtig ist es allerdings für die bereits zuvor ins Auge gefasste Gruppe derer, die 60 Jahre oder älter sind. Hier stellen die Geimpften mit einem vollen Impfschutz fast 20 Prozent der „Menschen, die derzeit wegen Corona im Krankenhaus sind“.
Anteil der Impfdurchbrüche an den hospitalisierten COVID-19-Fällen:
12-17 Jahre: 1,4 % Geimpfte mit vollem Impfschutz
18-59 Jahre: 5,9 % Geimpfte mit vollem Impfschutz
60 Jahre und älter: 19,4 % Geimpfte mit vollem Impfschutz
Falls man einen Anteil von 80,6 % (oder 2.661 Fälle) nun nicht für den „ganz überwiegenden Teil“ von 100 % (oder 3.301 Fällen) hält, könnte man Seiberts Aussage in einem Faktencheck hier sogar das Prädikat „richtig“ entziehen. Zumindest für die Gruppe 60plus.
Darüber hinaus hatte sich der Regierungssprecher noch zu den intensiv-medizinisch Betreuten geäußert: „Die Menschen, die derzeit wegen Corona im Krankenhaus sind, sind zum ganz überwiegenden Teil nicht oder nicht vollständig geimpft… Das gilt noch viel mehr für die Menschen, die auf Intensivstationen sind.“ Hierzu lauten die Zahlen des RKI wie folgt:
Anteil der Impfdurchbrüche an den COVID-19-Fällen auf Intensivstationen:
12-17 Jahre: 0 % Geimpfte mit vollem Impfschutz
18-59 Jahre: 4,1 % Geimpfte mit vollem Impfschutz
60 Jahre und älter: 16,9 % Geimpfte mit vollem Impfschutz
Betrachtet man die Anteile an den Hospitalisierten und denen, die zusätzlich intensiv-medizinisch betreut werden mussten, erscheint es fraglich, ob die mageren 2,5 Prozentpunkte – also die Differenz zwischen 19,4 % und 16,9 % – bereits Seiberts Formulierung „Das gilt noch viel mehr für die Menschen, die auf Intensivstationen sind“ rechtfertigt.
Bezogen auf die Altergruppe 60plus muss man wohl „Nein“ sagen, denn selbst das RKI gibt hierzu an: „Schutz vor Hospitalisierung: …ca. 95 % (Alter ≥60 J.)“ und „Schutz vor Behandlung auf Intensivstation: … ca. 95 % (Alter ≥60 J.)“. Steffen Seibert schrammt hier also an einem „falsch“ vorbei und würde wohl in einem ernstzunehmenden Fakten-Check in diesem Unterpunkt mit einem blauen Auge und einem „ungenau“ gerade noch so über die Ziellinie kommen.
Nun könnte man einwenden, dass dem Regierungssprecher hier gleich in zweifacher Hinsicht Unrecht getan wird. Zum einen, weil die absoluten Zahlen tatsächlich niedrig sind. 640 hospitalisierte Impfdurchbrüche und nur 93 intensiv-medizinisch betreute hatte das RKI registriert. Allerdings stammen die Zahlen aus dem Zeitraum Mitte August bis Mitte September und in dieser Phase des Jahres war die Belegung der Krankenhausbetten auch im vergangenen Jahr extrem niedrig. Dementsprechend ist ein Blick auf die jeweiligen Anteile hier aussagekräftiger.
Zum anderen könnte man zur Verteidigung von Seibert vorbringen, dass hier nur auf die Zahlen in der Altersgruppe 60plus abgestellt wird. Allerdings betreibt die Bundesregierung die Corona-Maßnahmen und die Impfungen vor allem, um die vulnerable Gruppe zu schützen. Und diese Gruppe besteht neben den Vorerkannten eben zum Großteil aus älteren Menschen. Insofern ist eine altersspezifische Betrachtung bei der Überprüfung von Seiberts Aussagen schon angebracht. Zumal der Regierungssprecher hier suggeriert hatte, dass seine positive Bewertung der Vakzin-Wirksamkeit eben auch für die Altersgruppe 60plus Geltung haben würde.
In der letzten Kategorie, der Sterblichkeit, erklärte Seibert abschließend: Die Impfung „senkt… die Wahrscheinlichkeit dramatisch,… an dem Virus… zu versterben.“
Nun, das ist bezogen auf die Gruppe 12 bis 59 eindeutig richtig. Bezogen auf die Gruppe 60plus zeigt sich allerdings auch hier ein Unterschied.
Anteil der Impfdurchbrüche an den verstorbene COVID-19-Fällen:
12-17 Jahre: 0 % Geimpfte mit vollem Impfschutz
18-59 Jahre: 0 % Geimpfte mit vollem Impfschutz
60 Jahre und älter: 26 % Geimpfte mit vollem Impfschutz
Nebenbei hatte der Regierungssprecher noch ein „Sie kennen die Zahlen“ Richtung Boris Reitschuster in sein Statement eingeflochten. Das wirkte auf den ersten Blick geschickt, weil es den in der Bundespressekonferenz ohnehin nicht wohlgelittenen Journalisten etwas alt aussehen ließ, so als habe der sich nicht so ganz in die „Zahlen“ respektive die Materie eingearbeitet, die ihm Steffen Seibert nun noch mal in aller Ruhe erläutern musste.
Bei genauerer Betrachtung – vor allem unter der Berücksichtigung, wie wichtig der Schutz der vulnerablen Gruppe für die Impfstrategie der Bundesregierung ist – muss man allerdings an Seibert zurückgeben, dass er die aktuellen „Zahlen“ des RKI entweder selber nicht kannte oder über die tatsächlich weniger positiven „Zahlen“ in der Altersgruppe 60plus hinwegtäuschen wollte. Dass sich Reitschusters Eingangsfrage auf eine 2G-Party in Münster bezog, auf der vermutlich eher U60-jährige gewesen sind, ändert an dieser Einschätzung nichts.
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Der Autor ist in der Medienbranche tätig und schreibt hier unter Pseudonym.Bild: br, YouTube
Text: Gast
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