„Wir werden noch Jahrzehnte erhebliche Probleme haben“ Bildungsforscher spricht Klartext

Von reitschuster.de

Deutschland steckt tief in der Bildungskrise: Jedes fünfte Grundschulkind erreicht nicht einmal den Mindeststandard in Lesen oder Mathematik, in der Rechtschreibung sind es sogar 30 Prozent. Viertklässlern etwa mangelt es an elementaren Kompetenzen wie dem flüssigen Lesen und dem Verständnis für den Satzzusammenhang. Die Lernkurve der deutschen Grundschüler zeigt immer weiter abwärts. Zurzeit hängen sie zwischen einem Viertel und einem Drittel Schuljahr hinter dem Niveau von vor fünf Jahren zurück. Einen so starken Rückgang hat es niemals zuvor gegeben.

Laut einer aktuellen Studie des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) beschleunigte sich der Abwärtstrend. An der Untersuchung beteiligten sich mehr als 26.000 Schüler der vierten Jahrgangsstufe aus rund 1400 Schulen. Auch wenn diese alarmierende Entwicklung bereits vor dem Ausbruch der Coronakrise zu beobachten war, spricht für die Autoren einiges dafür, dass die pandemiebedingten Einschränkungen des Schulbetriebs eine Rolle gespielt haben.

„Die Entwicklung ist dramatisch“, legte nun Olaf Köller im Interview mit der „Welt“ nach, „wir haben in den letzten zehn Jahren einen solchen Rückschritt im Bildungssystem erlebt, dass wir im Grunde wieder auf dem Niveau von ‚PISA 2000‘ angekommen sind.“ Köller ist Vorsitzender der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz, die die Bundesländer bei der Weiterentwicklung des Bildungswesens berät.

Schulische Kompetenzen sind so gering, dass die Betriebe die Schüler nicht einstellen können

Als einen der wesentlichen Gründe für diesen erschütternden Befund sieht er die tiefgreifende Veränderung der Schülerschaft. Dem System sei es in den vergangenen zehn Jahren offensichtlich nicht gelungen, auf die signifikante Zunahme der Schüler mit Migrationshintergrund mit entsprechenden Förderprogrammen zu reagieren. Weit abgehängt seien vor allem die in erster Generation eingewanderten Kinder. Aber auch die Leistungsstarken erreichen Köller zufolge nicht mehr das Niveau von vor zehn Jahren.

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Neben den volkswirtschaftlichen Folgen – der Verlust des Lernstoffs eines Drittelschuljahrs bedeutet im Durchschnitt drei Prozent weniger Einkommen über das gesamte Berufsleben hinweg – hat dies gravierende Folgen für den Ausbildungsmarkt.

„Wir beobachten schon seit Langem, dass wir viele junge Leute nicht in die Ausbildung bekommen“, unterstreicht Bildungsforscher Köller, „sie verfügen über so geringe schulische Kompetenzen, dass die Betriebe sie nicht einstellen können. Und der Wohlfahrtsstaat muss dann für ihre Alimentierung aufkommen.“

»Das holen sie nie wieder auf«

Die Bildungskrise betrachtet er als „Katastrophe“, die in der öffentlichen Wahrnehmung immer noch nicht den Platz einnehme, den sie verdiene, weil sie angesichts der Vielzahl der aktuellen Notstände untergehe. „Dabei führt die Entwicklung dazu, dass wir noch Jahrzehnte erhebliche Probleme haben werden“, gibt Köller zu bedenken.

Hält man sich das gegenwärtige Bildungssystem vor Augen, sieht es kaum danach aus, dass sich die Lage auf absehbare Zeit bessern könnte. „Wir haben immer noch in zu wenigen Einrichtungen das Bewusstsein, dass die Kita neben dem Betreuungs- und Erziehungsauftrag auch einen Bildungsauftrag hat“, moniert der 59 Jahre alte Psychologe mit Blick auf den Mangel an gezielten Förderangeboten für benachteiligte Kinder. „Sie liegen gegenüber privilegierten Kindern in der Entwicklung schon bei der Einschulung um bis zu zwei Jahre zurück“, beobachtet er – und prognostiziert: „Das holen sie nie wieder auf.“

Defizite sieht er auch bei der Lehrerausbildung. „Wir haben bei der Qualität der Ausbildung noch durchaus Luft nach oben“, so Köller, „die Studenten werden viel zu wenig auf den Umgang mit der extremen Heterogenität der Schülerschaft vorbereitet.“ Der Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik an der Universität Kiel befürchtet zudem, dass die Bildung im Verteilungskampf um die Ressourcen das Nachsehen hat. „Das wäre ein fataler Fehler. Die Bildungskrise hat immense Langfristfolgen auch finanzieller Natur. Jeder Euro, den wir hier nicht investieren, fehlt uns in den nächsten 20 Jahren um ein Vielfaches beim Bruttoinlandsprodukt.“

 

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Bild: Shutterstock

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