Von Kai Rebmann
Annecy liegt am Nordufer des gleichnamigen Sees, nur wenige Kilometer von der Grenze zu Italien und der Schweiz entfernt und gilt als eines der beliebtesten Ziele in den ostfranzösischen Alpen. Der Donnerstag begann auf einem Spielplatz am See wie jeder andere Tag auch. Kinder spielten in mehreren Kleingruppen zusammen, beaufsichtigt von ihren Eltern oder Großeltern, die auf den Bänken an der Promenade saßen.
Gegen 9:45 Uhr fand die Idylle in Annecy dann aber ein jähes Ende. Ein Mann mit Turban auf dem Kopf und einem Messer in der Hand, so die Beschreibung in mehreren französischen Medien, stürmte auf den Spielplatz. Augenzeugen zufolge soll es der Angreifer dabei gezielt auf Kinder abgesehen haben: „Offensichtlich war das sein Ziel. Einige Leute versuchten, ihn zu vertreiben, er entfernte sich und die Polizei griff ein.“
Bilanz: Vier Kinder, alle „um drei Jahre“ alt, und zwei Erwachsene, ein älteres Ehepaar, wurden zum Teil schwer verletzt; zwei Kinder (3 bzw. 2 Jahre alt) und ein Erwachsener schweben noch in Lebensgefahr. Unter den Verletzten ist wohl auch ein 22 Monate altes Kind aus Deutschland, das in ein Krankenhaus nach Genf (Schweiz) gebracht worden sei. Bei dem mutmaßlichen Täter soll es sich um einen Syrer handeln, dem im vergangenen Spätjahr in Schweden Asyl gewährt worden sei.
Polizei zufällig in der Nachbarschaft
Dass nicht noch Schlimmeres passiert ist, ist wohl in erster Linie einem glücklichen Zufall zu verdanken. Die Polizei befand sich dem Vernehmen nach in unmittelbarer Nachbarschaft des Spielplatzes und konnte von Passanten, die den Syrer verfolgt hatten, quasi „herbeigewunken“ werden. Einem Sprecher zufolge klickten die Handschellen nur vier Minuten nach Beginn des Amoklaufs.
Einige deutsche Medien, etwa der TV-Sender „Welt“, beschrieben den Syrer als Christen, der bei der Ausübung der Tat ein Kreuz um den Hals und ein Gebetsbuch bei sich getragen habe. Die Vernehmung durch die Polizei dauere noch an, aber feststehe, so der Tenor, dass der Mann nicht geistig verwirrt gewesen sei. Wetten, dass man am Ende aber doch wieder zu einer anderen Einschätzung kommen wird?
Einmal mehr ist es jedenfalls sehr verwunderlich, wie eine solche „Diagnose“ in Windeseile gestellt werden konnte – zumal es dazu durchaus widersprüchliche Aussagen gibt. So gab ein Augenzeuge gegenüber dem Radiosender „France Bleu Pays de Savoie“ zu Protokoll: „Er sprach Englisch. Zuerst dachten wir alle, es sei eine Inszenierung, aber durch die Schreie der Leute merkte man, dass es Realität war. Der Typ war verwirrt.“ Das mag zwar so sein, darf aber keinesfalls von der Skrupellosigkeit eines solchen Verbrechens ablenken.
Bei einem erwachsenen Mann, der arglose Kleinkinder mit einem Messer angreift, muss man wohl – völlig unabhängig von Herkunft oder mutmaßlicher Religionszugehörigkeit – ganz grundsätzlich die Frage nach dessen geistiger Verfassung stellen. Die eigentliche Problematik besteht doch darin, dass der (vermeintliche) Zustand der geistigen Verfassung regelmäßig als mildernder Umstand gewertet wird. Bekannt ist dagegen, dass der Syrer vor rund zehn Jahren nach Europa gekommen ist und sowohl in Frankreich als auch Schweden einen Asylantrag gestellt hat. In Schweden wurde dieser im Spätjahr 2022 angenommen, sodass der Aufenthalt in Frankreich legal war.
Unglaublich, aber wahr: Der Syrer soll mit einer Schwedin verheiratet sein und mit dieser eine dreijährige Tochter haben. Er wäre somit also Vater eines Kindes, das genau im Alter der Mehrzahl seiner Opfer ist, auf die er in Annecy ohne jede Vorwarnung eingestochen hat.
Politiker reagieren bestürzt ...
Die Bluttat in den Alpen hat – wieder einmal – Bestürzung bis in die höchste Ebene der französischen Politik ausgelöst. Premierministerin Élisabeth Borne wollte sich möglichst schnell vor Ort ein Bild der Lage machen und sicherte schnelle und umfassende Hilfe zu. Präsident Emmanuel Macron sprach von einem „Akt absoluter Feigheit“ und bezeichnete Frankreich als eine „Nation unter Schock“. Laurent Wauquiez, Präsident der Region Auvergne-Rhône-Alpes, nannte das Verbrechen den „Gipfel der Abscheulichkeit“.
Es sind also die üblichen Reaktionen, man könnte auch von Phrasen sprechen, die nach solchen Taten – auch bei uns in Deutschland – immer wieder zu hören sind. Was bringt es den Opfern, wenn „unsere Gedanken sie und ihre Familien begleiten“, wie Präsident Macron etwa auf Twitter beteuerte? Spätestens in zwei Tagen kräht in Paris doch kein Hahn mehr nach der Bluttat von Annecy – bis es zum nächsten Angriff mit den nächsten Opfern kommt.
Oder man formuliert es wie Yaël Braun-Pivet, die Präsidentin des französischen Parlaments: „Wir hoffen, dass die Folgen dieses sehr schweren Angriffes keine Konsequenzen sein werden, die die Nation in Trauer führen.“
Ja, denn die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt und alles scheint besser, als sich mit der Realität und den Ursachen für solch abscheuliche Verbrechen auseinandersetzen zu müssen.
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Kai Rebmann ist Publizist und Verleger. Er leitet einen Verlag und betreibt einen eigenen Blog.
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