Der „Winter-Penis“: Ein schrumpfender Skandal Wie die „Bild“ journalistische Abgründe aufwärmt und Niveautiefen austestet

Von reitschuster.de

Es gibt Dinge, über die ein anständiger Mensch schweigen würde. Themen, die irgendwo zwischen Peinlichkeit und Kuriosität angesiedelt sind – und besser in vertraulichen Gesprächen bleiben sollten. Doch dann kommt die „Bild“ und stellt sich tapfer an die Front des investigativen Journalismus, um über den sogenannten „Winter-Penis“ zu berichten. Und so gerne wir – Hand aufs Herz – dieses doch sehr intime Thema, das unserer Meinung nach in der Öffentlichkeit nichts zu suchen hat, mit dem diskreten Mantel des Schweigens zudecken würden – wir können uns leider unserer journalistischen Pflicht nicht entziehen. Und müssen das Thema aufgreifen – nicht wegen, sondern trotz dessen Gegenstands. Um zu dokumentieren, in welche Abgründe sich unsere Medien begeben.

Da haben wir es also: Bei Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt schrumpft er. Der Penis. Und zwar nicht einfach nur ein bisschen, sondern angeblich um bis zu 50 Prozent. Das melden britische Experten, die sich offensichtlich für kein Thema zu schade sind. Hoden ziehen sich zurück, die Libido leidet, und wie Dr. Donald Grant – der selbst ernannte Indiana Jones der Kälteforschung – erklärt, priorisiert der Körper bei Minusgraden die Durchblutung wichtigerer Organe wie Herz und Lunge. Der Penis? Kaltgestellt. Die Hoden? Auf Rückzug ins Warme.

Doch keine Panik, liebe Männer. Die Rettung naht – in Form von Merino-Wollboxershorts und Bio-Baumwollunterhosen. Danke, „Bild“, für diese bahnbrechende Erkenntnis. Man fragt sich fast, warum der Artikel keine „Shopping-Tipps“ für winterliche Unterwäsche enthält.

Die wirklich wichtigen Fragen des Lebens

Während die Welt sich mit scheinbar unbedeutenden Themen wie Regierungskrisen, Kriegen oder ökonomischen Abgründen herumschlägt, beweist die „Bild“ ihre unvergleichliche journalistische Relevanz: Sie schaut dorthin, wo es weh tut. Oder eben kälter wird. Allein die Vorstellung, wie viele Redaktionssitzungen und Brainstormings dieser Artikel durchlaufen haben muss, lässt einem das Blut in den Kopf steigen. Man sieht förmlich die Expertenrunde vor sich, die sich den Kopf zerbricht: „Wie bringen wir es den Lesern am besten bei?“

Und wie, bitteschön, sieht es bei Frauen aus? Wird es bald eine Serie über den „Winter-Busen“ geben? Mit Tipps zu Thermo-BHs und den besten Heizpads für kalte Tage? Oder belässt man es bei diesem Triumph der Männerberichterstattung, der die Grenzen der journalistischen Würde mit Anlauf sprengt?

Ablenkung als Konzept?

Aber vielleicht steckt mehr dahinter. Während wir über schrumpfende Hoden schmunzeln, werden die echten Krisen dieser Welt zur Nebensache degradiert. Wer spricht noch über Armut, ökonomische Ungerechtigkeit oder Korruption und das Versagen der Regierung, wenn er gerade erfährt, dass es Thermo-Unterwäsche für „betroffene“ Männer gibt? Die Ablenkung durch Banales ist nicht neu, aber selten war sie so offensichtlich.

Vielleicht sollte uns der „Winter-Penis“ nicht nur zum Lachen bringen, sondern auch zum Nachdenken: Ist das wirklich der Journalismus, den wir verdienen? Oder lassen wir uns bereitwillig von solchen Belanglosigkeiten einlullen, während die Welt um uns herum aus den Fugen gerät?

Die „Bild“ hat es wieder geschafft. Mit einem Thema, das in die Kategorie „Unwichtig, aber kurios“ gehört, lenkt sie die Aufmerksamkeit auf sich. Und ja, wir lachen. Aber während wir das tun, bleibt der fade Nachgeschmack, dass etwas Grundsätzliches schiefläuft. Vielleicht liegt die eigentliche Erkenntnis nicht in Erkenntnissen in Sachen „Winter-Penis“, sondern in den frostigen Tiefen des journalistischen Niveaus, die solche Artikel offenbaren.

Bleiben Sie warm – und behalten Sie einen kühlen Kopf. Denn die Welt hat wirklich wichtigere Probleme.

P.S.: Kaum hatten wir diesen Text fertig, erreichte uns eine Mail eines Lesers, der auf einen Artikel im “Focus” hinwies, der von einem diametral entgegengesetzten Problem handelt: der angeblich „unerträglichen Qual“ eines Mannes aufgrund seines zu großen Geschlechtsorgans. Auch dieser Bericht widmet sich ausführlich den angeblichen Leiden und Herausforderungen, die mit dieser übermäßigen „Ausstattung“ einhergehen.

Es scheint, als stünde die Welt aktuell vor einer journalistischen Zerreißprobe: Schrumpfend oder überdimensioniert – die Größe eines männlichen Körperteils wird zur medialen Kernfrage. Man kommt sich vor wie im Tollhaus. Was ist aus dem Volk der Dichter und Denker geworden – wenn in den Medien die Dimension eines bestimmten Körperteils zu einem zentralen Thema avanciert?

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