Es war ein Thema, wie gemacht für die Empörungsindustrie, sensationsheischend und klickversprechend: Ein Weihnachtsmann, der ein vierjähriges Kind mit einer Rute schlägt – mitten auf einem Weihnachtsmarkt im beschaulichen Stralsund. Die Schlagzeile allein reicht aus, um die Vorstellungskraft in Fahrt zu bringen: Tränen, Entsetzen, ein Kinderfreund, der die Nerven verliert. Das klingt nach einem echten Aufreger – oder? Und damit nach einer Nachricht, die Leserzahlen garantiert. Genau so griff die „Bild“-Zeitung die vermeintliche Geschichte dann auch auf. Mit großen Lettern, emotionaler Schilderung und einer klaren Botschaft: Hier der brutale Täter, da das wehrlose Opfer. Doch kaum hatte die Empörungswelle Fahrt aufgenommen, kamen Zweifel auf.
Der Nordkurier, ein regionales Medium, das schon in der Corona-Zeit durch inzwischen fast schon ungewöhnliche kritische Berichterstattung auffiel, zeichnete auch hier, wieder einmal, ein ganz anderes Bild der Ereignisse. Laut Recherche der Kollegen und den Aussagen des betroffenen Weihnachtsmanns war die angebliche Attacke nichts weiter als ein Missverständnis. Demnach handelte es sich um eine Bewegung, die spielerisch war, und ohne jede Absicht, einen Schlag auszuteilen. Das Kind sei weder verletzt noch traumatisiert worden, so der Tenor des Berichts.
Doch es kommt noch dicker: Weder die Polizei noch der Veranstalter bestätigten die Darstellung der „Bild“. Was bleibt, ist eine reißerische Geschichte, die bei genauerem Hinsehen ihre Substanz verliert. Warum ich sie hier dennoch aufgreife, obwohl so etwas bei der „Bild“ genauso wenig eine Ausnahme ist wie die rot-grüne Hofberichterstattung?
Weil sie so symbolisch und so typisch ist.
Denn warum funktioniert eine solche Geschichte überhaupt? Sie bedient ein Schema, das perfekt in die aktuellen Aufregungsmechanik passt und in Zeiten von schnellen Klicks und Empörung besonders gut zieht: Eine harmlose Tradition – hier der Weihnachtsmann mit seiner Rute – wird aus einem nichtigen Anlass heraus in einen moralischen Skandal verwandelt. Das erzeugt Empörung, Klicks und Diskussionen, selbst wenn die Faktenlage unsicher ist. Ob der Sachverhalt tatsächlich so schwerwiegend war, gerät schnell in den Hintergrund. Hauptsache, die Story polarisiert.
Die „Bild“-Zeitung ist ein Meister in dieser zwielichtigen Kunst. In dem Blatt werden Geschichten regelmäßig über die Schmerzgrenze hinaus zugespitzt, Täter und Opfer in Schwarz-Weiß gezeichnet, Nuancen bewusst ausgeblendet. Doch was bleibt am Ende übrig? Ein Weihnachtsmann, der ganz in seiner Rolle aufging und schon mit sechs Jahren anfing, sich entsprechend zu verkleiden, aber aufgrund seiner Krankheit mit 62 Jahren eigentlich aufhörte damit – sich dann aber noch einmal breitschlagen ließ, für die Eröffnung in sein Kostüm zu schlüpfen. Und der sich nun öffentlich rechtfertigen muss, der Schuldgefühle hat und „mental am Boden“ ist, wie er sagt. Ein Kind, das nun ungewollt im Zentrum der geballten Medien-Aufmerksamkeit steht – ohne je gefragt zu werden. Und Medienkonsumenten, die einmal mehr auf einen inszenierten Skandal hereinfallen.
Der Fall von Stralsund zeigt exemplarisch, wie unseriöser Journalismus auf Kosten von Einzelpersonen funktioniert. Journalistische Sorgfalt? Fehlanzeige! Stattdessen dominiert der reflexartige Wunsch nach einer einfachen Erzählung: Böser Weihnachtsmann trifft unschuldiges Kind. Dass diese Dynamik letztlich die Glaubwürdigkeit der Medien insgesamt untergräbt, bzw., die spärlichen Reste derselben, scheint niemanden zu stören. Dabei leiden – auch unter den alternativen Medien – vor allem die Seriösen, die versuchen, halbwegs nüchtern und nicht effekthascherisch zu berichten – was angesichts solcher marktschreierischen Tendenzen aber zunehmend als langweilig empfunden wird.
Vom Weihnachtsmann zu größeren Fragen
Die große Frage bleibt: Wie konnte unsere Gesellschaft derart anfällig für Skandalgeschichten werden? Klar, Skandalgeschichten und das Aufblasen derselben gab es schon immer – aber solche nichtigen Anlässe, das ist doch eine neuere Entwicklung. Liegt es an der Überflutung mit Nachrichten, die uns zwingen, jedes Ereignis in Sekunden zu bewerten? Oder auch an der zunehmenden Emotionalisierung, die durch soziale Medien verstärkt wird? Ein nüchterner, sachlicher Blick auf Ereignisse – ob in der Politik oder auf einem Weihnachtsmarkt – wird immer schwieriger. Ich spüre das auch am eigenen Leib. Auch selbst ist man allzu oft der Versuchung zum „Lautsprechen“ ausgesetzt. Und geht ihr leider sicher auch immer wieder mal auf den Leim.
Insofern muss man sich hier auch an der eigenen Nase packen.
Der Weihnachtsmann von Stralsund wird irgendwann wieder zur Ruhe kommen – das hoffe ich zumindest, auch wenn Narben zurückbleiben werden. Die Aufregung um ihn zeigt jedoch, wie dringend wir als Gesellschaft eine Rückkehr zu besonnenem, verantwortungsbewusstem Journalismus brauchen – und wie dringend wir uns fragen sollten, warum wir uns immer wieder von den gleichen Mustern einfangen lassen. Wohlgemerkt – mich selbst nicht ausgenommen.
Wieder zurück:
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