„Wir amüsieren uns zu Tode“ warnte der US-Medienwissenschaftler in seinem gleichnamigen Buch schon Mitte der 1980er Jahre. Seine These damals: An die Stelle von ernsthafter politischer Auseinandersetzung wird Entertainment und Show treten. Oder, wissenschaftlicher ausgedrückt: Statt Erkenntnis- und Wahrnehmungsanstrengung werde das Zerstreuungsgeschäft vorherrschen. Die Folge davon, so Postman, ist ein rapider Verfall der menschlichen Urteilskraft.
Ich musste spontan an Neil Postman und seine düsteren Vorhersagen denken, als ich heute folgende Überschrift bei „Focus Online“ las: „Als es um NRW-Boss Wüst geht, fährt Söder seine Krallen aus: ‚Kam immer zu spät’“.
Die Geschichte ist in dreifacher Hinsicht bizarr. Zum ersten, dass sich eine Talkshow, die mit Zwangsgebühren finanziert wird und deshalb politisch solide informieren sollte, damit beschäftigt, dass Ministerpräsidenten Nikoläuse vor laufender Kamera verteilen und verzehren und das dann in den sozialen Medien posten. Und einer den anderen dann anfeindet auf dem Niveau eines Zickenkriegs unter Drittklässlern. Zum zweiten, dass Ministerpräsidenten sich derart zum Affen machen. Und zum dritten, dass dann neben der ARD auch weitere Medien auf dieses Affentheater anspringen und groß darüber berichten.
Was sagt das über unser politisches und mediales Klima aus, wenn die peinliche Selbstinszenierung von zwei Ministerpräsidenten mit Schoko-Nikoläusen mehr Beachtung findet als jede Landtagsdebatte über Haushaltsdisziplin oder Bildungskatastrophen? Und was sagt es über die Protagonisten selbst? Wüst und Söder geben sich hier nicht als Männer mit Verantwortung, sondern als Karikaturen eines Amtes, das einst mit Namen wie Kohl, Strauß, Kiesinger oder Bernhard Vogel verbunden war – Typen mit Format, egal was man inhaltlich von ihnen hielt.
Heute dagegen: Infantiler Theaterdonner statt Inhalt, Gesten statt Gedanken. Die neue politische Klasse scheint weniger an staatsmännischer Autorität interessiert als an medialer Anschlussfähigkeit. Wer den besten Spruch bringt, wer sich am geschmeidigsten in die Talkshow-Kulisse einfügt, wer in 15 Sekunden TikTok-tauglich ist – der gilt als „modern“, „nahbar“, „volksnah“. In Wahrheit ist es nichts als Imagepolitik in Reinform: Verpackung ohne Gehalt, PR statt Führung.
Dass das Publikum diese infantilen Rituale nicht nur duldet, sondern offenbar goutiert, macht die Sache nicht besser. Im Gegenteil. Es erinnert fatal an Postmans Diagnose: Eine Gesellschaft, die auf dem Weg in die Selbstverblödung ist, merkt es nicht daran, dass sie verblödet – sondern daran, dass sie den Zustand für normal hält.
Und das politische Personal? Spielt mit. Will dazugehören. Will viral gehen. Will „cool“ sein. Und das gelingt nur, wenn man seine Würde zu Markte trägt wie andere ihre Influencer-Schnäppchen. Der Preis: Glaubwürdigkeit, Ernsthaftigkeit, Vertrauen.
Es ist kein Zufall, dass viele Bürger das Gefühl haben, nicht mehr von Erwachsenen regiert zu werden. Sondern von Figuren, die in der Rolle des Politikers spielen wie Kinder im Kindergarten „Vater-Mutter-Kind“. Man redet mit bedeutungsschwerer Miene über „Transformation“ und „Zeitenwende“ – und gerät gleichzeitig in Ekstase, weil man dem Kollegen einen Nikolaus unter den Talkshow-Tisch geschoben hat.
Die Infantilisierung ist kein Nebenschauplatz. Sie ist das neue Zentrum des politischen Betriebs. Und sie zeigt sich nicht nur in solchen Anekdoten, sondern in der Art, wie heute Sprache gemacht wird: „Narrative“, „Gefühlshaushalte“, „Sprechfähigkeit“ – das ist der Sound einer Klasse, die sich selbst pausenlos spiegelt, aber den Ernst des Amtes nicht mehr kennt.
Es ist dramatisch, zu sehen, wie der Maßstab der Persönlichkeiten verfällt. Männer wie Konrad Adenauer, Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl hatten Format, waren aus staatsmännischem Holz geschnitzt, voller Ernsthaftigkeit und sich ihrer Verantwortung bewusst – auch wenn sie natürlich normale Menschen mit vielen Fehlern waren. Die heutige politische Klasse dagegen wirkt in großen Teilen so, als sei sie nie aus der Pubertät herausgekommen. Das war auch ein Grund dafür, warum Angela Merkel mit ihrer DDR-Kaderausbildung die gesamte CDU-Spitze locker in die Tasche stecken und die Partei regelrecht kastrieren konnte.
Die Politiker vom alten Schlag waren ein beliebtes Ziel für Kabarettisten. Heute ist das politische Kabarett ausgestorben (bzw. ersetzt durch Leute wie Böhmermann, die statt den Regierenden die Opposition und die Regierten lächerlich machen) – weil unsere Spitzenpolitiker das Kabarett quasi selbst liefern. Die infantile Show mit der Nikolaus-Geschichte wäre früher Stoff für ein Sketch von Dieter Hildebrandt gewesen – heute ist sie Realität.
Und nicht irgendeine Realität, sondern eine, in der ein Schoko-Nikolaus mehr politische Relevanz entfaltet als jedes Wirtschafts- oder Bildungsgipfel-Papier. Eine, in der Ministerpräsidenten sich wie Reality-TV-Darsteller aufführen – und dafür nicht ausgelacht, sondern beklatscht werden.
Nein, wir stehen nicht am Anfang eines Verfalls. Wir stecken mittendrin. Das politische Personal ist zum Abziehbild seiner Wähler verkommen, die Institutionen verkommen zu Kulissen. Der Respekt ist futsch, der Ernst ebenso. Und wer das Spiel nicht mitspielt, gilt als humorlos, verbohrt oder gar „rechts“.
Was bleibt, ist ein Land im Dauerbespaßungsmodus – regiert von Figuren, die sich selbst für Helden halten, weil sie mal einen Tweet landen oder einem Kollegen den Nikolaus-Erfolg verweigern. Willkommen in der Kinderdemokratie. Nur leider ohne Erwachsene, die irgendwann wieder das Licht anschalten.
Neil Postman hatte recht. Wir haben uns zu Tode amüsiert. Jetzt sind wir nicht nur politisch, sondern auch geistig tot. Und, anders als Postman es prophezeite: nicht mal gut unterhalten.
Bei Söder, Wüst, Böhmermann & Co. droht nach dem geistigen und politischen Tod auch noch der durch Langeweile.
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