Sonderbare Menschen gibt es in jedem Land und in jeder Gesellschaft. Das ist per se nichts Ungewöhnliches. Und der pure Fakt ihres Vorhandenseins sagt nichts über die Gesellschaft aus. Sehr wohl aussagekräftig in dieser Hinsicht ist jedoch, in welche Richtung die jeweilige Sonderbarkeit ausgeprägt ist. Und so kann die Geschichte, um die es heute geht, wohl kaum Zufall sein. Hat Deutschland doch während der Corona-Zeit auf bedrückende Art belegt, dass es immer noch redlich seinen alten Ruf verdient, eine Hochburg von Denunzianten zu sein. So wie es der Bayerische Liedermacher Konstantin Wecker einst besungen hat: „A jeder Deutsche is a Lehrer und a Freizeitpolizist, alle sands so sauber, und fürn Blues werdns immer tauber.“ Wobei Wecker zwar jenen Unrecht tut, die sich über diese Eigenschaft genauso aufregen wie ich – aber abseits seiner Pauschalisierung leider Recht hat.
Wofür Niclas Matthei ein Beleg ist. Während andere Menschen mit 18 Jahren die unterschiedlichsten Hobbys pflegen und/oder sich dem anderen Geschlecht verschreiben, kennt er offenbar nur eine Leidenschaft, der er sich völlig hingibt: Anzeigen erstatten. Selbst nennt sich der junge Mann aus Gräfenhainichen in Sachsen-Anhalt denn auch „Anzeigenhauptmeister“, wie die „Bild“ schreibt: „Als informeller Mitarbeiter des Ordnungsamtes radelt er in Signal-Outfit durch die Straßen, immer auf der Suche nach Verkehrssündern. An seinem Fahrrad hat er die Aufschrift „POLIZFI“ befestigt – eine Anspielung auf „Polizei“. Und vorn und hinten Kameras.
Sobald er einen Falschparker findet, wird das Vergehen gnadenlos dokumentiert und – natürlich – zur Anzeige gebracht. Mit seiner ‘Dienstwaffe‘ (dem Handy), schießt er ein Beweisfoto und schickt es per App direkt zum Ordnungsamt.“
Ein Auge drückt er dabei niemals zu, wie er dem Blatt verriet: „Ohne Gesetz funktioniert die Gesellschaft nicht, da sind wir wieder in der Steinzeit. Und es werden andere gefährdet. Mit kleinen Dingen fängt das an.“ Allein im vergangenen Jahr hat Matthei dem Bericht zufolge 4.226 Anzeigen aufgegeben. Womit er half, die Stadtkasse seiner Heimatstadt Gräfenhainichen mit über 140.000 Euro zu füllen, wie die „Bild“ seine Verdienste aufzählt. Seine Mission demzufolge: „Er will in jeder deutschen Stadt und Gemeinde mindestens einen Falschparker anzeigen.“
Dabei bleibt er trotz Anfeindungen und Beleidigungen hart, wie die „Bild“ beteuert und ihn mit folgender Aussage zitiert: „Angst ist mir ein Fremdwort.“ Er habe auch schon Polizeibeamte belehrt, weil das Kennzeichen am Streifenwagen zu schmutzig gewesen war. „Andere hätten davor viel zu viel Schiss“, glaubt der junge Mann.
Dass anderen das einfach egal sein könnte – auf diese Idee ist er wohl nicht gekommen. In seiner Heimatstadt hat der junge Mann dem Bericht zufolge bereits acht Prozent aller Einwohner angeschwärzt. Wegen seiner Ausbildung im Medizin-Bereich kann er aktuell zwar nicht das selbst gesteckte Plan-Soll an Anzeigen erfüllen, es bleibt zu viel liegen. Aber das will er aufarbeiten in Extra-Schichten. Und er ist sich sicher: „Mit meiner Erfolgsbilanz werde ich so bekannt wie der Bundeskanzler.“
„Wie die Gemeinde sein erwirtschaftetes Geld einsetzt, sei ihm übrigens egal“, schreibt die „Bild“, und zitiert ihn wie folgt: „Neue Glühbirnen, neues Fußballstadion … die Stadt soll es für das nehmen, was sie glücklich macht.“
Wie gesagt – sonderbare Menschen gibt es in jedem Land. Matthei aber wirkt wie eine Karikatur der deutschen Gesellschaft. Sein zwanghafter Wunsch nach Ordnung, seine Pedanterie, seine Leidenschaft fürs Denunzieren und seine Obrigkeitshörigkeit und Staats-Besessenheit, kombiniert mit Größenwahn („bekannter als der Bundeskanzler“), maßloser Selbstüberschätzung („andere hätten davor viel zu viel Schiss“), Geltungsdrang (Interview mit der „Bild“), Hang zur Belehrung und Sendungsbewusstsein – der 18-Jährige verkörpert in sich sozusagen die Quintessenz des deutschen Spießers. Der früher eher „rechts“ war und heute eher im rot-grünen Schafspelz daher kommt.
Sehr interessant ist auch, dass ihm die größte Zeitung im Land einen ganzen Artikel widmet – und sich dabei wie bei einem Eierlauf hütet, über die Zwischentöne hinaus Klartext zu sprechen. Vielleicht, weil man in der Redaktion ahnt, dass viele Leser ähnlich ticken oder gar Sympathien für Matthei haben könnten?
In Osteuropa wäre einer wie Matthei schlecht vorstellbar. Dass dort jemand solche Zwänge entwickeln könnte, ist zwar sicher nicht auszuschließen. Aber die Gesellschaft würde das nicht hinnehmen und er würde aller Wahrscheinlichkeit nach derart unter Druck gesetzt, bis hin zu Gewalt oder deren Androhung, dass er seinen Zwang bald nicht mehr ausleben könnte. Dort bräuchte er für sein Handeln wirklich Mut – für den er in fataler Fehleinschätzung seinen eigenen Gratismut hält.
Mir ist ein Land mit solchen „Helden“ unheimlich. Gar nicht daran zu denken, wen Matthei in anderen Zeiten alles hätte „anzeigen“ können.
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