(red.) Kennen Sie die neuen Scham-Ecken in den großen Discountern? Diese Schütten mit den leuchtroten 30 %- oder 50 %-Aufklebern an der Ware, wo all das landet, was sein Mindesthaltbarkeitsdatum zu überschreiten droht? Kunden schleichen hier gezielt um solche sporadischen Angebote herum, um dann, einen Zufall simulierend, davor stehenzubleiben und zuzuschlagen. Als Zuschauer will man nur hoffen, dass auch Geiz dabei ist und nicht nur Armut, letzteres wäre bitter.
Und jetzt stellen Sie sich theoretisch einmal vor, bei Lidl, Aldi und Co lägen demnächst Covid-19-Impfangebote kurz vor dem Verfallsdatum in diesen Schütten. Klingt grotesk, ist aber näher dran an der Wahrheit, als vielen lieb sein kann, denn Aldi ist ins Impfgeschäft eingestiegen. Impfungen brauchen allerdings keine roten Aufkleber, sie bleiben nämlich vorerst unabhängig vom Frischegrad kostenfrei – klar, der Steuerzahler muss es am Ende trotzdem bezahlen, aber es kommt aus der großen Wundertüte und nicht aus den beengten Portemonnaies.
Auf der Bundespressekonferenz am Mittwoch dieser Woche hatte sich Stefan Genth als Chef des Handelsverbandes für eine Steigerung der Impfbereitschaft starkgemacht. Der Verband startete eine Kampagne unter dem Motto „Leben statt Lockdown – Lass dich impfen“. Über dreißig große Unternehmen und Ketten aus dem Nonfood- und Lebensmittelbereich würden jetzt gemeinsam „zum Impfen aufrufen“, so Genth.
Aldi, Rewe, Kaufhof oder auch Thalia sind mit dabei. In ihren Filialen stellen sie großzügig Flächen zur Verfügung, wo Gesundheitsämter dann impfen können. Also zwischen dem Brötchenregal und der Frischetheke dann die Frage: Biontech, Johnson&Johnson oder Moderna – was darf’s denn heute sein?
Uneigennützig ist das aber alles auch nicht, gesteht Genth freimütig ein: Der Anschaffungswille der Menschen sei laut einer regelmäßig durchgeführten Befragung von fünftausend Konsumenten auf einem Tiefstand, darauf wolle man sich entsprechend vorbereiten. Hauptziel: Die Vermeidung eines weiteren Lockdowns durch eine Impfkampagne direkt vor Ort im Discounter. Es geht um Umsatz und nochmal um Umsatz.
Spannend dürfte aber noch etwas ganz anderes werden: Wenn nur Geimpfte oder Genesene einkaufen, dann wäre niemand im Geschäft, der dieses neue Angebot überhaupt in Anspruch nehmen könnte, es sei denn zur Auffrischung.
Und auch, wenn nach der 3G-Regel die Getesteten ebenfalls Einlass erhielten – diese Klientel muss demnächst ihre Tests selber bezahlen, kauft also entsprechend seltener ein – wären hier Testungen auf Kosten von Aldi und Co nicht viel geschäftstüchtiger? Dazu bräuchte man auch kein Fachpersonal aus dem Gesundheitsamt wie für die Impfungen. Möglicherweise aber verweigern viele ungeimpfte Bürger aus Prinzip auch das Testen, dann bliebe der monetäre Mehrwert überschaubar.
Von den vierzig Millionen Menschen, die jeden Tag mit dem Handel in Berührung kommen, soll jetzt eine nicht unerhebliche Anzahl der noch ungeimpften Kunden überredet werden, etwas für den Handel zu tun.
Für den Handel? Tatsächlich formuliert es der Nachrichtensender n-tv exakt so: „Vielleicht motiviert ein einfaches Impfangebot den einen oder anderen, sich gegen das Corona-Virus impfen zu lassen und so dazu beizutragen, dass der Handel wieder florieren kann.“
Der Handelsverband weiß mittlerweile zu berichten, seine Kampagne sei „seit ihrem Auftakt zur größten privatwirtschaftlich organisierten Impfkampagne Deutschlands gewachsen“. Schon mehr als 100.000 Impfdosen sollen so in den Einkaufszentren verimpft worden sein.
Jens Spahn freut’s: „Impfen ist eine individuelle Entscheidung, aber gleichzeitig eine Herausforderung für die Gesellschaft als Ganzes. Deshalb bin ich dankbar, dass auch der Handel Verantwortung übernimmt, Überzeugungsarbeit leistet und Impfangebote schafft. Jede Impfung zählt auf dem Weg raus aus der Pandemie.“
„Impfung? Da spiele ich mit!“, wirbt auch Fußballnationalspieler Emre Can, ebenso wie Schauspielerin Kathy Karrenbauer. Can war für den Handel zum Interview bereit. So wurde er gefragt: „Für wen oder was lassen Sie sich impfen?“
Emre Can antwortete, er möchte mithelfen, dass Normalität wieder möglich würde, er möchte seine Familie, seine Freunde und seine Kollegen schützen und endlich wieder vor großartigen Fans Fußball spielen. „Alle Menschen, die sich impfen lassen, tragen einen Teil dazu bei, Entlastung zu schaffen.“
Die Kampagne des Großhandels passt zur Forderung des Robert Koch-Instituts, neue niedrigschwellige Angebote einzuführen, um auch noch die Unentschlossenen zu erreichen.
Unser Nachbarland Österreich hat schon vor Wochen mit Impfungen in Supermärkten begonnen, basierend auf der Annahme, Impfen ohne Termin sei ein besonders starker Anreiz, Ungeimpfte für die Impfung zu gewinnen.
Und Mitte August berichtete der MDR davon, dass in Sachsen Familien-Impftage, Aktionen auf Volksfesten, in Einkaufszentren und am Rande von Fußballspielen gut angenommen würden.
Der Bürger wird sich also an Schlagzeilen gewöhnen müssen wie diese hier aus dem Österreichischen „Kurier“: „Impfung – Ab Donnerstag auch im Kaufhaus Gerngross ohne Termin“. Demnächst auch in den Werbeprospekten der Kette? Gibt es das schon?
Impfkritiker oder -verweigerer sind jedenfalls nach neuer Lesart nur noch „Spätentschlossene“. Die Impfung an sich steht nicht mehr zur Debatte.
In Russland ist das Impfen im Kaufhaus übrigens schon länger möglich, der Impfstoff „Sputnik“ wird dort auf diese niedrigschwellige Art und Weise schon seit Monaten verabreicht, beispielsweise im Kaufhaus GUM am Roten Platz.
Für den Deutschlandfunk hatte ein Redakteur den Selbsttest in Moskau gemacht:
In einem kurzen Gespräch empfiehlt mir eine Ärztin: „Von heute an trinken wir drei Tage lang keinen Alkohol, treiben keinen Sport. Duschen geht, aber an der Einstichstelle reiben Sie nicht. Drei Tage keine Banja, Sauna und kein Schwimmen.“ Dann schon wird die Spritze aufgezogen, und Momente später in meinen rechten Oberarm gesetzt. Eine Minute später erhalte ich mein Zertifikat mit Stempel, Datum und Unterschrift. Und der nächste Freiwillige reicht mir als Belohnung ein Eis am Stiel. Kostet nichts. So wie die Impfung auch.
Und wer also kein Biontech, sondern unbedingt Sputnik will, der reist möglicherweise bald nach Moskau mit seinem deutschen Impfausweis. Es wäre tatsächlich interessant zu wissen, wie viele Linke etwa es besonders schick fänden, sich im erlauchten Kreis der Sputnik-Geimpften zu befinden.
Text: red