Auch „Eigenverantwortung“ ist jetzt böse Sprache als Machtmittel der Ideologen

Im „Neusprech“ in George Orwells Roman „1984“ wird die Bedeutung von Begriffen in ihr Gegenteil verdreht:

  • Krieg ist Frieden
  • Freiheit ist Sklaverei
  • Unwissenheit ist Stärke

Orwells Roman ist auch eine Abrechnung mit dem Kommunismus, in dem solche völligen Verdrehungen von Begriffen üblich waren. Man erinnere nur daran, dass die DDR für „Deutsche Demokratische Republik“ stand, die Mauer „antifaschistischer Schutzwall“ genannt wurde und etwa der 17. Juni 1953, ein Aufstand gegen die linke Diktatur, in dieser als „faschistischer Umsturzversuch“ diffamiert wurde.

Die Begriffsverdrehung und die Nutzung von Sprache zur Manipulation von gesellschaftlichen Debatten sind nun auch in der Bundesrepublik allgegenwärtig. Unpassende Begriffe werden einfach geändert („Geflüchtete“ statt „Migranten“), früher positiv besetzte Begriffe wie „Querdenker“ werden zum Schimpfbegriff, weil sich „die Falschen“ so nennen.  

Nun wird schon wieder ein neuer Begriff umgedeutet: „Eigenverantwortung“ wurde nun zur „Floskel des Jahres“ erklärt. Wie meistens bei den Sprach-Manipulationen ist auch hier wieder ein ominöser Verein am Werk: Die selbsternannten Sprachkritiker des „Netzprojekts Floskelwolke“. Über dieses ist wenig bekannt, außer den beiden Betreibern: Udo Stiehl, Journalist beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk, und Sebastian Pertsch, ein freiberuflicher Journalist. Die Internet-Seite des „Netzprojekts“ hat nicht einmal ein Impressum, wie es gesetzlich vorgeschrieben ist, und wirkt wie hastig aus einem Seiten-Baukasten zusammengewürfelt. All das hindert die großen Medien aber nicht daran, wie üblich wie auf Knopfdruck und unisono die „Entscheidung“ und das mit ihr verbundene Narrativ weit zu verbreiten – als handle es sich um die Entscheidung eines ernst zu nehmenden Gremiums. So werden Stimmungen erzeugt und verbreitet. Das „Unwort des Jahres“ funktioniert nach dem gleichen manipulativen Schema. 

Die Begründung des „Netzprojekts“ für die „Wahl“ von „Eigenverantwortung“: „Ein legitimer Begriff von hoher gesellschaftlicher Bedeutung wird ausgehöhlt und endet als Schlagwort von politisch Verantwortlichen, die der Pandemie inkonsequent entgegenwirken. Fehlgedeutet als Synonym für soziale Verantwortung und gekapert von Impfgegnerinnen und Impfgegnern als Rechtfertigung für Egoismus.“

Faszinierend: Man wirft anderen vor, den Begriff „Eigenverantwortung“ auszuhöhlen – und betreibt genau das, ja noch mehr: Man deutet ihn zu etwas Negativem um. Denn heutzutage liest eine große Mehrheit der Menschen ohnehin nur noch die Überschriften. Und dann bleibt hängen, dass „Eigenverantwortung“ etwas Schlechtes sei.

Wie einst im Sozialismus.

Will man verstehen, worum es eigentlich geht bei dem Herumdoktern an der Sprache, hilft ein Blick in Wolfgang Bergsdorfs Buch „Politischer Sprachgebrauch und totalitäre Herrschaft“ aus dem Jahr 1994. Dort heißt es:

Untrüglicher Beweis für das Vorhandensein totalitärer Herrschaft ist eine funktionierende Gleichschaltung der politischen Kommunikation. Immer dann, wenn das ,Parlament“ mit einer Stimme spricht, die gesellschaftlichen Organisationen ihm applaudieren und die Medien diese eine Stimme nochmals verstärken, ist zu vermuten, daß dies nicht das Ergebnis eines offenen und öffentlichen Diskussionsprozesses ist, sondern die Wirkung totalitärer Herrschaft, ausgeübt von einer Partei, personifiziert durch ihre Führung, legitimiert durch ihre Ideologie.
(…) Denn der politische Sprachgebrauch in einer totalitären Herrschaft erleidet eine wesentliche Verarmung und Verkürzung, die Folge des Zweckes des politischen Sprechens im totalitären System ist. Der Bonner Politikwissenschaftler und Zeithistoriker Karl Dietrich Bracher, einer der weltweit wichtigsten Totalitarismusforscher, hat den Prozeß des totalitären Denken analysiert und dabei die „Tendenz zu einer extremen Vereinfachung komplexer Realitäten“ hervorgehoben. Typisch für totalitäres Denken sei „der Anspruch, sie (die komplexe Wirklichkeit) auf eine Wahrheit zu reduzieren und zugleich dichotomisch aufzuspalten in gut und böse, richtig und falsch, Freund oder Feind, mit einem einzigen Erklärungsmuster die Welt bipolar zu erfassen.(…)

Erschreckend, wie aktuell das heute wieder klingt. 

PS: Spiegel Online schreibt: „2020 wurde nach den rechtsextremen Anschlägen in Hanau das Wort »Einzelfälle« als »Floskel des Jahres« gewählt. Die Sprachkritiker störten sich am inneren Widerspruch des Wortes und sahen in ihm eine Verharmlosung von Rechtsextremismus.“ Das zeigt exemplarisch die Ideologisierung – dass mit dem Wort „Einzelfälle“ auch Verharmlosung von islamistischem Terror oder linksextremistischen Gewalttaten betrieben wird, wird gar nicht erst angesprochen. Würde wohl auch nicht ins Narrativ passen.  

Bild: Screenshot ARD/Ekaterina Quehl
Text: br

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