Brandbeschleuniger Covid-19 und die Grenzen der EU

Gastbeitrag von Prof. Dr. Hans-Rolf Vetter*

Es bedurfte der Corona-Krise, um die grundlegenden sozio-ökonomischen und mentalen Grenzen der EU endgültig vor Augen zu führen. Zwei Entwicklungen stechen dabei besonders hervor: Zum einen die italienische Empörung über das angeblich „kaltherzige“, von mangelnder europäischer Solidarität geprägte Verhalten „der“ Deutschen, die – über Jahrzehnte unvorstellbar – sogar in ein erneutes Aufflammen von Kriegsphantasien einmündet. Zum anderen die jüngsten Entscheidungen in der Euro-Gruppe zum Auflegen eines Corona-Rettungsschirms und eines sogenannten „Recovery Fund“.

Während ersterer mindestens 540 bis 600 (!) Milliarden Euro „stark“ ist – ESM-Kredite 240 Mrd., EIB-Kredite 200 Mrd., Europäisches Kurzarbeitergeld 100 Mrd. sowie möglicher Weise ein zusätzlicher Europäischer Wiederaufbaufond von mindestens 60 weiteren Milliarden – kommt nun noch der bereist grundsätzlich beschlossene „Recovery Fund“ hinzu, der sich allein auf weitere 2,5 Billionen € (!) aufsummiert, und der wiederum zu 60 Prozent nicht etwa aus Krediten, sondern aus Zuschüssen, sprich: verschenktem Geld, bestehen soll. Die Aggressivität und Verbitterung, mit der lange Zeit für ein „Für“ (Südeuropäer) und „Wider“ (Nordeuropäer) solcher Maßnahmen gekämpft worden ist, lässt erahnen, wie dramatisch die Konflikte innerhalb der EU inzwischen ausgetragen werden, und dass die in Gang gesetzte Geldschwemme die tiefen Gräben nur für sehr kurze Zeit überdecken wird. Klar: da lodert ein Brandherd!

Kommunikative Zerrüttung und Ende des EU-Maskenballs

Das sich ankündigende Desaster eines immer stärkeren Auseinanderfallens war zwar schon vorher sehr hoch, konnte aber bislang über die für Brüssel übliche euphemistische „EU-Propaganda“ aus Zuckerbrot und Peitsche –das gilt ganz besonders für die deutschen Ideologiebeiträge und Beschönigungen – unter den Teppich gekehrt werden. Faktisch handelt es sich jedoch um ein bereits lange schwelendes, grundsätzlich in der Konstruktion der EU angelegtes Versagen, zu dem nun aktuell das „Staatsversagen“ nahezu aller EU-Mitgliedsstaaten hinzukommt.

Die Corona-Krise wirkt offenbar als eine Art Brandbeschleuniger. Sie ist aber im eigentlichen Sinne nicht selbst Ursache der finalen Grenzen der EU. Verändert hat sich in den letzten Wochen „lediglich“, dass unter dem Druck eines drohenden medizinischen und wirtschaftlichen Desasters deren ohnehin schon fragile –seit Jahren höchst verlogen dargestellte – Architektur nunmehr erbarmungslos „entlarvt“ wird. Jetzt geht es an die Substanz!

Mit Covid-19 ist urplötzlich eine neue Problematik aufgetaucht, die alle bisherigen „Sicherheiten“ der europäischen Vereinigung abgeräumt hat: Erstens wird jetzt das vielfältige „Staatsversagen“ sichtbar (siehe aktuell allein den Mangel an präventivem Katastrophenschutz). Zweitens sehen wir die Wiederkehr des Denkens in „nationalen“ Systemen, wenn es denn hart auf hart kommt. Und drittens werden die nach wie vor bestehenden Unterschiede im Verständnis der Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie der staatlichen Haushaltspolitik nunmehr ungeschminkt sichtbar. Nebenbei bemerkt haben wir es viertens auch mit einem ungeheuren Medien-Versagen zu tun, weil diese ihrem Auftrag, die Komplexität der Vernetzungen und ihrer Folgen in der EU gegenüber dem „Souverän“, dem europäischen Bürger, aufzuklären, auf Grund ihrer vielfachen sachlichen Inkompetenzen, ihrer ideologischen Verbohrtheit und ihrer unappetitlichen Unterwürfigkeit gegenüber den Mächtigen einfach nicht nachkommen.

Diese grundlegenden Konstruktionsschwächen der EU ständig zu negieren, lag von Anfang an einerseits im Interesse der daraus für sich Nutzen ziehenden Europapolitiker (siehe etwa Elmar Brok), andererseits aber insbesondere auch im Interesse der südeuropäischen Länder, die immer schon zu deren Empfängerländern gehörten und dadurch ihre eigenen sozial-ökonomischen Schwächen überdecken konnten. Das Reißen der Maastricht-Kriterien, das Aushebeln des Schengen-Raums, die Griechenland-Krise, mangelnder wirtschafts- und sozialpolitischer Reformwille, die ungelöste Migrationskrise, die nachhaltigen Schwächen einer eigenen europäischen Verteidigungspolitik –alles konnte „erfolgreich“ unter den Teppich gekehrt werden.

Umgekehrt bedeuten Reisefreiheit, Bannung der Kriegsgefahr in Europa und eine gemeinsame Währung zunächst wunderschöne Errungenschaften – wer möchte das denn leugnen! – aber im eigentlichen Sinne sind es nach den Maßstäben von 2020 inzwischen eher selbstverständlich gewordene Petitessen. Da wirken die Argumente für die Umsetzung der beruflichen Freizügigkeit im gesamten EU-Raum schon eher als ein Fanal für neue individuelle Chancen, die ein geeintes Europa mit sich bringt. Aber auch hier hat sich gezeigt, dass es sich zumeist lediglich um binneneuropäische Wanderungsbewegungen nach Deutschland und nach UK gehandelt hat. Weitere Länder sind sicherlich Schweden, Österreich und die Schweiz, wobei letztere noch nicht einmal EU-Mitglied ist. Einen quantitativ nahezu paritätischen, von persönlichen Präferenzsetzungen motivierten Austausch zwischen den Bevölkerungen der Mitgliedsstaaten über die gesamte EU hinweg hat es jedenfalls bis heute nicht gegeben.

Das alles lässt die bislang bewährten, gebetsmühlenartig wiederholten Beschwörungen von europäischen Gemeinsamkeiten und Werten, die über viel zu lange Zeit durch Geschwafel (siehe etwa Protagonistinnen wie Ska Keller) überdeckt worden sind, inzwischen nahezu kontraproduktiv aussehen.

An die Oberfläche der politischen-Diskussion sind dafür im Gegenzug Themenschwerpunkte gelangt, die auf die Wurzeln des ungeklärten Verhältnisses der europäischen Staaten untereinander sowie zur EU hinweisen. Traditionelle Skepsis und erhebliche mentale Ressentiments brechen nunmehr ungehindert hervor.

Die vier kritischen Prozessstrukturen in der EU (1 – 4)

Das Verhältnis der Mitgliedsstaaten untereinander und zur EU wird vor allem von vier essentiellen Prozessstrukturen bestimmt:

1. Erhebliche volkswirtschaftliche Unwuchten bestehen fort: Diese Unwuchten sind bereits aus den Zeiten der EWG bestens bekannt. Geändert hat das nichts! Deutschland ist nach wie vor ein übermächtiger wirtschaftlicher Riese, der seine eigene Bevölkerung insofern bislang bestens hat „ernähren“ können. Dies erklärt sicherlich die hohen Zustimmungswerte zur EU gerade in der Bundesrepublik. Zudem haben diese Erfolge immer wieder Talente und Erwerbsfleiß aus den anderen EU-Ländern – hier insbesondere aus Ost- und Südosteuropa – tendenziell an sich zu binden vermocht. Keine Frage also, dass Neid auf und Unzufriedenheit mit der Bundesrepublik, die zweifellos auch(!), aber nicht nur von der EU profitiert, bei vielen Partnern an der Tagesordnung sind. Keine Frage aber auch, dass das fortbestehende wirtschafts- und sozialpolitische Ungleichgewicht die Kernidee der europäischen Einigung, nämlich neben dem innereuropäischen Frieden ein erhebliches Mehr an paritätischem Wohlstand für den gesamten Kontinent frei zu setzen, der schonungslosen Bewertung real einfach nicht Stand hält.

Zurecht fragen etwa die Polen neuerdings, ob es eigentlich auf Dauer sein kann, dass ein System wie die Bundesrepublik auf dem höchsten Player-Niveau der Globalisierung mitspielt, es selbst aber nicht schafft, aus den eigenen demographischen „Beständen“ mit Hilfe von Bildung, Ausbildung und Qualifizierung ausreichende Fachkräfte zu rekrutieren bzw. an sich zu binden. Was passiert mit einer Gesellschaft (und mit einer EU), in der nach Meinung so mancher Zuwanderungs-„Experten“ (hier: FDP-Fraktion) allein für Deutschland jährlich 500.000 neue Arbeitskräfte aus der EU oder aus dem Ausland rekrutiert werden müssen. Abgesehen selbstverständlich von den rein logistischen Problemen, die aufgeworfen werden, und bei denen sich die Bundesrepublik etwa beim Wohnungs- und Städtebau ohnehin schon nahezu hoffnungslos im Rückstand gegenüber seinen bisherigen Sollzielen befindet.

2. Die unglückliche Rolle der Bundesrepublik in der EU:

Es kann nicht länger übersehen werden, dass die Bundesrepublik als politisch in sich kokonhaft eingesponnenes ideologisches System mithilfe eines umfassenden moralischen Diktats zunehmend Druck gegenüber den EU-Partnern auszuüben sucht. Hervorstechend sind hier die Migrationsfrage und die Energieversorgung sowie die Initiativen zum „Green Deal“. Davor kam noch der Brexit, der von den meisten deutschen Haltungsmedien mit Häme, Verachtung und voller destruktiver Energie begleitet worden ist.

Diese typisch deutsche „Herren-Attitude“ setzt den Spaltpilz in der EU immer wieder von neuem frei und konfrontiert die Gemeinschaft mit einen unsäglichen Sog an Überlasten und Anforderungen, die an derem eigentlichen historischen Integrationsziel, einer organisch (!) gewachsenen europäischen Zusammengehörigkeit ständig vorbei zielt.

Die Ignoranz, die insbesondere die „durchgemerkelte“ Mehrheit unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger gegenüber dem historisch und kulturell geformten, sich in der EU-Politik äußernden „Anderssein“ der europäischen Nachbarn auslebt, befeuert aktuell die immer noch tiefsitzenden mentalen Konfliktlinien in der EU zusätzlich zu der ohnehin schon kaum noch überschaubaren wirtschaftlichen und finanziellen Gemengelage. Es ist diese Überheblichkeit des typisch

(west-)deutschen Oberlehrers, die in der Gefahr steht, die Essenz des europäischen Gedankens rücksichtslos zu verspielen.

Die Grenze der Zumutbarkeit ist für viele Partner zurecht endgültig dann erreicht, wenn zur Durchsetzung der „Deutschen Ideologie von Europa“ finanzielle Druckmittel gegenüber den vermeintlich „Abtrünnigen“ ins Spiel gebracht werden. Die „Berliner Republik“ des Merkelismus geht hier das Risiko ein, die EU rücksichtslos über einen Nebenschauplatz der europäischen Integration immer weiter aufzuspalten und einige der östlichen Mitgliedsländer in die Arme Putins oder der Chinesen zu drängen.

Das EuGH-Urteil Anfang April gegenüber Polen, Ungarn und Tschechien aus Gründen, die schon jetzt an sich krachend gescheiterte, komplett „vermerkelte“ Migrationspolitik der Kanzlerin zumindest mittelfristig doch noch europaweit umzusetzen, setzt dem Ganzen dabei die Krone auf.

Wer zudem Jahr für Jahr allein 25 Milliarden € für die Integration illegal eingewanderter Flüchtlinge im eigenen Land auszugeben bereit ist, während bei den Griechen seit Jahren das ganze Haus lichterloh brennt und in Italien, Spanien und Portugal verheerende Dachstuhlbrände an der Tagesordnung sind – bedenke man allein die Problematik der Jugendarbeitslosigkeit in diesen Ländern, die bei weit über 20 Prozent liegt – der hätte sicherlich längst eine tatkräftige finanzielle und logistische Hilfe im Sinne europäischer „Brüderlichkeit“ einleiten müssen. Wenn zudem die Not der Syrer, Afghanen und Nigerianer u.a.m. letzten Endes wichtiger erscheint als die der „eigenen Leute“ und der europäischen Nachbarn, z.B. der Bulgaren und Rumänen als Armutsstaaten in der EU, dann darf man sich nicht wundern, welche Stimmung gegenüber Deutschland z.Zt. zumindest in den italienischen, polnischen und tschechischen Medien vorherrscht. Unter dem Merkelismus ist in der Tat kein wirklicher, von gegenseitigem Verständnis getragener europäischer Gemeinschaftsgeist erkennbar.

3. Überzogene Erwartungen und Ausbeutungsphantasien:

Zur bitteren Wahrheit gehört aber leider auch, dass viele europäische „Freunde“ gegenüber der Bundesrepublik seit Gründung der EU ein ungehöriges strategisches Kalkül einnehmen: nämlich Deutschland immer wieder – quasi schon routinemäßig – in die Rolle des ewigen Zahlmeisters zu drängen und dazu die „Nazi-Keule“ bei jeder sich bietenden Gelegenheit hervor zu holen. Ein denkwürdiges Beispiel liefert ausgerechnet einer der einflussreichsten Römischen Politiker – Claudio Borghi A. – zusätzlich zu seinem eigentlich ohnehin schon empörenden Text auch noch im Sinne faschistischer Bildästhetik (ntv vom 07.04.20: Die Überdosis für den Kreditsüchtigen). Hier wird schamlos versucht, die Schrecknisse und Gräueltaten der Nazi-Zeit zu instrumentalisieren und die legitimen eigensystemischen Interessen der Bundesrepublik – z.B. Schutz seiner Sparer, Rentner und der „eigenen“ Erwerbsbevölkerung – zu unterminieren.

Dem Deutschlandbild der meisten EU-Partner liegt ohnehin eine merkwürdige Paradoxie zu Grunde. Einerseits wird Deutschland sehr gerne als die eigentliche Konjunkturlokomotive der EU gesehen und ist faktisch auch deren bei weitem größter Netto-Zahler, andererseits gilt es nach wie vor als das Land, das auf Grund seiner Geschichte zusätzlich (!) immer wieder rücksichtslos ausgebeutet werden darf. Übersehen wird dabei zum einen, dass über die deutsche Volkswirtschaft infolge des offenen Arbeitsmarktes ohnehin bereits riesige Transfersummen insbesondere nach Süd- und Südosteuropa umverteilt werden; und dass beispielsweise das Privatvermögen in Deutschland dem in anderen Ländern – hier vor allem dem in Italien – z.T. deutlich hinterher hinkt. Ignoriert wird aber zum Beispiel auch, dass es erhebliche, die jeweiligen Volkswirtschaften stark belastende finanzielle und mentale Defizite in der Ausgestaltung der Rentenpolitik ei vielen EU-Partnern gibt (Paradebeispiele: Griechenland, Frankreich, Italien), die trotz drohender finanzieller Desaster einfach nicht korrigiert werden. Allein der Erhalt der Allitalia kostet den italienischen Steuerzahler jährlich 10 Milliarden (!) Euro. Hat sich was geändert? Soll sich was ändern? Selbstverständlich nein!

Die Gründe für die Unwuchten, die realiter mit dem jeweiligen volkswirtschaftlichen Binnenverhältnis von Aufwand und Ertrag zusammenhängen, bleiben in Folge der emotional geführten Debatten und der populistischen Propagierung eines infantil vereinfachten europäischen Solidaritätsgedanken insofern zumeist außen vor. Dabei lägen hier höchst aussagekräftige Beispiele für die objektive Messbarkeit „sozialer Gerechtigkeit“ in der EU vor.

Genau betrachtet, verhalten sich die aktuellen Kampagnen der südeuropäischen Medien und ihr davon “erfolgreich“ infiziertes Publikum insofern seit Jahrzehnten selbst absolut unsolidarisch gegenüber der europäischen Verantwortungsgemeinschaft. Denn sie meinen offensichtlich, dass sie außer ihrem Dabeisein wirtschafts-, finanz- und sozialpolitisch wenig bis rein gar nichts zum europäischen Gemeinschaftswerk beitragen müssten.

Dass diese probate EU-Politik der „Ausbeutung“ der Bundesrepublik im Inland selbst leider zahlreiche Befürworter vor allem aus dem öko-sozialistischen Lager zu mobilisieren vermag, deckt eine weitere destruktive Dynamik auf. Denn diese Befürworter nehmen inzwischen die Rolle der „fünften Kolonne“ des Weltsozialismus in Gestalt der OECD, der UNO, der EZB oder im Sinne der „Open Society“ eines George Soros ein. Die Deutschen-Phobie („Deutschland verrecke!“) und der kognitiv erbärmlich visionslose Anti-Kapitalismus reichen dabei vollkommen aus, dieses selbstzerstörerische Geschäft zu betreiben.

Offensichtlich hat sich über die Jahrzehnte hinweg eine dialektische Symbiose zwischen einem nach wie vor unvorstellbar narzisstischen Selbsthass der Mehrheit der „Deutschen“ einerseits und der Intention so mancher europäischer Nachbarn andererseits dahingehend etabliert, unsere volkswirtschaftlichen und sozialpolitischen Leistungen zum Nulltarif „abgreifen“ zu wollen. Diese Symbiose ist daher als ebenso unerträglich „anti-europäisch“ einzustufen wie umgekehrt die moralische Germanisierung der EU.

4. Die Mitgliedsstaaten der EU sind selbst zutiefst gespalten:

Wie ein Blick auf die aktuelle Situation in den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten zeigt, sind diese in sich selbst von einer Vielzahl gravierender politisch-ideologischer, soziologischer und mentaler Spaltungsprozesse durchzogen. Gerade die intra-systemisch wie auch inter-systemisch höchst unterschiedlichen Sozialstrukturen, Ökonomien und „nationalen“ Mentalitäten in der EU lassen sich – das zeigt der plötzliche Eintritt von Covid-19 mit erschreckender Deutlichkeit – auf der konsensualen Ebene der beteiligten Staaten offenbar nicht mehr in hinreichendem Maße einvernehmlich lösen. Die einzelnen Differenzierungslinien resultieren aus unterschiedlichen Einkommensperspektiven, divergenten Niveaus in Bildung, Ausbildung und Qualifizierung und historisch geformten Weltbildern – etwa kollektiven Erfahrungen aus den beiden Weltkriegen, die nicht hinreichend bewältigt sind – sowie vor allem aus den großen alltagskulturellen und narrativen Unterschieden, wie sie in der Sozialisation und in der Ausbildung eines gesellschaftspolitischen Bewusstseins als Bürgerin und Bürger zum Ausdruck kommen und entsprechend tradiert werden.

Die „feinen Unterschiede“ (Pierre Bourdieu) haben sich hier teilweise zu gewaltigen Klüften ausgeweitet. Unterschiedliche Bewertungen und Verständnisse insbesondere des Wirtschafts- und Finanzwesens und – im Verhältnis dazu – der eigenen privaten Lebensführung höhlen den Konsens bzw. den „Inneren Frieden“ in den europäischen Gesellschaften vielfach aus. Auch die Problematik der existentiellen Abhängigkeit eines wachsenden Erwerbspotentials von der Staatstätigkeit selbst, nimmt im Bewusstsein und in den Lebensperspektiven der Bevölkerung einen immer größeren Stellenwert ein.

Die bloße Existenz der EU scheint so manche „nationale“ Bevölkerungsteile dazu zu verleiten, aus der Selbstverantwortung der eigenen Daseinsvorsorge „mir-nichts-dir-nichts“ auszusteigen – sprich: das Subsidiaritätsprinzip, einen der höchsten europäischen Werte, einseitig einfach aufzukündigen. Warum auch eigene Ansprüche und Illusionen realistisch überprüfen, wenn doch irgendein „Dummer“ schon zahlen wird und ständige, ungedeckte Flutungen mit frischem Geld angesagt sind.

Diese Hartz-IV-Mentalität bzw. diese generell mit der modernen Staatstätigkeit und insbesondere auch der Etablierung der EU verbundene Anspruchshaltung eines Vollkaskoschutzes hat sich offenbar derart verfestigt, dass die EU einem sozialistisch geordneten Staaten-Regime immer näherkommt.

Exemplarisch für die Corona-EU: Corona-Bonds!

Wie wir gerade in diesen Tagen an der erneuten, äußerst verhärteten („Zombie“-)Diskussion um die Corona-Bonds erkennen, schränken die bereits vor der Covid-19-Krise akkumulierten Verschuldungsquoten der einzelnen EU-Länder deren Möglichkeiten ein, einen aktuell hinreichenden wirtschaftlichen, sozialen und gesundheitlichen Schutzes ihrer Bevölkerung leisten zu können. Selbst der Wunsch nach Neuverschuldungen ist angesichts der Bonität solcher Länder und der hohen Zinslast, die auf Grund des ja ebenfalls dramatisch erhöhten Ausfallrisikos an den Finanzmärkten besteht, aus eigener Kraft gar nicht mehr stemmbar.

In Italien, Portugal, Spanien, Zypern und Griechenland ist durch den Einbruch der Krise das absolute Ende der Fahnenstange erreicht. Während Griechenland mit 178,2 Prozent seines BIP verschuldet ist, weisen Italien eine Quote von 137,3 Prozent, Portugal von 120,5 Prozent, Spanien von 97,9 und beispielsweise Zypern von 97,8 Prozent auf. Der EU-Durchschnitt liegt hier ebenfalls auf recht hohem Niveau, relativ betrachtet aber lediglich bei 80,1 Prozent! (Quelle: EuroStat). Noch dramatischer fällt die Rechnung allerdings vor dem Hintergrund der absoluten Zahlen aus. Sie verdeutlichen unwiderlegbar, dass eine vollständige Tilgung bei der bereits erreichten Höhe der Staatsverschuldung – selbst wenn sie moderat über Jahrzehnte gestreckt würde – auch nicht nur annähernd erreichbar wäre:

Das relativ kleine Griechenland steht mit 178,2 Milliarden, Italien mit ca. 2,4 Billionen(!) und selbst noch das relativ gut dastehende Deutschland steht– obwohl „lediglich“ mit 61,9 % des BIP verschuldet – immerhin mit ca. 2,1 Billionen € in der Kreide. Wer will das auf Dauer noch stemmen?

Wenn jetzt zur Bekämpfung der wirtschaftlichen und finanzpolitischen Folgen der Corona-Krise erneut ca. 3,6 bis 4 Billionen(!) an Fördergeldern in der EU neu „aufgenommen“werden (= Summe der EU-, ESM- und EZB-Programme sowie der national in Umsetzung befindliche Notprogramme: Frankreich in Höhe von 100 Milliarden €, Nachtragshaushalt der Bundesrepublik in Höhe von 56 Milliarden, WSF des Bundes in Höhe von 600 Milliarden plus z.B. zusätzliche Corona-Programme von Bundesländern und Regionen wie z.B. in Bayern in Höhe von 60 Milliarden), so bedeutet dies solange einen vollkommen ungedeckten Scheck auf die Zukunft, solange nicht die Realwirtschaft über die nächsten Jahre für deren realistischen Gegenwert sorgt.

Das mag für die deutschen Grüninnen vom Schlage einer Annalena Baerbock oder für Frau Esken von der SPD in ihrer grenzenlosen, wie eine Monstranz vor sich hergetragenen Naivität und absoluten fachlichen Inkompetenz alles irgendwie schon hinhauen – es gibt ja noch die Möglichkeit der Enteignung und von Steuererhöhungen. Aber realiter bedeuten diese Daten – neben der mangelnden Deckung und dem endgültig „weichen“ Euro – dass der Weg der EU in tiefste Verschuldung, tiefste demokratische(!) Staatskrisen und in weitreichende Massenverarmungen der Politik und Ökonomie bislang tragenden Mittelschichten vorgezeichnet ist. Und auch hier ist noch nicht einmal eingerechnet, dass die auf die Corona-Krise folgende schwere Rezession allein die Bundesrepublik zwischen fünf und zwölf Prozent ihres BIP kosten wird. Erwartbar sind also systemische Verwerfungen ungeheuren Ausmaßes.

Fazit:

Die Auflösung jeglicher Selbstverantwortung in der EU zu Gunsten eines rein emotional und naiv geförderten Solidaritätsgedankens könnte dazu führen, dass die „Große Transformation“ quasi durch die Hintertür schneller als gedacht eingelöst wird: Nach sowjetischen Vorbild der 1920er Jahre wird infolge von „infantilen“, emotional aufgeladenen und fern von seriöser Fachlichkeit eingeforderter Solidarität die kollektive Uniformität und die sozio-ökonomische Gleichschaltung einer zunehmend verarmenden, faktisch enteigneten und wehrlos gemachten europäischen Bevölkerung endgültig durchgesetzt. Das wäre dann das Ende des ins Schaufenster gestellten offiziellen Ziel der EU, gesamteuropäische Verantwortung für Frieden, Freiheit und Wohlstand für alle Europäer zu übernehmen.

So kehrt die Corona-Krise das grundsätzliche „Demokratieversagen“ der Europäischen Union einerseits ungeschminkter denn je nach außen; zum anderen erbringt sie den Nachweis, dass sie einem Verein von Hazardeuren gleicht, der die mühsam erarbeiteten Ressourcen seiner Bürgerinnen und Bürger ständig „verzockt“!

Dass sich die Brüsseler Kommission, das EU-Parlament, EZB und EuGH vor diesem Hintergrund immer offener auf dem Kurs hin zum „gelenkten, illibertären Supra-Regime“ befinden, sollte uns durchaus Angst machen!


* zum Autor: Univ.-Prof. i.R. Dr. Hans-Rolf Vetter, Jahrgang 1943, Leonberg/BW, Forschungsschwerpunkte: Wissenschaftliche Sozialpolitik, Moderne Erwerbsbiographien, Mütter und Mediation. Er betreibt den Blog hans-rolf-vetter.com.


Bild: Pixabay

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