Der Zufall ist ein Schelm. Und er wollte es, dass ich mir die ZDF-Dokumentation „Geheimakte Honecker“ ansah, bevor ich das Interview vom ARD-Chef Tom Buhrow mit der „Welt“ fand und las. Bevor jetzt die rotgrünen „Gegneranalytiker“ (sie nennen sich selbst so), die hier mitlesen, hyperventilieren: Nein, jede Gleichsetzung von Diktator Honecker mit Anstaltsleiter Buhrow liegt mir fern. Nicht nur wegen des unterschiedlichen Äußeren – auf das sie ganz offensichtlich auch unterschiedlich viel Wert legen.
Aber an einen der zentralen Momente aus dem Honecker-Film musste ich wieder und wieder denken, als ich das hinter einer Bezahlschranke stehende Interview las: Das Abkoppeln von der Realität, das Nicht-mehr-Wahrnehmen dessen, was die einfachen Menschen erleben und denken. Nach dem Lesen des Interviews fragte ich mich: In welcher Welt lebt der ARD-Chef? Der Mann, der als Intendant des WDR dafür verantwortlich ist, dass der Technische Zeichner Georg Thiel monatelang in Haft saß, weil er die Zwangsgebühren nicht zahlte. Eine Grausamkeit, zu der sich andere Intendanten in vergleichbaren Fällen nicht durchgerungen haben. Wohl aber Buhrow, der so gerne den Strahlemann gibt. Buhrow ist auch für die Anzeige gegen mich verantwortlich, mit der sein Sender externe Anwälte betraute, und die dazu führte, dass ich zur Fahndung ausgeschrieben wurde.
Potemkinsche Reform?
Dieser Hardliner und GEZ-Falke, der im Umgang mit Kritikern wenn auch nicht über Leichen, aber doch stramm über menschliche Schicksale geht, hat nun Kreide gefressen. Zumindest, wenn man nicht zwischen den Zeilen liest. Denn dann wird deutlich, dass er klug genug ist, um zu erkennen, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk in seiner aktuellen Form nicht wird bestehen können. Dass seine Reformvorschläge aber technokratischer bzw. potemkinscher Natur sind und er möglichst viel von dem völlig pervertierten System in die Zukunft hinüberretten will.
Buhrow sagt in dem Interview Sätze wie diese: „Dass sie Hintergrundinformationen von Fachredaktionen bekommen, was sich bei der Corona-Pandemie als besonders wertvoll erwiesen hat. „Ich bin überzeugt, dass wir für die Demokratie einen enorm wichtigen Beitrag leisten. Wir sorgen dafür, dass die Leute gut informiert sind. Dass der Wettstreit der Meinungen der verschiedenen Parteien und Politiker, von Regierung und Opposition zur Geltung kommt, dass die Leute sich dann ein eigenes Bild machen können. Dass sie Hintergrundinformationen von Fachredaktionen bekommen, was sich bei der Corona-Pandemie als besonders wertvoll erwiesen hat.“
Zynisch oder realitätsentrückt
Auf welchem Planeten lebt Buhrow? Das ist ein Maß an Realitätsferne, das auch von Honecker stammen könnte. Nur – Buhrow wirkt klüger als der gelernte Dachdecker aus dem Saarland. Ist er wirklich derart der Realität entrückt? Oder ist er nur unfassbar zynisch?
Offenbar zynisch. Das zeigt der folgende Dialog. „Welt“-Chefredakteur Ulf Poschardt, der leider sehr zahm bleibt in dem Gespräch, fragte: „Sorgt die sogenannte Demokratieabgabe nicht auch deshalb für Verdruss, weil sich immer mehr Bürger fragen, warum soll ich für etwas bezahlen, in dem ich mich nicht wiederfinde oder sogar weltanschaulich unter Generalverdacht stehe?“
Darauf die Antwort von Buhrow: „Man muss sich immer selbstkritisch fragen, das machen Sie bei ‚Welt‘ wahrscheinlich auch nach jeder Ausgabe in der Blattkritik, was man verbessern kann. Ganz früher, in der alten Bundesrepublik, da gab es im Prinzip Rot und Schwarz. Ähnlich war die ARD auch aufgeteilt, der Bayerische Rundfunk galt als schwarz, der WDR als rot. Die Zeiten liegen weit hinter uns. Nehmen Sie etwa den letzten ‚Tagesthemen‘-Kommentar von Jörg Thadeusz, der auch beim WDR eine feste Sendung hat. Den Kommentar würde man sicher nicht als ‘rot-grün‘ bezeichnen.“
Liberales Aushängeschild ist grün gefärbt
Ein Kommentar als Ausrede für ein stramm rotgrünes Programm – das kann man sich nicht ausdenken. Zumal Thadeusz schon als Schüler Mitglied der Grünen war und erst später zum „Liberalen“ wurde, wie er selbst sagte. Die Frau des „nicht-linken Alibis“ des WDR war übrigens bis 2022 Sprecherin von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.
Poschardt hätte nun geradezu zwingend nachfragen müssen, wo wirklich Konservative, Liberale oder Bürgerliche im Programm regelmäßig zu Wort kommen. Doch er vermeidet das tunlichst. Stattdessen setzt er auf Smalltalk. Der „Welt“-Chef, der sich gerne stolz mit seiner Liebe zum Porsche brüstet, versucht mit ein paar Alibi-Fragen, kritischen Journalismus vorzutäuschen. Und vermeidet es tunlichst, nachzuhaken. Der Eindruck: Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Ein Dokument der Zeitgeschichte ist das Interview trotzdem, genauso wie die Honecker-Dokumentation. Es ist der Beleg dafür, dass der öffentlich-rechtliche Apparat total abgehoben von seinen Gebührenzahlern ist und in seinem gebührengepolsterten Elfenbeinturm den Bezug zur Realität verloren hat.