Ein Gastbeitrag von Stefan Homburg
Anfang Dezember 2021, unmittelbar nach Amtsantritt, setzte Olaf Scholz einen vom Bundeskanzleramt geführten „Corona-Expertenrat“ ein, der die Ampelregierung auf Grundlage aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse beraten sollte. Während die Stellungnahmen des Expertenrats publik gemacht wurden, waren seine Sitzungsprotokolle geheim. Nunmehr hat der Arzt Dr. Christian Haffner die Herausgabe der Protokolle gerichtlich erstritten, wenngleich vorerst einige fehlen und manche Stelle geschwärzt wurde. Interessierte können die Protokolle hier und das Begleitschreiben des Bundeskanzleramts hier abrufen. Eine gute Zusammenfassung und Kommentierung der Protokolle sowohl in deutscher als auch in englischer Sprache stammt von der Journalistin Aya Velazquez. Presseseitig haben zuerst die Welt und die FAZ über die Enthüllungen berichtet.
In diesem Artikel soll erklärt werden, warum die Reaktionen auf die Protokolle zwischen Entsetzen und Wut schwanken. Zunächst sei an Umfeld und Zeitrahmen erinnert: Das Coronavirus verbreitete sich Ende 2019 über die Welt; in Deutschland traf es Anfang 2020 ein. Die Länder reagierten hierauf höchst unterschiedlich. Deutschland schloss in mehreren Etappen alle Kinos, Sportstudios, Stadien und nicht lebensnotwendige Geschäfte, insgesamt rund neun Monate lang. Schweden verzichtete auf Lockdowns und hielt Geschäfte, Betriebe und Kirchen durchgehend offen. Großbritannien folgte 2020 dem deutschen Weg, rief aber schon im Sommer 2021 den „Freedom Day“ aus, nachdem begutachtete Artikel in medizinischen Fachzeitschriften gezeigt hatten, dass Corona und Influenza vergleichbar waren, die Panik also völlig verfehlt. In Deutschland hatten Klinikschließungen, Kurzarbeit in Kliniken und eine normale Sterblichkeit die undramatische Lage in Ländern wie Schweden längst bestätigt.
Unter diesen Voraussetzungen hätte ein Expertenrat beruhigen und die Politik vor übereilten Maßnahmen warnen müssen. Das genaue Gegenteil passierte, und der wichtigste Grund hierfür liegt wohl darin, dass nicht ein einziger Experte in dem Gremium vertreten war. Beobachtern war schon 2020 aufgefallen, dass in der öffentlichen Debatte um die „Epidemie“ die eigentliche Fachwissenschaft, nämlich die Epidemiologie, nicht vorkam. Stattdessen ernannte Scholz ausschließlich Fachfremde, die sich zuvor in den Medien durch Radikalität profiliert hatten, an der Spitze die Befürworter des chinesischen NoCovid-Ansatzes um die Virologin Melanie Brinkmann, den Physiker Michael Meyer-Herrmann und den Tierarzt (und RKI-Chef) Lothar Wieler.
Was man gerade in der Zeitung gelesen hatte...
Zweiter Grund für Entsetzen und Wut ist der Charakter der Verhandlungen des Expertenrats, der sich am besten mit dem Ausdruck „Stammtisch“ beschreiben lässt. Es fand kein strukturierter Diskurs statt, bei dem begutachtete Fachartikel und epidemiologische Fakten und Daten vorgestellt und erörtert wurden. Nur selten ging es wenigstens um Material auf dem Niveau vorläufiger Diskussionspapiere, meist aber um reines Wortgeklingel, Spekulationen und was man gerade in der Zeitung gelesen hatte. Schauen wir einmal in das Protokoll der 21. Sitzung, als erstmals die Affenpocken zur Sprache kommen:
„[Geschwärzt] beschreibt die aktuelle Lage zu den Affenpocken. Derzeit ist das Infektionsgeschehen äußerst dynamisch und Fälle sind inzwischen auf jedem Kontinent bekannt. Weltweit gibt es über 260 Verdachtsfälle. Diese schnelle Verbreitung in der menschlichen Population ist beachtenswert, da die bisherigen Infektionsketten meist eher kurz waren. Das Virus wurde in kurzer Zeit wahrscheinlich vor allem durch größere Veranstaltungen weiterverbreitet. Ein typisches Symptom ist die Bildung einer Pocken-typischen Hautveränderung, insbesondere im Intimbereich, was Rückschlüsse über die Übertragung zulässt.“
Zur Erinnerung: Im Sommer 2022 erklärte die WHO eine Affenpockenkatastrophe der höchsten Warnstufe (terminus technicus: PHEIC, ausgesprochen „Fake“). Ernstgenommen hat diesen erneuten Fehlalarm, mit Ausnahme des Expertenrats, fast niemand. Auch dort geriet er bald in Vergessenheit, da der Funke in der Öffentlichkeit nicht richtig übersprang. Eine neue Pandemie, verursacht durch Übertragung im Intimbereich auf größeren Veranstaltungen, also auf Orgien, erschien jedem zu absurd, der seinen Verstand beisammen hatte.
Kernbotschaft nach Art einer Bauernweisheit
Die in den Geheimprotokollen fixierten Schlussfolgerungen sind ebenfalls abenteuerlich, und man würde darüber lachen, wenn die Angelegenheit nicht so ernst wäre. Betrachten wir etwa eine der Kernbotschaften aus dem Protokoll der 10. Sitzung:
„Wenn Zahlen stabil gehalten, gutes Frühjahr und guter Sommer“
Das ist nicht nur infantil formuliert, sondern vor allem ungenau (welche Zahlen) und zirkulär, da die Experten „gut“ nicht an klinischen Indikatoren wie Krankheit und Tod festmachten, sondern an ihren ominösen Zahlen. Folglich war die sogenannte Kernbotschaft so informativ wie die Bauernweisheit „Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich das Wetter, oder es bleibt, wie es ist.“
Im Grunde besteht das ganze Konvolut aus drei Punkten: Es besteht höchste Gefahr, wir brauchen Maßnahmen, und vor allem müssen wir impfen, impfen, impfen. Während der niemals ordentlich belegte Nutzen der Impfung sämtliche Protokolle durchzieht und an keiner Stelle infrage gestellt wird, kommt der Begriff „Nebenwirkung“ genau einmal zur Sprache, nämlich im Protokoll der 12. Sitzung, als die Experten „Nuvaxovid“ von Novavax als Alternative zu den genbasierten Impfstoffen empfehlen. Es entbehrt nicht einer gewissen Tragik, dass Nuvaxovid laut Paul-Ehrlich-Institut ausgerechnet der Impfstoff mit den häufigsten Nebenwirkungen pro Impfdosis ist.
Eine Gruppe eitler Pseudo-Wissenschaftler
Im Nachgang versteht man den dringenden Wunsch der Bundesregierung nach Geheimhaltung der Protokolle nur zu gut. Sie verdeutlichen nämlich jedem Leser, dass es bei der Veranstaltung „Expertenrat“ nicht etwa um die wissenschaftliche Begründung extremer Grundrechtseingriffe ging, sondern eine Gruppe eitler Pseudo-Wissenschaftler in Anwesenheit eines Drei-Sterne-Generals und oft auch des Gesundheitsministers als Feigenblatt für Maßnahmen herhielt, über die schon vorab politisch entschieden worden war.
Aus meiner Sicht ist das ein beispielloses Politikversagen, das durch die vorgeschobenen Ausflüchte der Bundesregierung für Geheimhaltung und Schwärzung noch übertroffen wird. Im eingangs verlinkten Schreiben behauptet die Regierung nämlich: „Es ist davon auszugehen, dass die Reichsbürger- und Querdenkerszene durch Kenntnisnahme entsprechender Informationen einzelne Mitglieder, die möglicherweise für besonders einschneidende Maßnahmen plädiert haben, zur Zielscheibe ihrer Gewalt nimmt.“ Als jemand, der an vielen Grundrechtedemos teilgenommen und dabei friedliche Normalbürger angetroffen hat, kann ich über solchen Nonsens nur den Kopf schütteln. Das Diffamierungsmotto „Wird der Bürger unbequem, ist er plötzlich rechtsextrem“ ist zwar aktueller denn je, aber zu durchsichtig.
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Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf Achgut.com
Stefan Homburg ist Professor für Öffentliche Finanzen der Leibniz Universität Hannover im Ruhestand. Er hat auf Twitter als @SHomburg über 100.000 Follower.
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