Corona in Japan: „Fast wie damals, vor langer Zeit … in 2019“ Normales Leben auch in der sechsten Welle

Von Pascal Lottaz

Im Februar 2021 habe ich zum ersten Mal kurz über die Corona-Lage in Japan berichtet, mit der Kernaussage, dass die Japaner zwar auch Maßnahmen eingeleitet haben, doch im Vergleich mit den meisten europäischen Staaten viel vernünftiger mit der Situation umgingen – viel ähnlicher dem schwedischen Modell als dem Deutschlands, Österreichs, oder meiner Heimat, der Schweiz. An dieser Situation hat sich auch nach fast einem weiteren Jahr nichts geändert. Die Japaner leben frei. Viel freier als meine Familie und Freunde zu Hause. Im Folgenden will ich Ihnen etwas ausführlicher über die Lage in Japan berichten.

Zuallererst gibt es hier keine gesetzliche Zertifikats- oder Maskenpflicht, obwohl die Menschen draußen, beim Einkauf, in der Bahn fast unisono brav freiwillig Maske tragen. Es gibt auch keine Testpflicht, kein 2G, erst recht keine Impfpflichtdebatte und auch sonst fast keine Diskriminierung. Die einzige Institution, die mir bisher unterkam, welche aus eigenen Stücken Zertifikate kontrolliert (aber Sondervorkehrungen für Ungeimpfte anbietet), ist die Schweizer Handelskammer, ein privater Verein Schweizer Gewerbetreibender. Aber auch das nur für Anlässe in der Präfektur Tokyo, wo die etwas profilierungssüchtige Gouverneurin eine nicht-bindende “Empfehlung” herausgebracht hat, dass für soziale Zusammenkünfte Zertifikate verlangt werden sollten. Der vorauseilende Gehorsam der Schweizer macht sich auch hier bemerkbar.

Trotz laxer Maßnahmen gilt noch immer, dass Japan nicht in Leichenbergen versinkt, obwohl das Land die älteste Bevölkerung der Welt hat. Im Gegenteil, die Zahl der “Corona-Toten” steht im Moment bei gerade einmal 18.367 (9. Dezember 2021). Bei 125 Millionen Menschen im Land bringt Japan das in der Pro-Kopf-Rangliste auf Platz 153 (146 Tote pro Mio.). Deutschland liegt im Moment auf Rang 69 (1.247 Tote pro Mio.), die Schweiz auf Platz 65 (1.340 Tote pro Mio.). Will man dem etwas verwirrenden, aber von seriösen japanischen Forschern aufgestellten Dashboard zur Übersterblichkeit Japans glauben, dann bewegt sich auch die Gesamtsterblichkeit im Zeitraum 2020–21 in ganz ähnlichen Bereichen wie 2017–19. Wir haben es also nicht einfach mit versteckten Toten zu tun. Und zum besseren Einordnen der Sterbezahlen: In Japan sterben pro Jahr zwischen 3.000 und 4.000 Menschen bei Verkehrsunfällen und in den letzten zehn Jahren nahmen sich jährlich 20.000 bis 30.000 Menschen das Leben. Man halte sich also vor Augen, dass Japan immer noch jedes Jahr mehr Menschen durch Suizid verliert als in zwei Jahren “Pandemie” durch COVID-19 (egal ob “mit” oder “an” COVID-19 gestorben).

Außerdem hat Japan gerade etwas Unerhörtes angekündigt: Laut dem frischgebackenen Premierminister Fumio Kishida hat man doch tatsächlich seit diesem Sommer 10.000 neue Krankenhausbetten geschaffen, um eine allfällige sechste Welle (ja, Japan hatte im August schon die fünfte), wenn nötig, abfangen zu können. Im gleichen Atemzug kündigte Kishida auch an, noch im Dezember ein Medikament zur Behandlung von COVID-19 zulassen zu wollen. Folgt man den Nachrichten von zu Hause, hat man das Gefühl, dass so etwas eigentlich den Naturgesetzen der Physik widersprechen müsste. Dabei kämpft auch Japan mit einem selbstgemachten Pflegenotstand und Reportagen über die Intensivmedizin, die an ihre Grenzen kommt, gibt es auch hier. Andererseits muss man auch sagen, dass Japan mittlerweile 79 % seiner Bevölkerung (mindestens einmal) geimpft hat. Aber eben freiwillig! Japan ist aus historischen Gründen höchst vorsichtig mit staatlichen Impfkampagnen, die in den 1990ern einmal schiefgingen. Die Privatuniversität, an der ich arbeite, hat im Sommer Impfungen am Campus angeboten und in internen E-Mails Studenten und Angestellte auch dazu ermuntert, das Angebot wahrzunehmen. Aber noch im selben Abschnitt wurden wir ermahnt, dass kein sozialer Druck und keine Einflussnahme auf die Entscheidungsfindung des Einzelnen stattfinden dürfe. Die Entscheidung zur Impfung solle jeder für sich treffen. Das war bemerkenswert. Auch erhielt die Uni ein gratis Corona-Test-Angebot, stellte dieses aber nach dem Sommer auf Grund zu geringer Nachfrage ein.

Zugegeben, nicht alles ist rosig hier drüben. Auch in Japan führt die Corona-Hysterie zu täglichen Schlagzeilen und die Medien stürzen sich auf gleiche Weise auf tagesaktuelle Zahlen. Japan ist seit zwei Jahren für jeglichen Tourismus gesperrt, und als Ende November die Omikron-Angst aufflammte, reagierte die japanische Regierung sofort so, wie schon zuvor, indem sie die Neuausstellung von Visa suspendierte. Ein herber Schlag für die über eine Million Studenten und (potenziell) Angestellten, die außerhalb Japans auf Visa warten, denn erst Anfang November hat das Land nach zehn Monaten endlich wieder damit begonnen, wieder Ausländer einreisen zu lassen. Das ist natürlich eine absolut sinnbefreite Aktion, wenn doch Japaner und Ausländer mit Aufenthaltsbewilligung frei ein- und ausreisen können (neuerdings aber mit zwei Wochen Hotelquarantäne, wenn aus einem „Omikron-Land“).

Die Maßnahme reiht sich ein in eine Liste von Alibi-Übungen, mit denen es der japanischen Regierung darum zu gehen scheint, keine allzu drastischen Einschnitte in den Alltag der Bevölkerung vornehmen zu müssen, gleichzeitig aber trotzdem Schutz zu suggerieren. Die wohl schönste Geschichte hierzu ist Japans Reaktion auf die dritte, vierte und fünfte Welle. Nachdem in der ersten Welle panikartig alle Restaurants gebeten wurden, für zwei Monate komplett zu schließen (ein Gesetz dazu gab es nie) und das Leben ähnlich wie in Europa heruntergefahren wurde, hat man die Restaurants dieses Jahr nicht mehr zugemacht, sondern in Verbindung mit monetären Anreizen darum gebeten, um 20 Uhr zu schließen und zudem rund um die Uhr auf Alkoholausschank in Innen- und Außenräumen zu verzichten. Denn, so die Theorie, wer sich am Abend trifft und etwa noch Alkohol trinkt, der redet animiert, und da verbreitet sich das Virus besonders schlimm. Daher gab es in Japan dieses Jahr über lange Zeit eine Art “Mini-Prohibition”– inklusive subversivem Ausschank für Eingeweihte hinter verschlossenen Türen.

Und wenn Sie sich jetzt fragen, was denn während der zweiten Welle los war, dann lassen Sie mich Ihnen sagen, dass dies wohl der allerschönste Beweis für die Nutzlosigkeit von Maßnahmen ist: Die zweite Welle fand in Japan im Sommer 2020 statt – die Zahl positiver Tests war zwischen Juli und September am höchsten – und wurde von der Regierung nicht nur ignoriert, sondern man hat während der gesamten Welle den Binnentourismus mit einem massiven Subventionsprogramm wiederbelebt. Es klingt wie eine blanke Lüge, war aber wirklich so. Reisen und Hotelkosten innerhalb Japans wurden mit bis zu 50 % vom Staat übernommen. “Go to Travel“ hieß das. Das war toll. Mit offenen Restaurants und ohne Prohibition konnte man sehr günstig reisen, von Okinawa nach Hokkaido. Und auch diese Welle kam und ging, wie die anderen auch. Im Moment hoffen wir darauf, dass “Go to Travel” im Januar 2022 wieder eingeführt wird. Jetzt gerade sind auch die Öffnungszeiten von Restaurants und der Alkoholausschank normal. Doch, wer weiß, was kommt, die Regierung scheint auch hier relativ planlos einfach mal ein bisschen zu experimentieren – allerdings auf viel niedrigerem Gehässigkeitsniveau als in Europa.

Zuletzt möchte ich Ihnen noch die Beobachtung mitteilen, dass die Bevölkerung in Japan wesentlich weniger gespalten und weniger aggressiv scheint als das, was ich von zu Hause höre. Die Maske ist eher etwas wie ein Sturzhelm. Die trägt man hauptsächlich für sich selbst. Natürlich wird man in Geschäften vom Lautsprecher freundlich aufgefordert, doch bitte Maske zu tragen, aber schon dadurch, dass dies kein Befehl, sondern eine Bitte ist, macht das Theater etwas erträglicher. Auch die Entscheidung zur Impfung fiel bei den meisten meiner Freunde und Bekannten aus Überlegungen des Selbstschutzes, nicht aus „Solidarität“. Dass ich als Ungeimpfter nirgends ausgeschlossen bin, Essen und Trinken gehen kann, sorgt dafür, dass der „Impfstatus“ kein Thema ist. Fast wie damals, vor langer Zeit … im Jahr 2019.

Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Und ich bin der Ansicht, dass gerade Beiträge von streitbaren Autoren für die Diskussion und die Demokratie besonders wertvoll sind. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen, und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Pascal Lottaz (PhD), Assistenzprofessor für Internationale Beziehungen, Waseda Universität, Tokio

Bild: privat
Text: Gast

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