Von Gregor Amelung
Drei Tage (29.08.) nach dem Selbstmordanschlag kamen die sterblichen Überreste der 13 US-Soldaten in ihrer Heimat an. Zum Empfang der toten „Helden“ waren auch der US-Präsident Joe Biden, First Lady Jil Biden, Außenminister Blinken und Verteidigungsminister Austin erschienen. Bei der vom Fernsehen übertragenen Zeremonie kam es dann zum Super-GAU. Denn Präsident Biden schaute in einer Kernschmelze aus Respekt- und Instinktlosigkeit nach jedem Salut auf seine Armbanduhr – so, als habe er noch Besseres zu tun (reitschuster.de berichtete darüber hier). Anschließend titelte die Tageszeitung „New York Post“ in fetten Lettern: „Dishonor / Entehrung“.
Danach hätte man beim Bayerischen Rundfunk einen Artikel mit der Überschrift „Anschläge in Kabul: Biden würdigt getötete US-Soldaten“ vom 27. August eigentlich dringend mit einem Hinweis oder einer Aktualisierung versehen müssen, weil er mit der Realität nahezu nichts mehr gemein hatte. Stattdessen blieb es bei dem Text und dem pathetischen Foto des trauenden US-Präsidenten darüber.
'120.000 Menschen in Sicherheit gebracht'
Montag, 30. August 2021. In der Nacht auf den 31. verlässt die letzte US-Militärmaschine den Flughafen von Kabul. Am folgenden Tag (31.08.) tritt Biden im Weißen Haus vor die Kameras, um feierlich zu erklären: „Gestern Abend haben die USA in Kabul den 20-jährigen Krieg in Afghanistan beendet – den längsten Krieg in der amerikanischen Geschichte.“
Damit knüpften die Redenschreiber des Weißen Hauses an das ursprüngliche Versprechen aus dem April an. Danach fuhr der Präsident fort und erklärte: „Wir haben eine der größten Luftbrücken der Geschichte abgeschlossen, bei der mehr als 120.000 Menschen in Sicherheit gebracht wurden. Keine Nation hat jemals in der… Geschichte so etwas vollbracht.“
Joe Bidens 'Wir schaffen das!'
Das klang den Worten nach zwar stark, stieß bei einigen US-Amerikanern aber ähnlich übel auf wie 2015 das „Wir schaffen das!“ der deutschen Bundeskanzlerin. Denn das Weiße Haus wollte die „mehr als 120.000 Menschen“ nicht irgendwo „in Sicherheit“ bringen, sondern direkt in den USA.
Aber „Wer genau sind die Afghanen, die auf dem Weg zu uns sind?“, fragte dazu Fox-Kommentator Tucker Carlson: „Die Wahrheit ist: Wir wissen es nicht. Gerade erst haben wir zum Beispiel erfahren, dass 100 Flüchtlinge, die das US-Militär aus Kabul ausgeflogen hat – Menschen also, die, wie man uns sagte, ‚Helden’ seien – in Wirklichkeit auf einer Terror-Überwachungsliste stehen. Ein Mann, den wir evakuiert haben, arbeitet offenbar sogar für den Islamischen Staat.“
Das toxische Problem an der mexikanischen Grenze
Und so verkoppelte sich das Afghanistan-Debakel, das eigentlich zur Außenpolitik gehört, wofür sich Amerikaner grundsätzlich eher weniger interessieren, mit dem ungelösten Migrations-Problem an der Südgrenze der USA. Bereits im März hatte sich das Weiße Haus wochenlang darum bemüht, den Zustrom von Migranten an der mexikanischen Grenze nicht als „Krise“ zu bezeichnen.
Der Streit um die Wortwahl ging allerdings insofern nach hinten los, als dass er erst recht Aufmerksamkeit auf das Thema zog. Ende März hatten dann in einer Umfrage 67 Prozent der amerikanischen Wähler erklärt: „Ja, es ist eine Krise“, Mr. President. Nicht mal ein Viertel wollte noch dem offiziell Narrativ folgen (23 Prozent). Dieser Mechanik folgend fand das Narrativ von einer der „größten Luftbrücken der Geschichte“ in der US-Bevölkerung auch keinerlei positiven Anschluss.
52 Prozent wollen Bidens Rücktritt
Mittwoch, 1. September. 17 Tage nach dem Fall von Kabul meldet das Meinungsforschungsinstitut Rasmussen via Twitter: „Breaking News! Gestern Abend hatten wir in der Zustimmungsrate für Präsident Biden einen neuen historischen Tages-Tiefpunkt gemessen. Und das ist nicht mal die schlechteste Nachricht, die wir vom Wähler heute für Joe Biden haben.“ Die war, dass 52 Prozent der Amerikaner der Ansicht sind, er solle, so wie der Afghanistan-Rückzug gelaufen ist, zurücktreten.
Einen Tag später kamen die Umfragewerte des Biden-freundlichen Senders PBS (NPR/PBS NewsHour/Marist-Poll) heraus. In einer CNN-Analyse zu ihnen hieß es: „Diese Umfragewerte werden die Demokraten in Panik versetzten“, denn: „Die beste Nachricht für Joe Biden und seine Partei ist im Moment die, dass es September 2021 ist und nicht September 2022. Wenn seine Zustimmungswerte in einem Jahr auch nur annähernd dort liegen, wo sie heute sind, werden die Demokraten… eine Welle erleben, die am Wahltag über sie niederstürzt“, und mit Sicherheit die wichtige Mehrheit im Repräsentantenhaus verlieren.
'Unmittelbare Bedrohung durch ISIS-K ausgeschaltet
Parallel zu den desaströsen Umfrageergebnissen liefen die Vorbereitungen für die Gedenkfeierlichkeiten am 11. September. Ausgerechnet einen Tag vorher (10.09.) erschien dann ein explosiver Artikel in der New York Times. Der Artikel beschäftigte sich mit einem Drohnenangriff, der am 29. August, also drei Tage nach dem Selbstmordanschlag, geflogen worden war.
In dem Angriff hatte man laut dem US Central Command ein „Fahrzeug in Kabul“ und mit ihm eine „unmittelbare Bedrohung durch ISIS-K für den internationalen Flughafen Hamad Karzai“ ausgeschaltet. Dementsprechend lasen sich dann auch die Überschriften in den US-Medien: „Zwei hochkarätige ISIS-Ziele bei US-Drohnenangriff in Afghanistan laut Pentagon getötet“ (NBCNews). Einen Tag später erklärte Joe Biden in einem kämpferischen Statement, dass dies nicht der „letzte Angriff“ gewesen sei. „Wir werden weiterhin jede Person, die an dem abscheulichen Angriff [auf den Flughafen Kabul] beteiligt war, jagen.“
Explosive Recherchen der New York Times
Nun aber meldet ausgerechnet die Biden-freundliche New York Times ernste Zweifel an. Nach ihren Recherchen handelte es sich bei dem Fahrer des als Ziel aufgefassten Pkw nämlich nicht um einen Terroristen, sondern um einen Mitarbeiter der amerikanischen Hilfsorganisation „Nutrition and Education International“ (NEI) in Kabul namens Zemari Ahmadi. Und das, was das US-Militär als Unterschlupf des IS identifiziert hatte, war ganz offensichtlich die Außenstelle von NEI in Kabul gewesen.
Dort hatte sich Herr Ahmadi, nachdem in seinem Wohnviertel die Wasserversorgung zusammengebrochen war, Nachschub in Form von mehreren Kanistern geholt. Das Verladen der Kanister in seinen weißen Toyota Corolla wurde offenbar von einer Überwachungsdrohne beobachtet und als Verladen von Sprengstoff interpretiert. Deshalb schlug, als Ahmadi mit dem Wasser zu Hause angekommen war, eine von der Drohne abgefeuerte Rakete in seinen Corolla ein und tötete drei Erwachsene und sieben Kinder, so die New York Times.
Trotz der detaillierten Recherchen blieb das US-Verteidigungsministerium bei seiner Darstellung von einem erfolgreichen Anti-Terroreinsatz mit lediglich drei zivilen Opfern.
'Hat die Biden-Administration irrtümlich 7 Kinder getötet?'
Samstag, 11. September. Wie jedes Jahr verlesen Angehörige von Opfern die Namen derer, die zu Nine Eleven ums Leben gekommen sind. Die eher stille Zeremonie ist fester Bestandteil des Gedenkens nicht nur in New York City, sondern im ganzen Land. Nicht umsonst hatten die Polit-Strategen im Weißen Haus fünf Monate zuvor eben diesen Tag ins Auge gefasst, um ihn – gekrönt mit einem erfolgreichen Rückzug aus Afghanistan – zu einem Tag für Joe Biden zu machen. Nun verging der 20. Jahrestag ohne einen inzwischen dringend notwendigen positiven Schub für den US-Präsidenten.
Sonntag, 12. September. Das Wall Street Journal nimmt den Drohnenschlag auf und fragt: „Hat die Biden-Administration irrtümlich 10 Unschuldige getötet, darunter 7 Kinder? (…) Eine wachsende Zahl von Beweisen legt das nahe.“ Zeitgleich veröffentlichte außerhalb der USA die britische Daily Mail Fotos der Opfer und schrieb dazu:
„Als Zemari Ahmadi zu Hause [mit seinen Wasserkanistern] angekommen war, rannten seine Kinder, Nichten und Neffen aus dem Haus, um ihn zu begrüßen. Einige von ihnen drängten sich in das Auto, als er es… in den umzäunten Hof fuhr. US-Offizielle erklären hingegen [weiterhin], der Operator der Drohne habe bei einem schnellen Scan nur einen einzigen erwachsenen Mann erkannt, der das einfahrende Fahrzeug begrüßt habe. Daraus habe der Operator mit ‚begründeter Sicherheit‘ geschlossen, dass keine Frauen, Kinder oder Nichtkombattanten getötet werden würden.“
Schweigen in den großen Talkshows
Das Weiße Haus konnte von Glück sagen, dass alle großen Polit-Sendungen das Drohnen-Massaker an diesem Sonntag totschwiegen. Aber, anstatt diesen Aufschub zu nutzen und direkt zum Wochenanfang (13.09.) mit einem Teileingeständnis den Druck aus der Story zu nehmen, ließ das Weiße Haus die Zeitbombe weiter ticken. Einen Tag später explodierte sie, als der republikanische Senator Rand Paul (RP) Bidens Außenminister Tony Blinken (TB) während einer Anhörung im US-Senat ins Verhör nahm.
RP: „War die Person, die… gedrohnt worden ist, Mitarbeiter einer NGO oder vom IS?“
TB: „Die Administration untersucht den Angriff selbstverständlich, und ich bin sicher, dass eine vollständige Bewertung erfolgen wird.“
RP: „Also, Sie wissen nicht, ob er ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation oder vom IS war?“
TB: „Dazu kann ich nichts sagen. In dieser [nicht geheimen] Umgebung sowieso nicht.“
RP: „Also, Sie wissen es nicht und Sie wollen es nicht sagen.“
TB: „[Nein], ich weiß es nicht, weil die Untersuchung noch läuft.“
RP: „Nun, man könnte doch annehmen, dass man weiß, ob der Mann von einer Hilfsorganisation oder von IS ist, bevor man ihn mit einer Predator-Drohne jagt, oder nicht?!
Verbündete seit 1778
Das live im Fernsehen übertragene Massakrieren des eigenen Außenministers ging eindeutig auf die Kappe des Weißen Hauses. Genauso wie die nächste Panne drei Tage später (17.09).
Nachdem die Biden-Administration vor ziemlich genau einem Monat das Vereinigte Königreich in Gestalt von Premierminister Boris Johnson düpiert hatte, traf es nun Emmanuel Macron. Denn Frankreich verlor durch das neu ins Leben gerufene Pazifikbündnis AUKUS einen milliardenschweren U-Boot-Deal mit Australien.
Daraufhin zog der französische Präsident seinen Botschafter ab. Nicht nur eine unter Alliierten äußerst seltene Maßnahme, sondern auch eine, die in der Geschichte des Bündnisses zwischen Frankreich und den USA aus dem Jahr 1778 noch nie zuvor ergriffen worden war. Anschließend stellte die Tageszeitung Le Monde fest: „Für alle, die noch Zweifel hatten: Die Biden-Administration unterscheidet sich von der Trump-Administration in einem Punkt definitiv nicht: Die Vereinigten Staaten stehen an erster Stelle. (…) ‚America First‘ ist der außenpolitische Leitfaden im Weißen Hauses.“
Tagesschau.de bejubelt Bidens Rede vor der UN
In Deutschland lief das transatlantische Zerwürfnis eher nebenbei durch die Medien. Genauso wenig Beachtung schenkte man der Tatsache, dass US-Verteidigungsminister Lloyd Austin am folgenden Tag (18.09.) den Drohnenangriff einen „schrecklichen Fehler“ nannte und sich bei den Opfern entschuldigte. Tagesschau.de informierte darüber in einer an Desinformation grenzenden Sachlichkeit: „Pentagon räumt Tötung von Zivilisten ein“.
Deutlich breiter angelegt war dagegen der Bericht über Joe Bidens Rede vor den Vereinten Nationen drei Tage später (21.09.). „Schluss mit Alleingängen und ‚America First’-Politik, stattdessen mehr Multilateralismus und ein klares Bekenntnis zu internationalen Institutionen“, hieß es aus dem ARD-Studio Washington. „US-Präsident Joe Biden hat in seiner Rede bei der UN-Generaldebatte der Staatengemeinschaft seinen Willen zur Zusammenarbeit zugesichert.“ Das passt zwar nicht ganz zum Zerwürfnis zwischen Paris und Washington, klang aber trotzdem gut.
Haitianer in Del Rio, Texas
In den USA war Bidens Auftritt vor der UN eher eine Randnotiz, denn das öffentliche Interesse wurde an diesem Tag von Bildern von der mexikanischen Grenze absorbiert. Schauplatz war die Grenzstadt Del Rio im Bundesstaat Texas. Dort überquerten Tausende von Haitianern den Grenzfluss Rio Grande über ein Wehr und sammelten sich in einem Lager unter einem Highway.
Dabei war es dem Weißen Haus nach dem Debakel Ende März eigentlich extrem wichtig gewesen, das heikle Thema Migration nicht noch einmal hochkochen zu lassen. Eine offene „Willkommenskultur“ à la Merkel ist nämlich nicht im Sinne von Joe Biden. Denn dessen Politstrategen sind sich der Stimmenverluste – gerade unter den Latinos – in den US-Grenzstaaten bei der letzten Präsidentschaftswahl wohl bewusst.
Bidens Umfragewerte waren immer 'soft'
Mittwoch, 22. September. Die landesweit größte Tageszeitung USA Today meldet: „Bidens Zustimmungswerte erreichen neuen Tiefstpunkt von 43 %“.
Drei Tage später (23.09.) gab dann der Meinungsforscher Scott Rasmussen Trumps ehemaligem Chef-Berater Steve Bannon ein Interview, das den Absturz von Bidens Zahlen besser erklärte als nahezu alles, was in Deutschland zu dem Thema zu lesen bekam. Noch nie habe er „die Zustimmungswerte eines Präsidenten so schnell kollabieren“ sehen, so der 65-jährige Rasmussen. „Ich glaube, ein Grund dafür ist, dass Bidens Zustimmungswerte von Anfang an ‚soft’ waren. Ich meine: er ist jemand, den 46 % der Demokraten [in den Vorwahlen gegen beispielsweise Bernie Sanders] nicht wollten. (…)
'Die Blase' ist geplatzt
Und die Situation in Afghanistan hat die Blase dann zum Platzen gebracht. Viele Leute hatten zwar auch Unbehagen mit anderen Dingen… Aber die Erzählung, dass er [Biden], die außenpolitische Expertise habe und [nach der Abwahl von Trump] wieder ‚Erwachsene’ ans Ruder ließ – all das ist mit Afghanistan zusammengebrochen. Und das gab den Menschen die Möglichkeit, auch andere Dinge nun in neuem Licht zu sehen.
Die größte Verbindung, denke ich, wird dabei zur mexikanischen Grenze gezogen, denn die meisten Wähler sagen ‚Es ist eine Krise’, und dabei haben sie nicht mal den Eindruck, dass es von Joe Biden überhaupt als Krise ernst genommen wird. – Nach solchen Gedanken kommt dann die Frage: ‚Wie sollen wir uns überhaupt noch sicher fühlen?’, gemessen daran, was in Afghanistan… passiert ist.“
Umfragewerte im freien Fall
Mit anderen Worten: Auch wenn sich US-Amerikaner traditionell nicht sonderlich von der Außenpolitik leiten lassen, hat das Afghanistan-Debakel in der US-Bevölkerung zu einem tiefen Umdenken in Bezug auf Bidens Präsidentschaft geführt. Ganz so, als würde man einen Handwerker dabei beobachten, wie er einen Nagel schief in die Wand reinklopft, um danach mit einem neuen Blick auf den Rest seiner Arbeiten zu schauen.
Eben das taten die Amerikaner nun und sie sahen die nicht bewältigte Corona-Krise, eine Inflationsrate von über 5 Prozent sowie explodierende Energiepreise. Kein Wunder also, dass sich Joe Bidens Umfragewerte vom Sinkflug in den freien Fall bewegten. Am 5. Oktober fielen sie in einer Umfrage erstmals landesweit unter 40 Prozent. Sechs Tage später (11.10.) maß RealClearPolitic in seinem Umfragedurchschnitt die bis dato schlechtesten Werte für den Demokraten: nur 43 Prozent Zustimmung gegenüber 52,5 Prozent Nicht-Zustimmung. Ein Desaster.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Und ich bin der Ansicht, dass gerade Beiträge von streitbaren Autoren für die Diskussion und die Demokratie besonders wertvoll sind. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen, und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Der Autor ist in der Medienbranche tätig und schreibt hier unter Pseudonym.
Bild: Bumble Dee/ShutterstockText: Gast
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