Von Gregor Amelung
Im Zuge des Abzugs aus Afghanistan ist das Weiße Hause von einer beispiellosen Pannenserie überrollt worden, über die in Deutschland nahezu nicht berichtet wurde. Genauso wenig wurde der deutsche Beobachter über jene Messlatte in Kenntnis gesetzt, die die Amerikaner in dieser Sache an ihren Präsidenten anlegten.
Das Versprechen zum 20. Jahrestag von 'Nine Eleven'
Die Messlatte stammte vom 14. April 2021. An diesem Tag hatte Joe Biden in einer Fernsehansprache verkündet: „Bevor wir am 11. September den 20. Jahrestag dieses… Anschlags begehen“, werden die US-Soldaten zu Hause sein. Damit hatte der Präsident den Jahrestag von „Nine Eleven“ geschichtsträchtig mit dem Afghanistan-Abzug verkoppelt.
Aufkommende Zweifel an der Stabilität der afghanischen Regierung nach einem US-Abzug zerstreute man. „Nahezu 300.000“ Soldaten, „genauso gut ausgerüstet wie jede andere Armee auf der Welt“, würden der afghanischen Regierung zur Seite stehen, so Joe Biden am 8. Juli in einer TV-Ansprache.
'Vietnam in Warp-Geschwindigkeit'
Nur sechs Wochen später (15.08.) war der afghanische Präsident aus seiner Hauptstadt geflohen, während sich siegreiche Taliban-Kämpfer in seinem ehemaligen Palast fotografieren ließen. Zeitgleich wurde das Sternenbanner an der US-Botschaft eingeholt, nachdem US-Helikopter das Personal zum Internationalen Flughafen ausgeflogen hatten.
Via Twitter und im Fernsehen wurden die US-Amerikaner Zeugen der chaotischen Evakuierung, die nicht nur nichts mit dem Versprechen ihres Präsidenten aus dem April zu tun hatte, sondern selbst die Erinnerungen an Vietnam in den Schatten stellte. Das ist „Vietnam in Warp-Geschwindigkeit“, erklärte etwa der US-Journalist Jim Laurie, der über die Endphase des Vietnamkriegs noch selbst berichtet hatte.
'Ein bisschen plemplem'
Am folgenden Tag (16.08.) versuchte dann der britische Premierminister Boris Johnson den US-Präsidenten telefonisch zu erreichen, um über das Chaos in Kabul zu sprechen. Um 10 Uhr morgens. Ohne Erfolg. Erst gegen 22 Uhr am Abend des folgenden Tages (17.08.) rief Joe Biden mit seinen Amtskollegen zurück.
Danach titelt die New York Post: „Biden ignorierte Boris Johnson 36 Stunden lang, während sich in Afghanistan das Chaos entwickelte“. Und in Großbritannien hieß es aus Johnsons Umfeld, der Premier sei „außer sich“. Er fühle sich von den USA „im Stich gelassen“, was Downing Street 10 umgehend dementierte. Es sei auch „kategorisch falsch“, dass Johnson damit begonnen habe, den US-Präsidenten „Sleepy Joe“ zu nennen, so die britische Tageszeitung Daily Mail.
Trotzdem war es glaubwürdig, denn Biden hatte Johnson Ende 2019 als „Mini Trump“ verspottet. Nun hieß es aus britischen Regierungskreisen, man sei besorgt, ob der 78-Jährige im Weißen Haus nicht doch zu alt für den Job wäre. Im Moment verhalte er sich jedenfalls „ein bisschen plemplem“.
Retourkutsche aus Washington
Die Antwort aus Washington kam prompt. Dem Pentagon nahestehende Quellen streuten, die Briten hätten die Amerikaner dazu gedrängt, einen Zugang zum Flughafen von Kabul offenzuhalten, das sogenannte „Abbey Gate“, das später Ziel eines Selbstmordanschlags wurde. Damit hatte Washington London indirekt für die dortigen Toten verantwortlich gemacht, was Johnsons Außenminister Dominic Raab wütend zurückwies (31.08.).
Hier war also in kürzester Zeit zwischen Verbündeten eine ganze Menge Porzellan zu Bruch gegangen, ohne dass die deutschen Medien davon Notiz nahmen.
Exklusiv-Interview ohne Antworten
Mittwoch, 18. August. Drei Tage nach dem Fall von Kabul versucht das Weiße Haus, die mediale Deutungshoheit zurückzugewinnen und lässt dafür Joe Biden in einem Exklusiv-Interview auftreten. Von dem prominenten ABC-Journalisten George Stephanopoulos gefragt, ob man den Abzug hätte besser handhaben können, erklärt der Präsident: „Nein, ich denke nicht.“ Die „Vorstellung, dass es irgendeinen Weg hätte geben können, dort ohne Chaos rauszugehen, sehe ich nicht.“
Das war neu und entsprach so gar nicht dem, was das Weiße Haus zuvor versprochen hatte. Entsprechend unwohl fühlte sich Journalist Stephanopoulos mit der präsidialen Antwort: „Aber Sie haben den Zeitplan [für den Abzug] aufgestellt und festgelegt, indem Sie gesagt haben, es wäre… höchst unwahrscheinlich, dass die Taliban [Afghanistan] übernehmen würden.“
„Ja, nun“, hob Biden an, um dann in einem leicht wirren Satzbau fortzufahren: „Die Frage war, ob es oder ob es nicht – die Vorstellung, dass die Taliban die Macht übernehmen oder nicht, beruhte auf der Annahme, dass die – dass irgendwie die 300.000 Soldaten, die wir ausgebildet und ausgerüstet haben, einfach zusammenbrechen, dass sie aufgeben würden. Ich glaube nicht, dass irgendjemand damit gerechnet hat.“
Das war’s. Mehr kam nicht. Man könnte auch sagen, der US-Präsident ließ seine Landsleute mit den chaotischen Bildern aus Kabul allein ins Bett gehen.
Neues Narrativ
Donnerstag, 19. August. „Das Chaos am Flughafen von Kabul hält an und gefährdet die Evakuierungsbemühungen“, so die Washington Post. Dazu gab es einen Videoclip, wie ein afghanisches Baby über den Zaun auf die Seite des Rollfeldes gehoben wird.
Medienberichte wie diese positiv aufnehmend, trat der US-Präsident am späten Freitagnachmittag (20.08.) vor die Presse und erklärte: „Die vergangene Woche war herzzerreißend. Wir haben Bilder von Menschen in Panik gesehen, die niemanden kaltlassen. Menschen in purer Verzweiflung, in Angst, Trauer und Unsicherheit, was als Nächstes kommen wird.“ Damit hatte das Weiße Haus ein neues Narrativ gesetzt. Der Abzug aus Afghanistan, das Chaos – das war gestern. Nun ging es darum, in einer humanitären Aktion, Menschenleben zu retten. Angeführt von den USA.
Ultimatum der Taliban
Das neue Narrativ hielt allerdings keine drei Tage, denn schon am folgenden Montag (23.08.) erklärte ein Sprecher der Taliban in Doha: „Wenn die USA oder Großbritannien zusätzliche Zeit für die Evakuierung brauchen, dann ist die Antwort ‚Nein’.“ Das „Abzugsdatum 31. August“ sei fix. Im Falle eines Nichteinhaltens drohten Konsequenzen.
Auch das war neu für viele Amerikaner. Konservative erzürnte es, wie unverhohlen hier den Vereinigten Staaten gedroht wurde. Linksliberale wunderten sich, dass die Dauer einer humanitären Luftbrücke nicht vom Bedarf an Humanität bestimmt werden sollte, sondern vom Terminplan irgendwelcher Gotteskrieger, die mal eben historische Buddha-Statuen in die Luft sprengten.
Luftbrücken-Narrativ wird zu Ballast
Und so wurde das eben erst vom Weißen Haus aus der Taufe gehobene Luftbrücken-Narrativ nicht zum erhofften Befreiungsschlag, sondern zunehmend zum Ballast für die Biden-Administration. Denn die linksliberalen Medien nahmen die Forderungen des britischen Premiers Boris Johnson nach einer Verlängerung des humanitären Einsatzes auf und schürten entsprechende Erwartungen für den G7-Sondergipfel am folgenden Dienstag (24.08.). In Deutschland konnte man bei den Öffentlich-Rechtlichen regelrecht mitfiebern:
An der Realität ging das allerdings vorbei, denn bereits 24 Stunden zuvor hatte der Sprecher des Pentagons, John Kirby, folgendes gesagt: „Ich kann nicht für andere Nationen oder Staaten sprechen. Ich kann nur für das US-Verteidigungsministerium sprechen…: Ziel ist es, so viele Menschen so schnell wie möglich rauszubekommen… und der Fokus liegt darauf, das so gut wie möglich zum Monatsende hin umzusetzen.“
'By the End of the Month'
Das war eigentlich eindeutig. Zumal Kirby „zum Monatsende hin / by the end of the month“ gesagt hatte und nicht etwa „at the end of the month / am Monatsende“. Mit anderen Worten, das US-Militär plante nicht mal mit den kompletten 24 Stunden des 31. Augusts für die humanitäre Rettungsaktion.
Dass der Sprecher des Pentagons auf das Statement der Taliban derart zeitnah und unmissverständlich reagiert hatte, zeigte deutlich, wer hier am längeren Hebel saß und wer den Finger am Drücker hatte. Nicht die USA, sondern die Taliban. Und das wiederum war für viele Amerikaner ein Schock.
Flugzeugträger in der Tiefgarage
In Deutschland kam der Schock über die offensichtliche Machtlosigkeit des größten Bündnispartners allerdings nicht an. Außenminister Heiko Maas klang mal wieder so, als habe das Auswärtige Amt nicht nur die Moral auf seiner Seite, sondern zu ihrer Durchsetzung auch zwei Flugzeugträger in der Tiefgarage. So aufgestellt lasen sich auch viele Beiträge zu Afghanistan. Vor allem auf Tagesschau.de, wo man die Statements aus dem Pentagon nicht mal für berichtenswert erachtet hatte.
In dieser Phantasiewelt waren die Medien allerdings nicht allein. So erklärte Friedrich Merz (CDU) drei Tage nach dem Ultimatum der Taliban bei Maybritt Illner (26.08.): „Wir müssten eigentlich in der Lage sein, in solchen Situationen [wie in Kabul] unsere Staatsbürger, aber auch unsere Soldatinnen und Soldaten, schnell wieder herauszuholen.“ Einen Flughafen abzusichern und die eigenen Staatsbürger herauszuholen, sei „das Mindeste, was die Bundeswehr leisten können müsste“, so Merz.
Maas und Merz zusammen im Phantasialand
Offenbar hatte Heiko Maas den CDU-Finanzexperten mal einen Blick in seine Tiefgarage werfen lassen und ihm bei der Fahrt im Aufzug hinunter darüber hinaus verraten, wie man einen zivilen Flughafen gegen ein feindliches Umfeld in einem Talkessel wie Kabul militärisch hält.
Dienstag, 24. August. Nachdem die Deutschen – nicht informiert über die Worte von John Kirby – seit den Morgenstunden auf eine Verlängerung des humanitären Einsatzes in Kabul hingefiebert hatten, trat Bundeskanzlerin Angela Merkel nach dem Ende des virtuellen G7-Gipfels um 18 Uhr 19 vor die Presse und erklärte: „Es sind heute vom Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika keine neuen Daten über das bekannte Datum 31. August [hinaus] genannt worden.“ Damit war die Luft raus aus der Fieberblase. Es blieb beim 31. Genauso wie es die Taliban verlangt hatten.
'Das ist schlichtweg ein Fakt'
Nur fünf Stunden später (23 Uhr MESZ, 5 p.m. Ostküstenzeit) lieferte der in Deutschland offenbar eher unbekannte John Kirby in einer Pressekonferenz des Pentagons weitere Details dazu, was man unter „zum Monatsende hin“ zu verstehen habe.
„Grob gesagt sind einige Tage erforderlich, um die Menge an Truppen und Ausrüstung, die wir am Flughafen [Kabul] haben, sicher und effektiv zurückzusetzen.“ Und so kam es dann auch. Spanier, Italiener, Franzosen und Deutsche beendeten ihre Flüge schon am Freitag (27.08.). Großbritannien am Samstag (28.08.). Und die letzte Militärmaschine der USA hob in der Nacht vom Montag (30.08.) auf den Dienstag (31.08.) von der Startbahn in Kabul ab.
Darüber hinaus trat in den Aussagen Kirbys und denen des stellvertretenden Generalstabschefs Generalmajor Hank Talyor deutlich hervor, dass die USA bei allem, was sie in Kabul machten, auf die Kooperation der Taliban angewiesen waren, mit deren „Kommandeuren“ man „täglich kommuniziere“. Das sei „schlichtweg ein Fakt“, so Kirby.
Zäher Happen
Und an diesem schlichten „Fakt“ hatten politische Beobachter in den USA allerdings arg zu knabbern. Hatte man das zähe Stück als linksliberaler Ami dann endlich runtergeschluckt, mussten die Eingeweide verdauen, dass die große humanitäre Luftbrücke des Weißen Hauses viel früher beendet sein würde als gedacht.
Konservativen Geistern ging es mit Kirbys Happen nicht besser. Sie litten an Würgereflexen, denn die USA mussten nicht nur einem Ultimatum der Taliban nachkommen, sondern waren obendrein auch noch auf deren Kooperation angewiesen, wenn sie ihre eigenen Staatsbürger heil aus der afghanischen Hauptstadt rausbekommen wollten.
13 tote US-Soldaten
Donnerstag, 26. August. Bei einem Selbstmordattentat am Zugangstor zum Flughafen von Kabul sterben 13 US-Soldaten. Weitere 18 werden zum Teil schwer verletzt. Damit waren es die höchsten Verluste für die USA an einem einzelnen Tag in Afghanistan seit 10 Jahren.
Solche Nachrichten steckt keine Administration – auch nicht die von John F. Kennedy oder die von Ronald Reagan – einfach so weg. Ganz anders fiel die Bewertung des Anschlags in der deutschen Berichterstattung aus. „Am Flughafen Kabul ist das passiert, was zu befürchten war: eine Explosion, vermutlich durch einen Selbstmordattentäter“, hieß es bei ZDF.de. Ähnlich nüchtern sah man die Angelegenheit auf Tagesschau.de: „Es war ein Anschlag mit Ansage. Der Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden hatte bereits vor Tagen vor einem Anschlag in Kabul gewarnt.“
Damit entzog man dem deutschen Beobachter endgültig die Möglichkeit einer realistischen Einschätzung der Stimmungslage auf der anderen Seite des Atlantiks. Denn anders als hierzulande berichteten die US-Medien breit und ausführlich über den Anschlag.
US-Soldaten schutzlos auf dem Präsentierteller
Nebenprodukt davon war, dass dem Normalbürger nun erst bewusst wurde, wie eng die USA mit den Taliban kooperierten und wie nah die eigenen Soldaten Afghanen kamen, die zuvor lediglich durch die Taliban „überprüft“ worden waren – wenn überhaupt. Denn die Grenze des jeweiligen Einflussbereichs verlief direkt auf den Betonblöcken, die das Flughafenrollfeld vom Rest von Kabul trennte.
Die einzelnen auf und an der Betonmauer (bzw. Containern) postierten GIs konnten sich bei einem Angriff aus der Menge heraus also gar nicht verteidigen. Denn dafür standen sie viel zu nah an einem potentiellen Angreifer dran. Das überraschte selbst Anderson Cooper von CNN. Der zeigte in seiner Sendung „360 Grad“ extra ein Video der Journalistin Jane Ferguson (PBS) und erklärte: „Das Video, das Sie aufgenommen haben,… ist wichtig. Es ist sehr wichtig, das zu sehen, [denn] es gibt einem ein Gefühl für die dortige Nähe, die schiere Anzahl an Menschen und den Mangel an tatsächlicher Sicherheit für die US-Soldaten.“
Da half es auch nichts, dass Joe Bidens Verteidigungsministerium kurz zuvor vor möglichen Anschlägen gewarnt hatte. Anders als bei ARD und ZDF, wo man die Terrorwarnungen zur sachlich kühlen Einordnungen verarbeitet hatte – „Es war ein Anschlag mit Ansage…“ –, führten sie in den USA erst recht zu Fragen zu den Sicherheitsvorkehrungen, die der US-Präsident und Oberbefehlshaber für seine Soldaten getroffen hatte.
Das Narrativ des Weißen Hauses implodiert
Offenbar keine. Insofern ließ der 26. August die Amerikaner – bestenfalls – staunend ins Bett gehen. Nach dem Fall von Kabul (15.08.) und dem anschließenden „Chaos“ (16.08.ff) hatte man mit Bidens Erklärung über die „Luftbrücke“ (20.08.) das Narrativ hin zu einer humanitären Rettungsaktion verschoben. Die dafür leider notwendige Kooperation mit den Taliban hatte man allerdings so unterschwellig wie nur eben möglich kommuniziert, um für die Konservativen stark und für die Linksliberalen moralisch zu erscheinen.
Mit dem Selbstmordanschlag implodierte das künstlich geschaffene Narrativ – und zwar nicht in Leitartikeln für politische Interessierte, sondern auf breiter Front in den abendlichen TV-Nachrichten. Damit stand das Weiße Haus mit einem Mal nackt da.
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Bild: Bumble Dee/ShutterstockText: Gast
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