Weil ich immer wieder auf meine Kritik an Putin und seinem System angesprochen werden, habe ich mich entschlossen, den Vertragsverlag für mein Buch „Putins Demokratur“ nicht zu verlängern – damit ich es Ihnen, liebe Leser, kostenlos zur Verfügung stellen kann. Stück für Stück. Die genauen Gründe für meine Entscheidung können Sie hier in meiner Einleitung zum ersten Beitrag dieser Serie finden. Lesen Sie heute Teil 2 – das Kapitel „Der Gas-Schock – Moskaus Warnschuss“. Die darin enthaltenen Warnungen aus dem Jahr 2006 haben sich leider mehr als bewahrheitet.
Der Kälteeinbruch kommt aus dem Fernseher. Das neue Jahr ist kaum ein paar Stunden alt, da weht den Deutschen ein eisiger Wind aus Moskau in die gut geheizten Wohnzimmer. Was am 1. Januar 2006 in den Nachrichten zu hören ist, kann selbst Zu- schauer, die in der Silvesternacht nüchtern geblieben sind, in Katerstimmung bringen – und zum Frösteln. Um acht Uhr morgens deutscher Zeit macht Gazprom, Russlands gigantischer Energiekonzern mit direktem Draht zum Kreml, seine Drohung wahr und dreht den Ukrainern – vor kurzem noch als »slawisches Brudervolk« gehätschelt – mitten im Winter den Gashahn zu. Die Auslandsnachrichten gehen den Deutschen an diesem Neujahrs- tag viel näher, als ihnen lieb ist. Die größte deutsche Boulevard- Zeitung hatte schon zwei Tage zuvor gewarnt: »Alarmierende Nachricht für Millionen Gas-Kunden! Der Gas-Streit zwischen Russland und der Ukraine könnte zu Lieferengpässen in Deutschland führen.«
Der Grund für den kalten Gas-Krieg in der Ferne, der so bedrohlich nah ist: Moskau will von den Ukrainern fünfmal mehr Geld für sein Gas. Die aber widersetzen sich der Preisexplosion. Von Erpressung ist die Rede, von Diebstahl und von Vertragsbruch. Moskaus Verhalten gegenüber Kiew mit seinen Drohungen und Ultimaten erinnere in der »Stilistik und Ästhetik bis zur Schmerzgrenze« an das Vorgehen des Stalin-Regimes gegen Finnland, das 1939 zum sowjetisch-finnischen Krieg führte, kritisiert Andrej Illarionow. Er hat erst wenige Tage vor dem Konflikt sein Amt als Wirtschaftsberater von Wladimir Putin niedergelegt.
In der Ukraine, dem zweitgrößten Land Europas, geht die Angst um. Präsident Viktor Juschtschenko nimmt das Wort »Krieg« in den Mund. Regierungschef Juri Jechanurow stimmt seine 48 Millionen Landsleute auf frostige Zeiten ein: Nur noch 14 Grad könnten die Behörden garantieren, in Wohnungen, Schulen, Kindergärten und Krankenhäusern. Industriebetriebe müssten schon bald geschlossen werden. In einem Kindergarten am Stadtrand von Kiew fällt die Raumtemperatur auf zwölf Grad.
Krankenhäuser testen ihre Notstrom-Aggregate – soweit sie welche haben. Es kommt zu einem Ansturm auf Elektrogeschäfte. Aber alle Heizgeräte sind ausverkauft. Die Menschen in den Dörfern sind im Vorteil. Vielerorts gehen die Männer in den Wald und schlagen Holz. Die meisten haben die alten Öfen nie aus ihren Häusern entfernt. Alleinstehende Rentner in den Städten tun sich schwerer. Manche ziehen zu ihren Kindern – aus Angst, der Kälte allein nicht trotzen zu können.
»Sie werden es nicht überleben«, prophezeite kurz zuvor in Moskau der bekannte Fernsehkommentator Michail Leontjew in einem Rundfunkinterview, das auch in Teilen der Ukraine zu hören war: »Die ›Orangen‹ werden verschwinden, mit Schande, bespuckt vom eigenen Land.«
Kiew, Tatarskaja Straße, unweit vom Zentrum. Alexander Penkisowitsch hat einen dicken Pullover und einen Bademantel übergezogen. Aber das ist immer noch zu wenig. Die Temperatur in seiner Drei-Zimmer-Wohnung sinkt teilweise bis auf zehn Grad. Der 67-jährige Ingenieur flüchtet gemeinsam mit seiner Frau in die Küche; das Ehebett schleppt er durch die ganze Wohnung hinterher. Denn in der Küche kann er wenigstens den Herd anstellen. Ein bisschen Gas kommt noch; die Flamme ist schwach. Aber das hat auch sein Gutes: Der 67-Jährige muss in der Nacht nicht so oft aufstehen, um den Herd aus- und einzuschalten – aus Angst, das Gas könne ihn und seine Frau vergiften. Immer wieder ruft sein Sohn Alexej an: »Papa, ich mach mir Sorgen, kommt doch zu uns, da ist es etwas wärmer.« Penkisowitsch bemüht sich, jedes Zittern in seiner Stimme zu verbergen: »Uns geht es gut«, sagt er. Er will seinem Sohn nicht zur Last fallen.
»An sich war der Vorgang legitim«, schreibt Monate später im warmen Berlin Roger Köppel, damals Chefredakteur der Welt. Moskau habe nur deshalb einen »Image-GAU« erlebt, weil es keine »Erklärungsoffensive« machte und die Russen »böswillig missverstanden« würden: »Nach dem von der EU blauäugig mit- orchestrierten Wahlsieg eines Putin-Gegners in Kiew reagierte der Kreml, wie alle Regierungen handeln würden, wenn sie sich einem feindselig gestimmten Regime gegenübersehen«, schreibt er. »Man beschloss, die politisch motivierten Preisrabatte aufzuheben und das Gazprom-Gas nach Marktpreisen anzubieten. Womit die Russen nicht gerechnet hatten, war die Heuchelei der Europäer.«
Das Verhalten Russlands sei Vertragsbruch, beteuert dagegen in Moskau Ex-Putin-Berater Illarionow: »Russland nutzt Gas als politische Waffe. In einem Abkommen aus dem Jahr 2004 sicherte Moskau Kiew nicht nur günstige Gaspreise bis 2009 zu, sondern garantierte auch, den Bedarf der Ukraine voll zu decken. Dieser Vertrag lag mir im Kreml vor. Eine einseitige Ausstiegsklausel ist darin nicht enthalten.« Vor dem internationalen Schiedsgericht in Stockholm hätte Russland keine Chance gehabt, glaubt Putins früherer Mann für die Wirtschaft. »Aber bis zu einer Entscheidung hätte es Monate, ja Jahre gedauert – und der Gashahn war ja zugedreht.«Solche Gas-Krisen könnten sich jederzeit wiederholen, mahnt der Kreml-Insider. Die Gefahr liege darin, dass Russland ein Tabu gebrochen habe, warnt der frühere Moskauer Vizeenergieminister Wladimir Milow: »Gas dreht man nicht zu.«
Politiker verschiedener Lager fordern Altbundeskanzler Ger- hard Schröder (SPD) auf, sich als Vermittler in den Konflikt einzuschalten: Schließlich hat der Duzfreund des russischen Präsidenten angekündigt, künftig als Aufsichtsratschef7 einer Gazprom-Tochtergesellschaft zu fungieren. Doch von Schröder ist nichts zu hören. In den Zeitungen tauchen erste Forderungen auf, der Exkanzler möge angesichts des Gas-Krieges auf den Posten bei Gazprom verzichten.
‘Ein kriminelles Krebsgeschwür‘
Nach den ersten Meldungen über den Lieferstopp dauert es keine 24 Stunden, bis die Befürchtungen der Experten Wahrheit werden: Die Ukraine zweigt offenbar Gas aus den Transitleitungen ab, die in Länder der Europäischen Union führen. Entgegen allen Beteuerungen aus Moskau registrieren die Messstationen an der ukrainischen Grenze einen starken Druckabfall. Deutschland, Frankreich, Italien, Polen, Österreich, Ungarn, Rumänien und die Slowakei melden einen 14- bis 40-prozentigen Rückgang der gelieferten Gasmenge. Der ungarische Energiekonzern MOL fordert Großkunden auf, von Gas auf Öl umzusteigen. In Polen reichen die Reserven gerade noch für eine Woche.8 Gazprom wirft der Ukraine Gas-Diebstahl vor.
Deutschland wappnet sich für den Ernstfall. Die Industrie stellt sich auf Gasknappheit ein. E.on-Ruhrgas-Vorstandschef Burckhard Bergmann, der auch im Vorstand von Gazprom sitzt und sich stets für eine engere Energie-Partnerschaft mit Russland eingesetzt hat, warnt: »Wenn sich die Lieferkürzungen als sehr groß herausstellen sollten, lang anhalten und der Winter besonders kalt wird, stoßen auch unsere Ausgleichsmöglichkeiten an Grenzen.« Die 17 Millionen Deutschen, die mit Gas heizen, müssten sich »noch keine direkten Sorgen« machen, verkündet Wirtschaftsminister Michael Glos. Doch was als Entwarnung gemeint ist, klingt eher alarmierend.
»Rohstofflieferung als Waffe, das kannte man bisher vor allem aus dem Nahen Osten – und selbst dort hat seit den siebziger Jahren kein Staat mehr gewagt, Forderungen an das Ausland mit der Unterbrechung von Öl- und Gaslieferungen Nachdruck zu verleihen«, schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Das »rüde, die Erpressung kaum verschleiernde Auftreten Russlands« gebe zu denken. »Mit diesem Muskelspiel führte Putin der Welt vor Augen, dass die Erdgasvorräte seines Riesenreichs das atomare Arsenal als Druckmittel abgelöst haben«, schreibt ein großes deutsches Nachrichtenmagazin: »Noch schlimmer: Statt wie seine Vorgänger in der ehemaligen Sowjetunion mit der A-Waffe nur zu drohen, kennt er offensichtlich keine Skrupel, die E-Waffe tatsächlich einzusetzen.«
Erst nach mehr als 72 aufreibenden, kalten Winterstunden schließen Moskau und Kiew einen Kompromiss: Die zwielichtige Zwischenhändler-Firma Rosukrenergo, nach den Worten der früheren ukrainischen Ministerpräsidentin Julia Timoschenko »ein kriminelles Krebsgeschwür« und Gegenstand von Mafia-Ermittlungen, wird demnach künftig Gas für 230 Dollar pro 1000 Kubikmeter in Russland einkaufen und der Ukraine für 95 Dollar weiterverkaufen. Wie der Unterschied zwischen den Preisen zustande komme, sei ein Rätsel, das kein Fachmann auf der Welt lösen könne, sagt Putins Exberater Illarionow.
‘Gasdieben das Handwerk gelegt‘
Die russischen Fernsehsender verkaufen den Gas-Lieferstopp als großen Erfolg des Kreml. Man habe den ukrainischen Gasdieben das Handwerk gelegt, so der Tenor. Das russische Außenministerium glaubt an eine Provokation: »Es entsteht der Eindruck, dass die ukrainischen Machthaber (…) absichtlich die Verhandlungen mit Russland scheitern ließen, um das Gasproblem zum Aufbau eines Feindbildes zu nützen und so die innenpolitische Situation zu manipulieren«, heißt es in einer Erklärung des Moskauer Außenministeriums.15 Die Kremlführung hofft, mit dieser Auslegung des Gas-Krieges auch den Westen zu überzeugen. Vergeblich. Die Menschen in Europa fühlen mit den frierenden Ukrainern und sind schockiert über die harte Haltung des Kreml. Der Gaskonflikt hätte auf keinen ungünstigeren Termin fallen können. Der 1. Januar 2006 ist der erste Tag der russischen G8- Präsidentschaft. Moskau verspricht sich vom Vorsitz im Club der acht wichtigsten Industrienationen der Welt, den Wladimir Putin nur bekam, weil Gerhard Schröder verzichtete, einen gewaltigen Prestigegewinn. Kremlkritiker glauben, dass die Moskauer Führung die Lage falsch eingeschätzt habe, weil sie allmählich der eigenen Propaganda aufsitze.
Deutsche Fachleute sehen »Europas nächsten Kalten Krieg« heraufziehen.16 Die Perspektiven sind alarmierend – und wurden bislang weitgehend verdrängt. 44 Prozent des Gases, das nach Deutschland importiert wird, kommt aus Russland. Längerfristig sollen es sogar 60 bis 80 Prozent werden. Energie-Experten halten diese Abhängigkeit für höchst problematisch, weil jede starke Drosselung der Lieferungen – ob aus technischen, wirtschaftlichen, politischen Gründen oder wegen Terroranschlägen auf die Leitungen – zu Notlagen bis hin zu einer volkswirtschaftlichen Katastrophe führen könne.
Ausgerechnet der Gas-Krieg zwischen Russland und der Ukraine kann deshalb für Deutschland und den Westen eine Chance bedeuten: Wenn man ihn zum Anlass nimmt, vor der Entwicklung in Russland nicht mehr die Augen zu verschließen, sondern endlich die nötigen Konsequenzen zu ziehen, bevor es zu spät ist. Moskaus Griff zum Gashahn, auf den ersten Blick scheinbar eine isolierte Fehlentscheidung, ist die logische Folge einer dramatischen Entwicklung im größten Land der Erde, die im Westen noch nicht ins allgemeine Bewusstsein vorgedrungen ist.
Allem Zweckoptimismus zum Trotz: Zwanzig Jahre nach der Perestroika ist die Demokratie in Russland gescheitert. Wie zu Sowjetzeiten setzt Wladimir Putin auf die »Vertikale der Macht«: auf einen allmächtigen Staatsapparat, nationalistische Stimmungen, die Manipulation der Medien, Geheimdienst-Methoden und potemkinsche Fassaden. Die im Kreml herrschende KGB-Denk- weise, kaum verhüllte Großmachtambitionen und die Abhängigkeit des Westens von russischem Gas und Öl machen die Atommacht immer mehr zum außen- und energiepolitischen Unsicherheitsfaktor. Unter Federführung der alten KGB-Riege um Putin entsteht in Moskau ein autoritäres System in neuer, moderner Bauweise, konstruiert mit den Steinen der sowjetischen Vergangenheit: Ein »Bolschewismus im Schafspelz«, eine Demokratur, die ihr diktatorisches Antlitz mit demokratischen Etiketten und – etwa im boomenden Moskau – hinter einer westlichen Glitzerfassade versteckt. Weil ihr jede Ideologie fehlt und statt einer langfristigen Strategie offenbar die kurzfristige Taktik des Machterhalts das Handeln bestimmt, ist Putins Demokratur zwar weniger angreifbar, weniger totalitär und wohl auch weniger aggressiv als ihre Vorgängerin, die Sowjetunion, aber sie ist auch weitaus unberechenbarer und instabiler – und deshalb umso gefährlicher. Der autoritäre Kurs Moskaus ist keineswegs allein ein Thema für biedere Moralisten und ergraute Menschenrechtler. Vielmehr birgt die Rückkehr zu den Methoden der Vergangenheit enorme Gefahren für Deutschland und die anderen europäischen Staaten.
Die Bundesrepublik macht sich immer stärker abhängig von russischem Öl und Gas. Die politischen Folgen hat der Gas-Krieg zwischen Kiew und Moskau drastisch gezeigt: Deutschland droht wie die Ukraine erpressbar zu werden. Aber auch technische Probleme mit den zum Teil desolaten Pipelines oder überhöhte Preisforderungen und Terroranschläge könnten die Wirtschaft in arge Bedrängnis bringen. Vieles spricht dafür, dass die deutschen Gaskunden über ihre Gasrechnungen schon bald die außenpolitischen Großmacht-Ambitionen Russlands mitfinanzieren müssen. Experten halten die deutsche Energiepolitik für gefährlich naiv. Die Bundesrepublik wird künftig mehr Gas und Öl einführen müssen, weil sie aus der Atomkraft aussteigt; gleichzeitig will Russland neue Atomreaktoren bauen, um die erhöhte Rohstoffnachfrage aus dem Ausland befriedigen zu können.
In vielen anderen Bereichen bergen innenpolitische Entwicklungen in Russland große Gefahren weit über die Grenzen des Landes und ganz Europas hinaus. Etwa die brutale, auf korrupte örtliche Eliten bauende Kaukasus-Politik des Kreml, die einen idealen Nährboden für Terrorismus schafft. Der Krieg in Tschetschenien hat sich, von der Öffentlichkeit kaum beachtet, zu einem Flächenbrand im ganzen Kaukasus ausgeweitet, der außer Kontrolle zu geraten droht. Eine Flüchtlingswelle wäre die kurzfristige Folge, islamische Gottesstaaten als Unruhestifter und Aufmarschplätze für radikale Islamisten in Europa die längerfristige Gefahr. Wie die frühere Sowjetunion ist auch Russland ein Vielvölkerstaat, dessen Dutzende Nationen durch Druck und zunehmend durch Unterdrückung zusammengehalten werden. Mittelfristig droht ein Auseinanderbrechen Russlands. Bewaffnete ethnische Konflikte und eine Spirale der Gewalt, deren Ausmaß und Folgen die Balkankriege der 1990er Jahre weit in den Schatten stellen könnten, wären die Folge.
Ein weiterer Risikofaktor ist die russische Verbrecherwelt, die ihre Position auch in Deutschland immer stärker ausbaut. Rechtsunsicherheit, Beamtenwillkür und Korruption gefährden Investitionen in Russland und machen westeuropäischen Unternehmen schwer zu schaffen, auch wenn Firmenvertreter dieses Tabuthema gerne verschweigen.
All diese Probleme zeigen: Der Gaskonflikt im Januar 2006 war nur die Spitze des Eisbergs – und vielleicht die letzte Warnung.
Es ist höchste Zeit zum Umdenken. Nur wenn wir die alarmierende Entwicklung in Russland genau zur Kenntnis nehmen und versuchen, ihre Hintergründe zu verstehen, können wir die in ihr schlummernden Gefahren richtig einschätzen und rechtzeitig nach Gegenmitteln suchen. Je früher wir versuchen, Einfluss zu nehmen und je besser wir uns auf mögliche Ernstfälle vorbereiten, umso größer ist die Chance, dass sie nie eintreten werden.
Die Fortsetzung finden Sie in Kürze hier auf meiner Seite: „Mit Stalin in die Zukunft – die verratene Revolution“.
Den vorherigen, ersten Text finden Sie hier.
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