Warum mir die „Wahl“ in Russland große Angst macht Was sie für Folgen haben kann – im Ausland wie im Inland

Manchmal ist man so in der Alltagsroutine gefangen, dass man wichtige Dinge erst zu spät erfährt. Manchmal bewahrt einen das auch vor einem Schock – den man dafür aber später dann noch viel heftiger erlebt.

So ging es mir, als ich über die sogenannten Wahlen in Russland recherchierte. Ich schreibe „sogenannte“, weil ich selbst Zeuge von haarsträubenden Wahlfälschungen in Russland wurde. Und weil ich Lehrer kenne, die mir selbst erzählten, wie sie an ihren Schulen die von oben gewünschten Wahlergebnisse „fabrizieren“ müssen, wenn sie keine einschneidenden negativen Konsequenzen wie die Streichung von Zuschüssen und Prämien riskieren wollen.

Wie im Sozialismus hat auch die jetzige Wahl in Russland nur Fassaden-Charakter. Dass der Kreml trotz des massiven Fälschungs-Apparates keine wirklichen Gegenkandidaten zuließ, und wenn nur solche, die eher Karikaturen glichen, zeigt aber, wie groß die Unsicherheit und die Paranoia bei Putin & Co. ist. Wäre er so beliebt, wie es seine Propagandisten im Westen rund um die Uhr beteuern – er hätte dann doch keine Angst haben müssen vor fairen und freien Wahlen. Erschüttert hat mich, dass diese Propagandisten das völlig abwegige „Wahlergebnis“ von angeblich fast neunzig Prozent als realistisch und „sauber“ darstellen. So viel Absurdität ist eigentlich nur noch damit zu erklären, dass sie Anweisungen von oben haben. Denn selbst für eingefleischte Putin-Anhänger, die Realisten sind, ist offensichtlich, dass es nicht mit rechten Dingen zuging.

Aber zurück zu dem Schock, von dem ich eingangs geschrieben habe.

Oleg Orlow kenne ich gut aus meiner Moskauer Zeit. Der 70-Jährige ist ein typischer Dissident, der schon zu Sowjetzeiten den Mut hatte, gegen den Strom zu schwimmen. Er gehörte zum Gründungsteam von Memorial. Einer Freiwilligen-Organisation, die sich der Aufarbeitung der Verbrechens Stalins widmete. Was von Putin, dessen Großvater Stalins Koch war und der den Diktator wieder hochleben lässt, nicht gerne gesehen wurde. Er schikanierte Memorial nach Strich und Faden. Nachdem Memorial den Friedensnobelpreis erhielt, ließ Putin die Organisation verbieten.

Orlow ist einer der anständigsten Menschen, die ich kenne. Er ist bescheiden, uneitel, mutig und setzte sich immer ohne Rücksicht auf persönliche Verluste für die Menschenrechte und für Unterdrückte ein.

2004, als Putin noch mehr Wert auf eine demokratische Fassade legte als heute, wurde er Mitglied des Menschenrechtsrates des Präsidenten. 2006 legte er dieses Ehrenamt nieder – weil er empört war, dass der Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja nicht wirklich aufgearbeitet wurde.

Am 27. Februar 2024 wurde Orlow zu zweieinhalb Jahren Lagerhaft verurteilt. In einem Scheinprozess. Sein „Verbrechen“ – wie er es selbst in seinem letzten Wort schildert: „Ich werde wegen eines Zeitungsartikels angeklagt, in dem ich das in Russland etablierte politische Regime als totalitär und faschistisch bezeichnet habe. Der Artikel wurde vor mehr als einem Jahr geschrieben. Und damals dachten einige meiner Bekannten, dass ich übertrieben hätte.“ Unten dokumentiere ich das Schlusswort Orlows vor Gericht in voller Länge.

Die Szenen der Festnahme des 70-Jährigen im Gericht nach der Verkündung des Urteils haben mir das Herz gebrochen (anzusehen sind sie hier). Ich bin sicher – keinen Menschen, der das Herz am rechten Fleck hat, kann so etwas kalt lassen. Und ich kann mich nur fremdschämen für Putins Propagandisten, die so etwas schönschreiben. Oder diejenigen, die es relativieren. Ja, selbst wenn es anderswo Ähnliches gibt – macht das so ein Unrecht auch nur um einen Deut besser?

Am 15. März 2024 teilten Freunde Orlows mit, dass er in seiner kleinen Zelle, die er mit 10 Kriminellen teilen muss, ein Formular zur Unterschrift vorgelegt bekam. Darin sollte er sich bereit erklären, an Russlands „Spezial-Militäroperation“ in der Ukraine, wie der Krieg benannt werden muss, teilzunehmen. Unklar ist, ob das gezielte Schikane war – oder allen Gefangenen auf diese Weise die Freilassung im Gegenzug für den Kriegseinsatz angeboten wird.

Orlow ist nicht der einzige Freund von mir, der in Haft sitzt: Der Oppositionspolitiker Ilja Jaschin wurde wegen seiner Kritik am russischen Überfall auf die Ukraine angeklagt wegen „Falschinformationen über die Streitkräfte“ und zu sage und schreibe achteinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Er hatte über das Massaker von Butscha berichtet.

Wladimir Kara-Mursa, Vater dreier Kinder, wurde im April 2023 aufgrund seiner Kritik am Ukraine-Krieg wegen Hochverrats zu 25 Jahren Strafkolonie verurteilt. Das ist die Höchststrafe. Dabei leidet der Familienvater nach zwei Vergiftungs-Anschlägen an Polyneuropathie. Neben Hochverrat wurde Kara-Mursa die Verbreitung von „Falschinformationen über die Armee“ und das Arbeiten für eine „unerwünschte“ Organisation vorgeworfen.

 

Die Liste von hochanständigen Menschen, die wegen solcher Kritik im Gefängnis landeten, ließe sich sehr lange fortsetzen.

Meine große Sorge ist: Vor der sogenannten „Wahl“ hatte der Kreml noch Gründe, sich bei den Repressalien wenigstens bis zu einem gewissen Grade zurückzuhalten. Und auch bei der weiteren Eskalation des Krieges.

Die bevorstehende Wahl war so etwas wie ein „Sicherheitsgurt“ – Putin musste zumindest bis zu einem gewissen Grade Vorsicht an den Tag legen, um die Stimmung vor dem Urnengang nicht vollständig kippen zu lassen.

Nun, nach der Inszenierung, fallen diese Gründe weg. Die Repressionen und die Unterdrückung Andersdenkender könnte noch weitaus schlimmere Ausmaße annehmen. Ebenso die Brutalität und die Wahl der Mittel im Krieg.

Das raubt mir den Schlaf. Auch weil ich so viele Freunde in Russland habe. Ich mache mir große Sorgen, dass Orlow, Jaschin und Kara-Mursa nicht lebend aus dem Gefängnis herauskommen.

Erlauben Sie mir hier noch ein persönliches Wort:

Ich weiß, dass viele von Ihnen eine andere Meinung über Putin haben als ich. Als Demokrat respektiere ich das. Mir ist immer bewusst, dass ich nicht im Besitz der Wahrheit bin und mich irren kann. So wenig ich irgendjemand missionieren will – ich könnte nicht mehr in den Spiegel schauen, würde ich meine Überzeugungen verschweigen, aus Sorge, Leser oder Unterstützer zu verlieren. Ich bin sicher: Aufrichtige Demokraten sind sogar froh, auch Meinungen kennenzulernen, die sich nicht mit ihrer decken. Nur so funktioniert Demokratie und Pluralismus. Wer Journalisten bevorzugt, die ihm nach dem Mund reden, ist bei mir fehl am Platz.

Um meine Überzeugungen zu erklären, habe ich mich entschlossen, meinen Buchvertrag von „Putins Demokratur“ auslaufen zu lassen (wenn Sie eines der letzten gedruckten Exemplare sichern wollen, können Sie das hier). Am 1. April fallen die Rechte vom Verlag an mich zurück. Und dann werde ich das Buch hier, Stück für Stück, für Sie veröffentlichen. Ich will, dass Sie erfahren können, warum ich so über Putin und den Kreml denke, wie ich das tue. Welche Erlebnisse zu meinen Überzeugungen geführt haben. Es steht Ihnen dann völlig frei, meine Ansichten zu teilen oder nicht. Aber Sie werden verstehen, warum ich diese habe.

Das Buch, in dem ich – leider – schon 2006 alles vorhersage, in aktualisierter und erweiterter Ausgabe von 2018. Leider ist es bis auf ein paar gebrauchte Exemplare bei Amazon vergriffen. Aber bald kostenlos auf meiner Seite

Und noch eine allerletzte Bemerkung: Bitte fallen Sie nicht auf zwei Tricks von Putins Propagandisten herein.

Der erste Trick: Kritik an ihm mit Hass auf Russland gleichzusetzen. Das ist genauso absurd, wie jemandem wegen Kritik an Merkel oder Scholz Deutschland-Hass vorzuwerfen. Ich liebe Russland. Meine beiden Töchter sind zur Hälfte Russinnen. Bei mir Zuhause wird Russisch gesprochen. Russland ist meine zweite Heimat. Aber genauso, wie ich es als meine Pflicht sehe, Scholz & Co. zu kritisieren, weil ich Deutschland liebe, sehe ich es als meine Pflicht, die Regierung in Russland zu kritisieren – eben weil ich das Land liebe.

Der zweite Trick: Das ständige Relativieren und Verweisen auf die USA. Selbst wenn all das, was man Washington vorwirft, wahr sein sollte (und ich selbst sehe vieles kritisch, halte aber auch vieles für überzogen) – ist das eben kein Grund, damit Putin zu rechtfertigen. Sondern ein Grund, eben auch ihn zu kritisieren.

PS: Viele der gängigen Mythen hat Josef Kraus in einem Beitrag auf „Tichys Einblick“ dieser Tage sehr gut herausgearbeitet. Ich empfehle Ihnen den Text sehr. Eine besonders wichtige Passage: „Am 5. Dezember 1994 wurde das ‘Budapester Memorandum‘ im Rahmen der KSZE verabschiedet. Vertragspartner waren die USA, Großbritannien und Russland. In drei getrennten Verträgen bekräftigte man als Gegenleistung für deren Nuklearwaffenverzicht die Souveränität der Ukraine, Weißrusslands und Kasachstan in den bestehenden Grenzen. Die Ukraine, die bis dahin die drittstärkste militärische Atommacht der Welt war, gab an Russland ab: 176 Interkontinentalraketen, 1.272 Atomsprengköpfe, 2.500 taktische Atomwaffen und mehrere strategische Bomber. Der damalige US-Präsident Clinton sagt heute: Das war ein Fehler. Wäre die Ukraine 2022 noch Atommacht gewesen, wäre es nicht zum Überfall Putins auf die Ukraine gekommen.“

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Die Kommentarfunktion unter diesem Artikel ist ausgeschaltet. Die Gründe dafür habe ich hier erläutert.

Hier das letzte Wort Orlows vor Gericht (übersetzt mit deepl.com – aus Gründen der Zeitersparnis, obwohl ich selbst Übersetzer bin, aber die automatische Übersetzung ist inzwischen so gut, dass sie ein wesentliches Hilfsmittel ist):

Am Tag des Prozessbeginns wurden Russland und die Welt von der schrecklichen Nachricht vom Tod Alexej Nawalnys erschüttert. Das hat auch mich erschüttert. Ich dachte sogar daran, mein letztes Wort ganz ausfallen zu lassen: Wie kann ich heute noch etwas sagen, wenn wir noch unter dem Schock der Nachricht stehen? Aber dann dachte ich: Das sind alles Glieder einer Kette – der Tod, oder besser gesagt, die Ermordung von Alexej, die juristischen Repressalien gegen andere Regimekritiker, mich eingeschlossen, die Strangulierung der Freiheit im Land und der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine. Und ich habe beschlossen, es trotzdem zu sagen.

Ich habe kein Verbrechen begangen. Ich werde wegen eines Zeitungsartikels angeklagt, in dem ich das in Russland etablierte politische Regime als totalitär und faschistisch bezeichnet habe. Der Artikel wurde vor mehr als einem Jahr geschrieben. Und damals dachten einige meiner Bekannten, dass ich übertrieben hätte.

Aber jetzt ist es ganz offensichtlich, dass ich überhaupt nicht übertrieben habe. Der Staat kontrolliert in unserem Land nicht nur das soziale, politische und wirtschaftliche Leben, sondern er beansprucht auch die vollständige Kontrolle über die Kultur, das wissenschaftliche Denken und dringt in das Privatleben ein. Er wird immer allumfassender. Und wir können es sehen.

WELCHE KOMPROMISSE GEHEN KÜNSTLER EIN, UM IHRE ARBEIT IN RUSSLAND ZU BEHALTEN?
Sie sind bereit, dir zu verzeihen Wie das „Bußsystem“ des Kremls für Künstler organisiert ist, die sich gegen den Krieg ausgesprochen haben – und welche Kompromisse sie eingehen, um ihre Arbeit zu behalten.
In den nur viereinhalb Monaten, die seit dem Ende meines ersten Prozesses vor eben diesem Gericht vergangen sind, haben sich viele Ereignisse ereignet, die zeigen, wie schnell unser Land immer tiefer in diese Dunkelheit versinkt.

Ich werde eine Reihe von Ereignissen aufzählen, die sich sowohl in ihrem Ausmaß als auch in ihrer Tragik unterscheiden:

Bücher einer Reihe zeitgenössischer russischer Schriftsteller sind in Russland verboten;
die nicht existierende „LGBT-Bewegung“ ist verboten, was in der Praxis eine schamlose Einmischung des Staates in das Privatleben der Bürger bedeutet; an der Higher School of Economics ist es Bewerbern verboten, „ausländische Agenten“ zu zitieren. An der Hochschule für Wirtschaft ist es Bewerbern und Studenten verboten, „ausländische Agenten“ zu zitieren;
Boris Kagarlitsky, ein bekannter Sozialwissenschaftler und linker Publizist, wurde zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, weil er sich in wenigen Worten zu den Ereignissen des Krieges in der Ukraine geäußert hatte, die von der offiziell vertretenen Position abwichen;  ein Mann, den die Propagandisten als „nationalen Führer“ bezeichnen, äußert sich öffentlich zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wie folgt: „Die Polen haben es schließlich ERWARTET, sie haben es übertrieben und ERWARTET, dass Hitler den Zweiten Weltkrieg genau mit ihnen beginnt. Warum hat Polen den Krieg überhaupt angefangen? Es stellte sich heraus, dass es um VERHANDLUNGEN ging. Hitler hatte bei der Verwirklichung seiner Pläne NICHTS anderes zu tun, als mit Polen zu beginnen“.

Wie soll man das politische System nennen, in dem sich all die von mir aufgezählten Dinge abspielen? Meiner Meinung nach ist die Antwort unbestreitbar. Leider hatte ich in meinem Artikel recht.

Nicht nur öffentliche Kritik ist verboten, sondern auch jedes unabhängige Urteil. Bestrafungen können für Handlungen folgen, die scheinbar nichts mit Politik oder Kritik an Autoritäten zu tun haben. Es gibt keinen Bereich der Kunst mehr, in dem freier künstlerischer Ausdruck möglich ist, keine freien akademischen Geisteswissenschaften, kein Privatleben mehr.

Lassen Sie mich nun ein paar Worte über die Art der gegen mich erhobenen Anschuldigungen und die in vielen ähnlichen Prozessen gegen diejenigen, die wie ich gegen den Krieg sind, erhobenen Anschuldigungen sagen.

Bei der Eröffnung meines jetzigen Prozesses habe ich mich geweigert, daran teilzunehmen, und so hatte ich die Gelegenheit, während des Verfahrens Franz Kafkas Roman „Der Prozess“ zu lesen. In der Tat haben unsere aktuelle Situation und die Situation, in der sich Kafkas Held befand, Gemeinsamkeiten – es handelt sich um Absurdität und Willkür, getarnt unter der formalen Einhaltung einiger pseudo-juristischer Verfahren.

Man wirft uns „Diskreditierung“ vor, ohne zu erklären, was das ist und wie sie sich von legitimer Kritik unterscheidet. Wir werden beschuldigt, „absichtlich falsche Informationen zu verbreiten“, ohne uns die Mühe zu machen, deren Unwahrheit zu beweisen – so wie das Sowjetregime handelte, als es jede Kritik für falsch erklärte. Und unsere Versuche, die Echtheit dieser Informationen zu beweisen, werden zu Straftatbeständen.

Man wirft uns vor, dass wir das von der Führung des Landes für richtig erklärte System von Ansichten und Weltanschauungen nicht unterstützen. Und das, obwohl es laut Verfassung in Russland keine Staatsideologie geben darf. Wir werden verurteilt, weil wir bezweifeln, dass ein Angriff auf einen Nachbarstaat der Aufrechterhaltung des internationalen Friedens und der Sicherheit dient.

Das ist absurd.

„Auf dem Bürgersteig liegend, die Namen ukrainischer Städte aussprechend“ Seit Beginn des Krieges werden Russen wegen „Diskreditierung“ der Armee strafrechtlich verfolgt – Sie können sich unter dem Artikel für Anführungszeichen, Mäntel und Nekrassows Gedichte entscheiden. „Meduza“ hat ein Fotoprojekt darüber gemacht

Kafkas Held weiß bis zum Ende des Romans nicht einmal, wessen er beschuldigt wird, aber trotzdem wird er verurteilt und hingerichtet. Uns in Russland wird die Anklage formell mitgeteilt, aber es ist unmöglich, sie zu verstehen, wenn man sich im Rahmen des Gesetzes und der Logik bewegt.
Im Gegensatz zu Kafkas Held verstehen wir jedoch, warum wir tatsächlich festgenommen, vor Gericht gestellt, verhaftet, verurteilt und getötet werden. In Wirklichkeit werden wir dafür bestraft, dass wir uns erlauben, die Behörden zu kritisieren. Im heutigen Russland ist dies absolut verboten.

Abgeordnete, Ermittler, Staatsanwälte und Richter sprechen es nicht offen aus. Sie verstecken es unter den absurden und unlogischen Formulierungen der neuen so genannten Gesetze, Anklagen und Urteile. Aber es ist so.

Jetzt werden Alexej Gorinow, Alexandra Skotschilenko, Igor Baryschnikow, Wladimir Kara-Murza und viele andere langsam in Kolonien und Gefängnissen umgebracht. Sie werden umgebracht, weil sie gegen das Blutvergießen in der Ukraine protestiert haben und weil sie wollen, dass Russland ein demokratischer, wohlhabender Staat wird, der keine Bedrohung für die Außenwelt darstellt.

In den letzten Tagen wurden Menschen festgenommen, bestraft und sogar inhaftiert, nur weil sie zu den Denkmälern für die Opfer politischer Repression kamen, um das Andenken an den ermordeten Alexej Nawalny zu ehren, einen bemerkenswerten Mann, mutig, ehrlich, der unter unglaublich schwierigen, eigens geschaffenen Bedingungen den Optimismus und den Glauben an die Zukunft unseres Landes nicht verlor. Natürlich war dies ein Mord, unabhängig von den besonderen Umständen dieses Todes.

Die Behörden befinden sich selbst mit dem toten Nawalny im Krieg, sie haben Angst vor ihm, selbst wenn er tot ist – und das zu Recht. Sie zerstören spontan geschaffene Denkmäler zu seinem Gedenken.

Diejenigen, die das tun, hoffen, dass sie auf diese Weise den Teil der russischen Gesellschaft demoralisieren können, der sich weiterhin für sein Land verantwortlich fühlt.

Das dürfen sie nicht.

Wir erinnern uns an Alexejs Aufruf: „Gebt nicht auf“. Ich möchte hinzufügen: Verliert nicht den Mut, verliert nicht den Optimismus. Schließlich ist die Wahrheit auf unserer Seite. Diejenigen, die unser Land in den Abgrund geführt haben, in dem es sich jetzt befindet, repräsentieren das Alte, Veraltete, Überholte. Sie haben kein Bild von der Zukunft – nur falsche Bilder von der Vergangenheit, Trugbilder von „imperialer Größe“. Sie drängen Russland zurück, zurück in die Dystopie, die Wladimir Sorokin in Der Tag des Oprichnik beschrieben hat. Aber wir leben im XXI. Jahrhundert, die Gegenwart und die Zukunft liegen hinter uns, und das ist der Schlüssel zu unserem Sieg.

WIE MAN NACH DEM TOD DES WICHTIGSTEN OPPOSITIONSPOLITIKERS PROTESTIERT
Zelenka auf dem Körper. Blütenblätter im Schnee. Wahlen in Schwarz. Fotos und Zitate von Navalny Meduza-Lesern – wie man nach dem Tod des wichtigsten Oppositionspolitikers protestieren kann, wenn fast jede Aktion gefährlich und beängstigend ist
Zum Abschluss meiner Rede möchte ich mich – vielleicht für viele unerwartet – an diejenigen wenden, die jetzt mit ihrer Arbeit die Rolle der Repression vorantreiben. An Regierungsbeamte, Vollzugsbeamte, Richter und Staatsanwälte.

In der Tat, Sie verstehen alles sehr gut. Und nicht alle von Ihnen sind überzeugte Befürworter der Notwendigkeit politischer Repression. Manchmal bedauern Sie, was Sie tun müssen, aber Sie sagen sich: „Was kann ich tun? Ich befolge nur die Befehle meiner Vorgesetzten. Gesetz ist Gesetz.“

Ich wende mich an Sie, Euer Ehren, und an die Staatsanwaltschaft. Haben Sie selbst keine Angst? Haben Sie keine Angst davor, zu sehen, was aus unserem Land, das Sie wahrscheinlich auch lieben, geworden ist? Haben Sie keine Angst, dass nicht nur Sie und Ihre Kinder, sondern auch, Gott bewahre, Ihre Enkelkinder in dieser Absurdität, dieser Dystopie leben müssen?

Liegt es nicht auf der Hand, dass die Walze der Unterdrückung früher oder später diejenigen überrollt, die sie ausgelöst und vorangetrieben haben? Das ist in der Geschichte schon viele Male geschehen.

Ich wiederhole, was ich bei der letzten Verhandlung gesagt habe.

Ja, das Gesetz ist das Gesetz. Aber ich erinnere mich, dass 1935 in Deutschland die so genannten Nürnberger Gesetze verabschiedet wurden. Und dann, nach dem siegreichen Jahr 1945, wurden die Vollstrecker dieser Gesetze vor Gericht gestellt.

Ich habe nicht die volle Zuversicht, dass die derzeitigen Urheber und Vollstrecker der russischen gesetzes- und verfassungsfeindlichen Gesetze gerichtlich zur Verantwortung gezogen werden. Aber die Strafe wird unweigerlich kommen. Ihre Kinder oder Enkelkinder werden sich schämen, darüber zu sprechen, wo ihre Väter, Mütter, Großväter und Großmütter gedient haben und was sie getan haben. Das Gleiche wird für diejenigen gelten, die jetzt in der Ukraine in Erfüllung von Befehlen Verbrechen begehen. Meiner Meinung nach ist dies die schrecklichste Strafe. Und sie ist unvermeidlich.

Nun, die Strafe ist auch für mich unvermeidlich, denn unter den derzeitigen Umständen ist ein Freispruch bei einer solchen Anklage unmöglich.

Jetzt werden wir sehen, wie das Urteil ausfallen wird.

Aber ich bereue nichts und zeige keine Reue.

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